5.38 Uhr:
[Berlin. Kinderwohnung. Pettersson, Dritte Streichersinfonie.]
Um fünf war aufzustehen noch völlig unmöglich (ich kam erst um halb zwei ins Bett); der Wecker riß mich aus einem Traum, den ich vielleicht gleich >>>> den Traumprotokollen einfüge, weil er offenbar auf das >>>> Chorische reagiert hat. Ich dachte: Jetzt aufzustehen geht noch nicht, in einer halben Stunde aber doch. (Und so war’s.) Vielleicht aber w a r deshalb schon, daß ich diesen Traum weiterträumen wollte, ein Akt des Aufstehens, das immer ein Akt in die Arbeit ist. Und selbstverständlich ist dieses Chorische, dieser Wunsch, darin mitzusein, ein Wunsch nach Entindividuation – wie auch meine Wünsche nach Rausch und nach Liebesvereinigung es sind. Letztlich. Familiengeschichtlich sind diese Wünsche aber tabu, ich habe – aus politischen/historischen Gründen – seit frühen Jahren immer wieder gegen sie opponiert. Sie zugleich in nicht weniger Dichtung beschrieben. Und auch die ständige Trennung, das Getrenntsein beschrieben. Und in den Erzählungen immer etwas herzustellen versucht, was beide Impulse ermöglicht. „Sie wollen das Unvereinbare“, sagte mein Analytiker bisweilen, „aber das Unvereinbare i s t unvereinbar.“ Jetzt steh ich in einer Lebenssituation, in der das Unvereinbare vereinbart worden i s t, in einer Situation allerhöchster Ambivalenz, und nicht nur ich trage sie aus. Jetzt muß ich zeigen, daß ich, was ich immer meinte, auch kann und daß ich bereit bin, auch die damit verbundenen Schmerzen zu tragen. Es sind Trennungsschmerzen. Darüber hat, auf seine symbolische Weise, mein heutiger Traum gesprochen. Er ist übrigens ausgesprochen schlicht gewesen; seine Bedeutung erfasse ich jetzt erst. Weiß aber noch nicht, wie ihn in Worte zu fassen. (Gestern nacht, als ich U. und den Profi noch traf nach der Familie, hockte ich draußen vorm „102“ Kastanienallee und begann ein weiteres Gedicht, eines über Schwere und Schwere im Sinn von ‚lastend’ ./. ‚tief’, kam aber schließlich nicht weiter, weil’s zu persönlich wurde. Das >>>> Engel-Gedicht verlangt, daß dieses direkt-Persönliche nunmehr zu verlassen ist. Nur den >>>> Bamberger Elegien, wenn ich die noch verbleibenden sechs schreiben werde, ist das noch erlaubt. Aber insgesamt muß fortan ein Grad von Objektivität erreicht werden, den die Romane und Erzählungen längst haben. Auch dies, übrigens, ist ein Ausdruck der Entindividuation: Eingehen in Form; das ‚lyrische Ich’ i s t ein objektives, unabhängig davon, wie persönlich der Anlaß eines Gedichtes ist.)
Und ich fange an, diese petterssonschen Streichersinfonien zu lieben, zu denen ich so lange Jahre – anders als zu den großen Sinfonien – überhaupt keinen Kontakt bekam, namentlich die Dritte geht mir durch und durch.
Heute früh: erst PETTERSSON, dann den Jungen zu seiner Klassenfahrt bringen, dann für PETTERSSON die O-Ton-Aufnamen in S- und U-Bahnen fertigen, dann vielleicht schlafen eine Stunde, dann noch mal an den PETTERSSON (und vielleicht noch mal über das gestern nacht skizzierte Gedicht schauen), dann das Private Wichtige so schwierige Schöne. „Du hast immer davon geschrieben und gesprochen, keiner hat es geglaubt, und es i s t auch nicht glaubhaft. Aber jetzt, gegen alle Wahrscheinlichkeit, i s t’s“, sagte U. gestern nacht, „und wie du damit umgehst und auch das andere trägst… daß du in die Wirklichkeit umsetzt, was du meintest, das gibt dir einen so ruhigen, so in dir ruhenden Ausdruck, das ist fast nicht zu fassen. Ich hab dich noch nie so gesehen.“ Und als ich ihr das Engel-Gedicht zeigte, bekam sie eine Gänsehaut. Ich selbst hatte mich allerdings vorher schon entschlossen, dieses Gedicht „unheimlich“ zu nennen. „Ich habe ein unheimliches Gedicht geschrieben“, sagte ich den Freunden. In dieses Wort „unheimlich“ kleidet sich die gesamte Ambivalenz der Situation, der persönlichen, der poetischen.
12.32 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung.]
Soeben von den O-Ton-Aufnahmen in den Berliner S- und U-Bahnen zurück. Bin so gefahren: S 42 ab Schönhauser bis S Heilgendamm, U 3 bis Wittenbergplatz, U12 bis Gleisdreieck, U2 bis Schönhauser. Gute 1 ½ Stunden im Kasten, insgesamt aber alles sehr ruhig. Ich sollte noch einmal Aufnahmen während der Stoßzeiten machen. Als Grundlage der Atmo von Thema III aber ist das so bereits gut. Nur: Ich hab keinen obdachlosen Zeitungsverkäufer vor die Mikros gekriegt. Das ist also auch noch nachzuholen. Aber nicht mehr heute. Jetzt wird gefrühstückt, dann eine Stunde geschlafen; danach auf einen privaten Spaziergang in den Nachmittag. Abends dann gemeinsames Treffen mit Eisenhauer; mal wieder zum Billard. Er ist aus der namibischen Wüste zurück und wird viel zu berichten haben.
22.29 Uhr:
[Berlin Kinderwohnung.]
Notat eben, n i c h t schon als Beitrag, weil das eine Form will. Ich will diesen Gedanken nicht vertun:
Wenn wir uns lieben, verwunden wir uns.
Tun wir’s nicht, lieben wir nicht.
(Gedicht darüber schreiben, warum das so ist.)