Arbeitsjournal. Donnerstag, der 12. Oktober 2006. Berlin. Bamberg.

5.10 Uhr:
[Berlin Schönhauser, Küchentisch.]
Relativ leicht hochgekommen, aber erst um fünf; halb vier war denn doch noch zu früh. Mir fiel eben ein: „Tagebuch der Agonie“, als Romantitel, ohne daß ich das eigentlich zu füllen wüßte. Dennoch sind solche noch mit dem Schlaf und wohl auch Traum verbundenen Einfälle Botschaften, weshalb es nicht falsch sein kann, sie zu notieren.
Will für zwei Stunden an die achte Elegie, dann in die Arbeitswohnung hinüberradeln, um nach Post zu schauen, und gegen zehn Uhr geht’s mit dem Jungen nach Bamberg zurück. Wär schön, wenn ich bis Sonntag abend, bevor ich am Montag zur PETTERSSON-Produktion nach Frankfurt muß, die achte Elegie vollständig als Rohling niedergeschrieben hätte.
Guten Morgen, Leser.

9.16 Uhr:11.33 Uhr.
[ICE Berlin-Bamberg.]
Wieder mit Gedanken an Mißbrauch und seinen späten, sich ins Geistige verklärenden Folgen beschäftigt; wieder diese Idee, daß Geist eine Abwehrform ist und nicht unbedingt eine der bewußten Verarbeitung. Er soll vergessen lassen und will nicht etwa scharf ein kränkendes Geschehen ins Auge nehmen; wo dies der Fall ist, tendiert er zu religiöser oder einer säkular-religiösen (z. B. esoterischen) Verklärung, die sich gegen den Sexus wendet; mit anderen Worten: die sich „reinigen“ will. Da ist – versucht jetzt, die achte Elegie zu erzählen – auf dem Fleisch zu bestehen. Aber aus der Warte des Geistes, eines geschärften Bewußtseins; sonst wäre die Beschwörung nur blind. So gilt für den Verzicht: Er ist akzeptabel, wenn wir um ihn wissen und ihn als ein Opfer begreifen, das wir, etwa für eine Liebe, bringen; es muß aber allezeit bewußt sein, daß es ein Opfer i s t und b l e i b t; jede Verklärung in etwas an-sich-Wertvolles ist hingegen verderblich, weil sie sich gegen die Lebenskräfte wendet, denen wir unser Dasein und unsere Kinder verdanken, und schließlich Welt-selbst abschaffen will -zugunsten zum Beispiel eines ins Jenseits verlegten Paradieses, wo doch rein gar nichts sein wird als Leere, oder zugunsten einer willenlosen, nivellierten Bedürfnislosigkeit, die letztlich bloß den Schmerz scheut und, weil sie weiß, daß sich seine Kraft an der Kraft der Glücksempfindung bemißt, auch auf Lust verzichtet. In diesem Gedankenumfeld spielt die achte Elegie. Ein Opfer, das seinen eigenen Schmerz verbrämte, wäre im übrigen keines. (Es tut ganz gut, das thematische Feld der Elegie hier schon einmal prosaisch zu skizzieren. Es gibt speziell bei Frauen eine Abwehr des Sexuellen nicht aus Sexualfeindlichkeit, sondern geradezu umgekehrt aus allzu großer Nähe zum Sexuellen: einer so intensiven Körperlichkeit, daß sie gefährdet ist, sich verletzen zu lassen, ja möglicherweise >>>> derart schmerzlich verletzt w u r d e, daß die Betroffenen das Risiko einer Wiederholung mit sämtlichen Abwehrformen zu vermeiden suchen, über die der Geist verfügt. Und zwar auch dann, wenn das letztlich einem Verrat am eigenen Bedürfnis gleichkommt. Dies wiederum zu verschleiern, dient das religiöse, verklärende Moment, das die körperliche Vereinigung diskriminiert oder zumindest als Erfahrung bagatellisiert. Imgrunde spiegelt dieser Prozeß das erlittene Trauma und wiederholt es dadurch; nun aber ist man selbst der Aggressor und – aus der machtvollen Position des Geistes betrachtet – nicht länger Opfer. Auch dies ist im übrigen eine perverse – herumdrehende – Bewegung. Als solche gehört sie zur – Kunst.

[Poetologie.]

15.46 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Bach, Suite für Laute BWV 996.]Etwas wehmütig, weil die Geliebte nicht mehr dabei ist, in mein Studio zurückgekommen, finde ich in einer Büchersendung die sehr schöne Karte einer bekannten Kollegin. „Dichte!“ ruft sie aus und fügt an: „Dichte natürlich auch schön und melodisch, es soll ja in auffangsame Ohren fallen.“ Nun wird mir das Wort auffangsam den restlichen Tag über nachgehen.
Der Junge ist bereits zu seinem Freund hinausgestürmt, und ich werde mich wieder an die achte Elegie machen; ein paar Zeilen sind tatsächlich im Zug entstanden. Wobei ich den Bach dabei laufen lassen will, er beruhigt und stimmt milde und stimmt ein auf meine kontemplative Aussicht hinaus. Wie fern hier alles kybernetische Leben ist, wie gedacht, ausgedacht fast, wüßte ich es nicht besser.

7 thoughts on “Arbeitsjournal. Donnerstag, der 12. Oktober 2006. Berlin. Bamberg.

  1. ad 11.33h (auch anknüpfend jetzt an >>> diese diskussion)
    vielleicht kann man auf diese weise zwei (oder mehrere) arten von geist unterscheiden:
    den „fliegenden“, der abstrakt sein und bleiben will und alles auch so anfaßt, daher destruktiv und gegen das leben wirkt, wenn auch „ungewollt“, der unverantwortlich, frei und ungebunden handelt; und der verantwortliche, freiwillig gebundene, der arbeiten will und von liebe erfüllt ist oder liebe transportiert.
    oder besser: wir verwenden die möglichkeiten des geistes auf verschiedene arten, und wie man werkzeuge unterschiedlich anwenden und letztendlich auch mißbrauchen kann, kann auch der geist „falsch“ (wer beurteilt das?) eingesetzt werden – um eben zu flüchten, abzuwehren, welten zu erschaffen, die faszinierende gefängnisse & todesfallen sind, oder eben anders.
    denken ist nicht gleich geist. denken ohne geist ist nicht möglich (geist ohne denken aber schon). geist ist „etwas“, in dem das denken ungestört sprechen kann. geist ist wie ein medium, das aktiviert oder nicht aktiviert sein kann (passiv).
    denken ist ein instrument des geistes, ebenso wie (bewußt geformte) sprache. geist ist etwas, das eine art „trägermedium der liebe“ sein könnte. ohne geist auch keine liebe. geist ist etwas, das uns alle mit allem verbindet. vielleicht ist geist eine art feld, das wir an uns ziehen oder erzeugen. geist ist das leben.
    —-
    lieber herbst, ich breche immer wieder eine lanze für die anderen möglichkeiten des geistes. was ich damals meinte und was sie als >>“divertimentokunst“ markierten, sind auch möglichkeiten, den geist zu verwenden/wirken zu lassen. das eine schließt das andere nicht aus. kunst und geist sind immer begriffe, die hochkomplexe dinge bezeichnen, die nicht polarisiert werden müssen oder sollten.

    1. Polarisationen führen indes oft zu Erkenntnissen. Daß sie meist vereinfachen, will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber sie haben die Funktion (oder können sie haben) von „Kausalitäten aus Freiheit“ – ein Begriff, mit dem Kant überaus klug Experimentaufbauten beschrieb, ohne sich freilich schon darüber klarsein zu können, daß allein die Beobachtung das Ergebnis beeinflußt, es also keine ‚wertfreien‘ Versuchsaufbauten g i b t.
      Des weiteren – aber das werden Sie mir ohnedies zugestehen – ist meine bisweilen geistfeindlich wirkende Haltung n u r aus dem Geist zu verstehen, auf dem sie steht – und umgekehrt. Es handelt sich um ein Bedingungsgefüge, dessen einen – biologisch-organischen – Pol ich deshalb favorisiere, weil die speziell abendländische Weltanschauung ihn prinzipiell geringschätzt, obwohl ohne die Physis kein Geist w ä r e. Und überhaupt kein Leben. Selbstverständlich wäre ‚blindes Fleisch‘, also der unbewußt gerichtete und wirksame Trieb ganz ebenso schauderhaft.
      Daß das ‚blinde, vitalistische Fleisch‘ meine Positionen auch nicht annähernd umfassend beschreibt, zeigt schon, wie sehr ich darauf insistiere, in meine Überlegungen immer wieder meine Gefühlszustände hineinzunehmen, Verzweiflungen, Glücksmomente und – ganz besonders – meine Begeisterungen, die ja bisweilen an Schwärmerei grenzen. Ich favorisiere ein – aus der Perspektive des Geistes gesehen – u n r e i n e s Denken. Es soll r i e c h e n.

    2. ich sehe das anders: man kann physis und geist nicht auseinanderdividieren. physis gibt es gar nicht, es ist nur unsere bezeichnung für das, was wir angreifen und sehen können. es gibt einfach verschiedene formen des seins. es gibt kein nichtsein. steine sind andere seinsformen als pflanzen, tiere oder menschen, aber alle „haben“ einen geist … es gibt auch kein rein oder unrein. alles riecht.

    3. Dagegen läßt es sich kaum argumentieren. Da Ihre Sätze G l a u b e n s s ä t z e sind. Dafür etwa, auch Steine hätten Geist, gibt es keinen meßbaren Beleg. Man kann es glauben oder nicht; beides hat denselben Erkenntniswert. Und Tatsache bleibt, daß namentlich Religionen als diejenigen „Disziplinen“, die sich auf die (meist ‚göttlich‘ gefaßte) Geist-Seite stellen, alles, aber auch alles dazu getan haben, das Organische zu diskriminieren und vor allem den Sexus auf das Brutalste niederzudrücken. Allein, daß in den drei großen Monotheismen Frauen, die ihre Tage haben, als unrein gelten, ist schon ein Skandal. Anstelle daß man die Blutung f e i e r t. – Meine polarisierende Position gegenüber dem ‚Geist‘ versteht sich ganz besonders aus solchen Fakten, die ja wirklichkeitsbildend waren und es nach wie vor sind.
      Ähnliches gilt für die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz und insgesamt für jede Doktrin, die von „Reinheit“ träumt – dem faktisch wahrscheinlich furchtbarsten Begriff der gesamten Menschheitsgeschichte.

    4. die naturwissenschaften und ihre messbaren fakten sind ebenfalls eine glaubensrichtung, lieber herbst. aber egal.
      die religionen und sekten braucht man nicht zu bekämpfen, das gibt nur krieg. besser man breitet einfach seine große oder kleine wirklichkeit aus .. glaube ich. daß fast alle menschen bei uns etwa noch immer von den kranken ideen der kirche geprägt sind, wird von einer anti-haltung nicht nachhaltig verändert. eher durch das exemplarische vorleben einer synthese. glaube ich. 🙂
      (ich „verstehe“ ihre haltung und ihre empörung durchaus –)

    5. „die naturwissenschaften und ihre messbaren fakten sind ebenfalls eine glaubensrichtung“ Nein. Jedenfalls nicht in dieser normativen Ausschließlichkeit. Denn vieles führt zu faktischen Ergebnissen; keine Heizung funktionierte, keine Einspritzpumpe, auch kein zahnärztlicher Dienst, handelte es sich tatsächlich nur um Glaube. Das liegt so gewichtig in den Händen, daß es nicht nur banal, sondern auch bizarr wäre, darüber ernsthaft streiten zu wollen. Daß besonders in medizinischen Belangen, seitens der Patienten, Glaubensaspekte eine Rolle spielen k ö n n e n, sei unbestritten. Dennoch hat sowohl in der Medizin wie in allen anderen ‚harten‘ naturwissenschaftlichen Disziplinen die Entwicklung der letzten dreihundert Jahre ein Wissen gefördert, dessen Beschreibung (also Beschreibung von realen Phänomenen) i s t. Es gelten hier scharfe empirische Bedingungen, und es gehört schon viel Glaube dazu, das, was einem direkt vor den Augen liegt, zu leugnen.
      Hingegen behaupte ich nicht, es gebe nicht weiterhin Geheimnis. Davon aber läßt es sich nur dichten.

    6. ja sicher, das ist schon alles real und handfest, und niemand leugnet die „errungeschaften der technik“ etc. nur ist das schwerst einseitig: die nawi negieren die existenz aller nicht meßbaren dinge … was wir seit fast dreihundert jahren haben ist eine verzerrte einseitige entwicklung einer einzigen sichtweise (was übrigens goethe auch schon wusste), die beeindruckende ergebisse gebracht hat, aber die erde an den rand der vernichtung (auf menschlichem sektor hat sich genau nichts getan). (noch nie haben so viele menschen gehungert und wurden so viele gefoltert, dauernd, täglich.) durch den GLAUBEN an die nawi-methode, wenn diese entwicklung auch vielleicht u.a. entstand, um der perversion der glaubenszwänge der kirche zu entgehen …
      JA: von den geheimnissen lässt sich nur dichten. ja.

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