B.L.’s 18.3. – Wo aber ist das Wort „Bourgeoisie“ geblieben?

15.55
Ich sollte doch versuchen festzuhalten, was mich jetzt in üble Abgründe stürzt. Ich ahne jetzt auch, warum ich mich heute nachmittag nicht von einem Text losreißen konnte, lesend. So oft passiert das auch wieder nicht. Dieser Text befindet sich unter der Rubrik „Notizen (I)“ in Nettelbecks „Republik“ (Nummer 18-26 / 30. April 1978, S. 53-110) und rekonstruiert das Schicksal Eckermanns und seiner „Gespräche“ ab dem Zeitpunkt, da er merkte, daß sein Verleger Brockhaus in Leipzig ihn betrogen hatte, von dem darauf folgenden, durch Eckermann angestrengten Criminalprozeß, von der Protektion, die Brockhaus bei den Leipziger Richtern genoß (der „ehrenwerte“ Kaufmann und „angesehene“ Bürger (das Wort „Bourgeois“ (nebst „Bourgeoisie“) habe ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gedruckt gesehen, daß ich glatt wegen der Schreibung nachschlagen mußte (gibt’s die nicht mehr? – ich mein’ mit „die“ jetzt nicht die „Schreibung“))), von der öffentlichen Diffamierung Eckermanns durch Brockhaus nach dem Freispruch zugunsten des Verlags (dem Kläger indes wurden alle Kosten auferlegt, wohl weil er es gewagt hatte, zu klagen) usw. usf. und den ganzen Folgen für das Leben eines Einzelnen. Bzw., ich ahne, wie durch diese Lektüre mein eigener Abgrund sich wieder auftat – nach dem hydraulischen Prinzip der kommunizierenden Gefäße. – Gut, der Anfang ist gemacht, und die Anker sind ausgeworfen, so daß ich jetzt doch ein wenig spazierengehen, dann mit dem Auto um Zigaretten unterwegs sein und dann nach solcher außerhäuslichen Nachgrübelung fortfahren werde. Da es noch nicht eingestellt ist und nur erst vor mir im Off auf dem Bildschirm flimmert, brauche ich auch nicht um Geduld zu bitten (höchstens mich selbst).
17.43
Nun hab ich’s weggegrübelt, was ich sagen wollte. Mal seh’n, ob ich wieder hineinkomme. Im Grunde handelt es sich um mein eigenes finanzielles Szenario, um ein Wort aus dem Wirtschaftsteil (?) der Tageszeitungen zu benutzen, die ich nicht lese. Ich erwähnte das schon häufiger in letzter Zeit. Hinzu kommt daß meine Beschwerde (bzw. diejenige der Steuerberaterin) beim hiesigen Fiskus abgelehnt wurde: es ging um Steuernachforderungen für die staatliche Krankenkasse, von denen es damals hieß, daß ausländische Staatsbürger (der ich immer noch bin) zu deren Zahlung nicht verpflichtet seien. Bis auf den letzten kamen alle Zahlungsbescheide aus Rom, der letzte aber aus Terni, wo man mir sofort bescheinigte, die Nachforderung nicht zahlen zu müssen. In Rom hingegen ging’s abschlägig zu. Nächste Woche wird die Steuerberaterin das Urteil mit der entsprechenden Begründung abholen. Dann heißt es, in die nächste Instanz gehen. Die Sorge dabei ist, daß ich das dann doch zahlen muß. Das wäre allerdings ein ziemlicher Hammer – sagen wir’s mal so. Das alles vermischt sich mit dem Groll, den ich gegen sie hege, weil sie damals, als der Untergrund unterm Haus abgesichert werden mußte, gleichzeitig darauf drang (ohne Rücksicht auf meine Einwände), einen Prozeß gegen die Vorbesitzer anzustrengen, der sich immer noch hinzieht und auch Kosten verursacht. Die ich mitgetragen habe. Ich also letztendlich mit nichts von hinnen ziehe. (Sie hat ja mittlerweile ihre Eltern beerbt, und erst seit dies geschehen ist, hat sie auch ein eigenes Konto haben und sich beeilen wollen, das Finanzielle zwischen uns zu klären. Wer hat, der hat, und dem wird gegeben.) Eine Vorstellung, die zwar schon oft akzeptiert habe in der romantischen Vorstellung eines Neuanfangs. Aber so neu fängt ein Leben mit 53 doch nicht an, als daß man plötzlich die weite Welt vor sich sieht. Die Horizonte richten sich leider nach dem, was man für Arbeit in Rechnung gestellt hat und zu stellen berechtigt ist, das sind derzeit 8001 Euro. Horizonterweiterung heißt in diesem Fall mitnichten Bewußtseinserweiterung, sondern lediglich Arbeiten (und auf Arbeit hoffen). Alles Andere ist reine Illusion. Das sind die ökonomischen Zwänge des menschlichen Zusammenlebens, die das menschliche Zusammenleben zu einem Zwang gestalten, der sich auf Kosten der Freiheit aus der Ökonomie ergibt. Das im Menschen leben wollende Gute unterliegt allemal dem im Menschen dennoch wesenden Bösen. So um Neujahr äußerte ich mal: Es wäre doch ein sehr verdienstvoller Protest gegen die Gesellschaft, wenn man als Jemand, den Alter oder Krankheit nicht mehr viel hoffen lassen, ihr die Quittung für sein Leben dadurch verpaßt, daß man sich irgendwo in die Luft gehen läßt, wo man denen schadet, die über Leichen gehen. Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!

6 thoughts on “B.L.’s 18.3. – Wo aber ist das Wort „Bourgeoisie“ geblieben?

    1. Das heißt heute – glaub‘ ich – „Manager“… Dennoch war ich dankbar überrascht über die Gleichheit der Fragestelltung… aber der Link, den „>>“ impliziert, funktioniert nicht, führt ergo nach Böhmen!

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