„Seid ihr alle da?“
„Zähl nur, Schwester – ja!“

Der erste Schultag nach den Ferien war ein warmer, sonniger Augusttag. Sie lief durch die Pfützen, die sich im aufgerissenen Schotter der Straßen gesammelt hatten und versuchte, so genau und vorsichtig in das Wasser zu treten, dass es nur ihre Schuhsolen, nicht aber die weißen Strümpfe benetzte. Sie hatte diese Art zu gehen als ein Spiel erfunden, sie wettete jedes Mal mit sich selbst, ob sie es schaffen würde, sich nicht die Strümpfe zu beschmutzen, und als sie durch das schwere Eisentor in das Schulgebäude eintrat, triumphierte sie.
Der Lärm auf den Gängen verteilte sich zugleich mit den Kindern nach und nach in die Klassenzimmer. Die Luft vibrierte von der Aufregung des ersten Schultages, es roch nach frisch gedruckten Büchern, Umschlägen aus Plastik und Bleistiften. Dieses Zukunft verheißende Lachen der Kinder, hier würde es immer zu finden sein, innerhalb dieser Mauern gab es keine Leere, keinen Tod. Der schrille Ton der Schulglocke zerriss die Luft, und nach und nach schlossen sich alle Türen.
Nur sie war in keines der Zimmer gegangen.
Sie stand allein in der Mitte des langen Flures und versuchte sich zu erinnern, in welche Klasse sie gehörte. Sie presste ihr heißes Gesicht gegen den grauen kühlen Lack der Tür, ihr Ohr versuchte vergeblich ein Geräusch einzufangen, eine Stimme, die ihr vertraut vorkam. Laut las sie die Nummern der Klassenräume, die ihr jedoch nichts sagten, ebensowenig wie die bunten Bilder an den Türen. Sie wusste mit einem Mal nicht mehr, wie sie hierher gekommen war. Alles, der Name ihrer Lehrerin, die Zimmernummer, der Schulweg, jedes Ereignis löste sich allmählich in verschwommene Nebel auf, sobald ihr Verstand danach fassen wollte. Sie durchsuchte angestrengt jeden Winkel ihres Gedächtnisses nach brauchbaren Spuren, die sich jedoch sofort in die Unendlichkeit des Vergessens verkrochen, sobald sie ihrer habhaft zu werden glaubte. Die Einsamkeit des Flures kroch an ihren weißen Strümpfen herauf, legte sich allmählich an die Ränder ihres Körpers und wurde nach und nach zu ihrer einzigen Gewissheit. Während sich ihre Augen weiteten und kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn abzeichneten, zählte der Zeiger der Schuluhr eine Zeit, welche schon nicht mehr die ihre war.
Und während sie auf der frisch gebohnerten Treppe saß, die zum zweiten Stock des Gebäudes führte, (diese Treppe war ihre einzig Verbündete in diesem Moment, und noch Jahre später bewirkte der Geruch von Bohnerwachs eine sofortige und totale Entspannung bei ihr), während sie also auf dieser Treppe saß, da fiel sie langsam aus der Zeit heraus.

Es gibt Tage, an denen haben wir nichts zu sagen oder wir können über das, was uns bewegt, nicht sprechen. Gestern kam sie sehr spät. Sie sah mich versonnen aus ihren schmerzdunklen Augen an, während wir nichts taten als da zu sein und zu schweigen. Und dann hörten wir einfach Musik. Musik, von der irgendjemand einmal sagte, dass sie die Fähigkeit habe das auszudrücken was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen.
Das war gestern.

blind nun ganz
Kairos und Kronos im
fliegenden Wechsel
so sag mir an

was zwischen uns gewesen

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