5.29 Uhr:
[Villa Concordia Bamberg. Beethoven, op. 111, Arietta. Michelangeli.]
Das hab ich gut gemacht, den einen Wecker auf halb fünf, den anderei auf halb sechs zu stellen. Dazwischen brachten mir die Geister einen Traum, der halb Größen-, halb Angstfantasie war und s o ging:
Der >>>> PETTERSSON wurde im Großen Saal aufgeführt, von einem Sinfonieorchester, tatsächlich; die Sprache aber kam per Band aus dem Off. Ich wollte erst gar nicht hin, sondern mir die live-Rundfunkübertragung anhören; plötzlich aber kriegt mich ein Schauer, ich spring auf und sag den Freunden: „Ich muß da hin! Was, wenn die Technik mit den Einsätzen nicht klarkommt?“ Und renn los. Als ich an der… ja, es ist – jedenfalls im Foyer, später, im Saal, dann nicht mehr – die Alte Oper Frankfurt — als ich da also ankomme, seh ich gleich C., Leukerts Frau, und ihn selbst rechts seitlich stehend einem Gedränge zusehn, das mich beinah erschreckt. Alle sind sie gekommen, der Schwedische Botschafter mit Staffage, (seinetwegen, klar) auch die Frankfurter Bürgermeisterin und was sonst noch Rang und Namen hat. Der Saal ist ausverkauft, und ich steh da in meinen Jeans. Und renne über die Hinterbühne in den Saal, hüpfe übers Podium und sehe ganz hinten einen Zaun, der an die >>>> Vergana-Situation erinnert, nur eben am Ende des Saals aufgebaut ist. Dahinter sitzen vor einem wackligen Tischchen zwei Leute, eine Frau, ein Mann, vor meinem defekten tragbaren DAT-Recorder, „ich bin Herbst“, sag ich, „ich bin hier für den Notfall“. „Ah, wie gut! Wir haben nämlich Schwierigkeiten mit den Einsätzen“, sagen sie, ganz wie ich’s befürchtet hatte. Tatsächlich liegen weder die Noten vor ihnen noch mein Typoskript. „Wir wissen nicht, wann wir das Gerät einschalten müssen.“ „Okay, okay, ich geb Ihnen die Einsätze.“ Und draußen, es wird applaudiert, geht es los. Als erstes einmal, für den >>>> gesprochenen Introitus (mp3), braucht es Ewigkeiten, bis das Recorderchen anspringt. Unruhe draußen. Das geht so nicht! denk ich. Ich muß die Sprechpassagen selber sprechen… alle, ich kann mich nicht auf die Technik verlassen. „Habt ihr ein Mikrophon?“ Sie schütteln den Kopf. Ich höre draußen den kräftigen Orchestereinsatz; da hätt ich jetzt also zwei Minuten Zeit, eines aufzutreiben, denn seltsamerweise: für die O-Töne f u n k t i o n i e r t der Recorder, er streikt nur bei den Texten, meinen Texten; bei den Zitaten hingegen schaltet er sich leicht ein… nur, stellt sich später heraus, drücken die Techniker die Tasten rein nach Willkür… wiederum logisch, weil sie ja das Stück nicht kennen und weil ich, auf der Jagd nach einem Mikrophon, unterwegs bin. Ich bekomme schließlich auch keines, kehre geschlagen über einen Seitengang neben dem Saal zurück, höre — Stille, völlig Stille drinnen, dann Räuspern, Füßescharren. Die Technik hingegen ist an dem Tischchen eingeschlafen. Ich bin viel zu benommen, um wütend zu zu ein; wecke die beiden Leute ergeben, bin wie Josef K. und füge mich wie ein geschlagener Psychotiker in die Situation. „Es geht doch noch weiter“, sag ich, „da fehlen Teile, da fehlt der Endhexameter. Gut, gut, ich geh nach vorne und rezitiere o h n e Mikro…“ Aber da ist der Saal schon leer, völlig leer. Auch die Freunde sind nicht mehr da.
Übers Handy rufe ich Leukert an. „Wo bist du?“ frag ich, und er sagt: „In der Rothschildallee.“ Die gibt es in Frankfurtmain, aber ich kenne niemanden dort, also frag ich nicht weiter nach. „Wie war es?,“ frag ich statt dessen, „wie wurde es aufgenommen?“ Und er auf seine unvergleichlich nüchterne, dabei immer freundliche Art: „Wir sollten überlegen, ob wie das Stück kürzen.“ „Kürzen? Aber es wurde gar nicht alles aufgeführt, es fehlte so vieles und zerfiel ganz!“ „Zwei Stunden, Alban, das waren zwei Stunden!“ Verdutzt klapp ich das Telefongerät zu und weiß nicht, was in diesen zwei Stunden, von denen ich wenigstens anderthalb nach einem Mikrophon suchte, geschehen ist. Ich kann auch niemanden anderes mehr fragen, denn der zweite Wecker klingelt, und ich stehe auf.
Die Grippe ist deutlich zurückgegangen, aber der Husten insistent. Jetzt schreib ich an der zehnten Elegie weiter.
(D i e s e Aufnahme von Beethovens 32/opus 111 gefällt mir nun endlich einmal: Arturo Benedetti Michelangeli – gefällt mir ebenso wie Glenn Goulds eigenwillige, den Notentext barock nehmende Auffassung. In beiden Einspielungen l e b t die Musik und interessiert sich nicht für ‚Treue’ zum Papier. – „Arietta“, übrigens, heißt „Ständchen“, was, für dieses Stück, ein geradezu himmelschreiendes understatement ist; >>>> kaum ein anderes Musikstück, Geldberg vielleicht einmal beiseite, hat zu derart vielen Deutungen und Kunstideologien geführt – vom „Tristan“ abgesehen, der aber von Anfang an als wuchtigstes Kaliber daherkommt. Hingegen h i e r? „Ständchen“. S o sei es zu spielen, will der Name uns sagen.)
7.23 Uhr:
Erstaunlich, >>>> wie empfänglich ich hier in Bamberg für Naturphänomene bin. Ohne groß herumzulaufen. Einfach nur, indem ich schaue. (Ohne, übrigens, daß das der erkenntniswirklichen Bedeutung etwas nähme, die das Netz für mich hat. Die Naturerfahrung tritt ‚einfach’ – ganz wie auf meinen Reisen – h i n z u. Zwar gibt es sie in den großen Städten, die ich liebe, auch; aber sie taugt da nicht mehr für Bilder, verliert völlig an mythischer Präsenz. Dort sind die Jahresläufte profan, man muß heizen, oder die Hitze steht im Raum und geht nicht raus, oder es wird, Fahrrad zu fahren, schwierig. Man kann ins Freibad gehen und nachts draußen auf der Straße sitzen. Alles praktische, nicht seelische Verfaßtheiten der jeweiligen Jahreszeit. B i n ich, wie ich immer meinte, ein Städter? Das frag ich mich grade. Bin ich’s tatsächlich? Oder ist nur, umgekehrt, meine naturmythische… nein, eine Kehre ist es nicht, dazu war ich immer zu entschieden auf Seiten der – sexualisierten – Erde… aber ist diese dennoch neue Sensibilität für Sonnenaufgänge, Nächte, Nebel usw. nur die Mimikry eines Dichters, der sich seinem Aufenthaltsort einfühlt?)
9.01 Uhr:
[Beethoven, opus 111, Richter.]
Jetzt hör ich mich durch alle irgend erlangbaren Aufnahmen durch. Singe mit zuweilen. Und komisch: Bei d i e s e r Musik g e h t das, hier kann ich sogar an den Elegien, also Lyrik, weiterschreiben, während ich höre. Zum ersten Mal, glaub ich, geht das. Vielleicht bin ich aber nur ‚eingeschrieben’. Und die ersten Reaktionen zu PETTERSSON flattern herein. Sie tun wohl. Doch wie enttäuscht die Geliebte momentan am Telefon klang, als sie erfuhr, die Sendung sei gestern gewesen und sie habe sie nicht gehört. „Hättst du eh nicht empfangen können in Berlin. Deshalb hab ich nichts gesagt.“ „Doch, hätt ich! Über den Fernseh-Satelliten-Empfang.“ Ich muß heut wirklich an die CDs.
18.19 Uhr:
[Beethoven, op. 111; O’Doan.]
Sitze immer noch über der zehnten Elegie und hab sie tatsächlich als Rohling fast fertig; mir fehlt noch ein gutes, sinnliches Ende; das muß aber einfallen, so etwas erzwingt sich nicht. Mittags zwei Stunden geschlafen, die Erkältung weicht langsam. Dennoch werd ich wohl morgen noch in Bamberg bleiben und erst am Freitag nach Berlin fahren; ich mag die Familie nicht anstecken. Außerdem ist’s gut, wenn man mich in der Villa mal sieht für längere Zeit; heute war ja Feiertag und keiner da im Sekretariat. Überhaupt hab ich seit gestern mittag außer am Telefon mit niemandem gesprochen, nur immer und immer wieder dieses opus 111 gehört. Und kann nicht aufhören. Spielte i c h ein Instrument, spielte ich es g u t, ich wäre für die Welt verloren.