Arbeitsjournal. Sonntag, der 29. April 2007.

6.45 Uhr:
[Arbeitswohnung. Schönberg, Erstes Streichquartett.]
Diese Musik hören und empfinden, wie sehr sie in ihrer Zeit verhaftet ist: der gesamte Klangraum ist historisch, und zwar sehr bestimmt: fin de siècle von 19 auf 20. Düfte über Binnenwasser, zweispannige Kutschen mit wehenden Schals, der parallele Impressionismus undsoweiter; noch „fehlen“ die Traumata der beiden Weltkriege und der ständigen auch das Ich-Bewußtsein gefährdenden Technologie. Das Streichquartett stammt ja noch aus Schönbergs spätromantischer Phase, weist aber doch schon in seinen späteren atonalen Klassizismus voraus, der mir jetzt eben vorkommt wie eine Fluchtbewegung nach vorne, die sich nicht von den Entwicklungen abschneiden lassen will, doch, wie Borges schreibt, der „klassischen“ Bewegung folgt, nicht (gewaltsam) „ausdrücken“ zu wollen, sondern der Sprache und ihrer unbedingten Aussagefähigkeit – hier: dem musikalischen Zeichensystem – v e r t r a u t. Das hat, wie alle Klassik, etwas human-erwachsenes, ist aber zugleich voller Naivetät. Man kann auch darüber nachdenken, was das sozialtheoretisch impliziert: nämlich, dachte ich eben, daß man nur innerhalb es „eigenen“ (menschlichen) Bezugssystemes bleiben müsse, um vor einem ins eigene Wohl brutal einbrechenden Außen geschützt zu sein: Sozial-Zentrismus – die speziellere Form des Anthropozentrismus auf einer höheren, vergesellschaftlichten Ebene. Erst Verdun, dann Auschwitz – beide als negatives Icon verwendet – haben damit Schluß gemacht, und keiner hat das so scharf und genau überdacht wie Adorno, für den, was er und Klaus-Heinz Metzger Anton Webern attestierten, mit den nicht industriell durchgezogenen Unfaßbarkeiten des Hitler-Faschismus imgrunde das Ende der abendländischen Kultur erreicht war, die sich in der alten Sprache, die Adorno liebte, nur noch als Verstummen ausdrücken kann (Metzger: „… eines Radikalismus der Negativität und der Negation, dem jeder überhaupt noch erklingende Ton eigentlich schon zu viel ist.“) oder als eine Struktur permanenten Hinhaltens und Lockens und, g r e i ft man danach, Sich-wieder-Entziehens. Der Double-bind als ästhetisches Paradigma.
Daß so etwas dann selber „unmenschlich“ (ein beliebter Einwand gegen A-Tonales) wird, weil Welt dennoch weitergeht und es neue Generationen gibt, die leben w o l l e n, ist die Falle, in die ein solches Denken (und Fühlen, klar) gerät. Die Postmoderne hat das gesehen und sieht das: entweder als Rücknahme des Kritischen und hochkapitalistische Affirmation (kein Unterschied sei zwischen U- und E-Künsten im Wert) oder aber Bearbeitung und Poetisierung des Schreckens, wie das literarisch in Pynchon‘s Gravity‘s Rainbow geleistet wird.
Interessant, wie das bei mir wieder funktioniert, kaum daß ich bei der Arbeit wieder Musik höre: musikalisches D e n k e n. Zum Beispiel, daß es – konfrontiert mit einer solchen letztlich als Angriff auf das eigene Bedürfnis nach Zuhause emfundendenen Radikalität – zum Pop kommen m u ß t e, um so mehr, als er den jugendlichen Widerstand gegen die Alten und das Alte grundiert hat, und daß aber gerade er – hier g r e i f t die Negativität abermals – schließlich die Alten Strukturen zementiert hat und weiterzementiert. Die „fortschrittlichen“ Ästhetiken hingegen haben sich durch wie auch immer begründete sinnliche Verweigerung selbst ins Aus rutschen lassen – die ästhetische Weiterentwicklung der Musik fand nahezu unter Ausschluß jeglichen Publikums statt. Auch das hat die Postmoderne dann gewendet und das Publikum wieder hereingeholt – freilich nur allzu oft unter Aufgabe des widerständigen Potentials aller Künste – so daß in der Literatur ein Realismus wieder möglich wurde und weitergewünscht ist, der in gar keiner Weise mehr weder gesellschaftliche Grundlagen noch gar die vorgängigen Naturprozessen auch nur ‚abbilden‘ kann. Nötig wäre (i s t), einen solchen Realismus zugleich zu haben, wie ihn vermittels unterdessen erreichter Paradigmen zu übertreten: durchgehende Multi-Perspektivität.

[Poetologie.]


Habe bis sechs Uhr geschlafen, weil ich wieder auf den >>>> Twenty-four-Trip gegangen bin, nunmehr wegen der Sechsten Staffel, deren erste, >>>> zur Zeit in den USA ausgestrahlte Folgen man mir zugespielt hat. Ich werde sicher drüber schreiben – aber erst nach Abschluß dieser Staffel, der für Ende Mai ansteht. Jedenfalls wurde es nach ein Uhr nachts, die Familie schlief längst, als ich mich legte – und als ich erwachte, wußte ich, ich hatte einen Auferstehungs-Traum gehabt. Nämlich sei >>>> bei dem Unfall mein kleiner Sohn umgekommen, wir, seine Eltern, sind voller Unglück – da taucht der Junge wie ein Engel, der‘s nicht merkt, bei uns Zuhause wieder auf und sitzt bei Tisch, als wäre gar nichts geschehen… Tatsächlich stand er bei mir am Bett und suchte nach Taschentüchern. Während ich ihm welche holte, wurde mir diese interpretierend-versteckende Volte meines Unbewußten sehr schnell klar. Wegen >>>> Hausach habe ich nämlich, über den Streit hinaustretend, wieder Kontakt mit meiner Mutter aufgenommen, und so etwas wie Frieden scheint aufzuziehen. Woraus das Unbwußte den Schluß gezogen hat, einen inneren Perspektivwechsel vorzunehmen, in dem der auferstehende Sohn gar nicht meiner, sondern ich selbst bin. Man kann über die wahrheitsbesessene Pfiffigkeit psychischer Prozesse wieder und wieder nur staunen.

8.05Uhr:
[Schönberg, Zweites Streichquartett.]
Eine eigenwillige, produktivitätsästhetische Schwierigkeit des >>>> Stromboli-Textes besteht darin, daß ich für den Protagonisten eine Einsamkeit imaginieren muß, die ich zwar lange Zeit hatte, de facto aber, schon als Familienvater, nicht mehr habe. Da muß ich psychisch ständig – sagen wir: – extrapolieren… heikel, wenn man für die Arbeit authentisch sein will. Wie schon im Fall >>>> Fichtes wäre für mich eine objektiv-radikale Ablösung von meinen emotionalen Bindungen weder möglich, noch wollte ich sie. Dasselbe gilt für den Mann in AMNION. Aragon erlangte diese objektivierende Ablösung (und eigentlich >>>> die ästhetischen Wunder seiner Roman-Poetik) erst nach Elsa Triolets – seiner vergötterten Frau – Tod. Hölderlin w a r einsam; Thomas Mann stellte sich die nötige Einsamkeit künstlich her – mit furchtbaren Folgen für seine Kinder. Will ich den Text nicht verfälschen, muß ich das bewußt halten und ihn also abermals >>> als eine Möglichkeit anlegen…dieses Vage ist ästhetisch notwendig: es bedeutet, dem „lyrischen Ich“ den autonomen Boden zu entziehen, der den S ch e i n aufspannt. Die Geliebte in dem Gedicht, durch die ich die reale Situation des mit dem Vater gereisten Kindes ersetze, muß zugleich da sein wie n i c h t da sein; ein ständiger Perspektivenwechsel ist deshalb nötig – und dringt jetzt, als in meinen Romanen entwickeltes Konstruktionsprinzip, in die Lyrik vor. Das wurde mir gestern nacht – so l a u f e n solche Prozesse – klar, während ich Twentyfour sah. Zugleich, daneben, parallel, in derselben Gegenwärtigkeit.

[Winbeck, Entgegengesang für Orchester.]



Und wieder und wieder das Gefühl, meine Romanarbeit sei eigentlich an ihr Ende gekommen; es sei noch auszuführen (ARGO zuendezuüberarbeiten, die drei anderen Romane, die mir im Kopf sind, noch nebenhin hinzuschreiben), aber nicht mehr in Neues aufzubrechen. Die Lichtung ist gerodet und der Stadtgrund angelegt, da baut man zwar noch hier und da ein Haus, aber imgrunde war‘s das, und für den Ausbau eignen sich andere besser: Innenarchitekten. Vielmehr geht‘s in den Busch w e i t e r mit der Lyrik. Für einen 52jährigen Nur-Romancier ist das mehr als komisch.

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Sonntag, der 29. April 2007.

  1. Beim Lesen Deiner letzten Notiz bin ich ziemlich aus meiner sonntäglichen Arbeit gerissen: »Und wieder und wieder das Gefühl …«

    Zum einen glaube ich nicht an die Arbeitsteilung beziehungsweise: an ihr Gelingen glaube ich ganz und gar nicht, nicht im künstlerischen Zusammenhang: Es wird keinen Grundriß-Architekten geben, der dann die Einbauten an »Subalterne« weiterreicht. Du wirst, literarisch, keine Ernst-May-Siedlung denken, ohne auch die speziell da hingehörigen Einbauschränke zu schaffen, Du wirst keinen Frankfurter Schrank zusammenschreinern, ohne die Sozialordnung seiner Zeit aufzureißen. – Aber es geht um was Grundlegend(er)es als derlei Arbeitspraktisches:

    Ich erinnere mich gut, wie Du öfters in den 90ern davon sprachst, es gäbe Würfe, die man nicht entwickeln könne: die nur noch als Schablone letztlich regenerierbar seien, konkrete Poesie nach Gommringer, nouveau roman, Beckett, Virginia Woolf etc. Ja, das stimmt schon, hatte mir eingeleuchtet,und manchmal hatte ich gedacht: Hoffentlich ist der Wolpertinger nicht so ein Wurf gewesen, nach dem dann eben Schluß sein müßte. Dann bist Du mit der Trilogie angetreten. Und es war schnell klar, daß das wiederum so ein Wurf ist, aber man sah auch die Linien, die Entwicklungen, die Bezüge, Geburten und Verzweigungen. Jetzt verhält es sich durchaus auch mit dem Kybernetischen Realismus so. Es ist ein Wurf. Aber: das Prinzip Wurf ist Geschichte. Und ich sehe sehr deutlich einen Phasensprung, den wir hinter uns haben oder in dem wir gerade drinstecken bzw. in dem wir gerade springen, eine Zäsur, die auch beinhaltet, daß diese hart in sich abgeschlossenen Würfe vorbei sind, nicht mehr so werden geworfen werden (können – dabei ist es gar nicht um das Nicht-können zu tun, sondern: das ist einfach vorbei und durch, da lautert nun anders, lauert anders), sie sind zu knapp, sind zu geschlossen, sind überholt. – Wieso bist Du denn letztlich ins Netz ausgewichen? Das war doch nicht nur als Schreibschablone oder Ersatzpapier, sondern (anfangs sicher neben der schieren editorischen Not) weil es andere Fäden zieht, anders sich strukturiert, eine andere, nämlich erweiterte Ästhetik öffnete – über Dich hinweg ein Stück weit, einerseits, andererseits in einer neuen Komplexität, die einem Gommringer glatt den Bleistift versengt hätte. Diese Komplexität, Komplexitäten eher sind es, die solche Sackgassen (des historischen Wurfs) nicht mehr zulassen, Komplexitäten des Schaffens, die auch letztlich eine erweiterte Verantwortung, eine nicht abschließbare Kreation bedeuten. Wir können nichts mehr »fertig hinstellen und basta«. Es gibt keinen Webstuhl mehr, auf dem wir einen Teppich in definiertem Rahmen einspannen und füllen, und fertig. Nein. Wir sind in solchen Netzen, die wie mehrdimensionale Webladen sind – das mag traurig oder sentimentfeindlich (sorry, dieser implizite Vorwurf wird Dich köcheln lassen, soll er auch ein bißchen!) sein, weil die Absolutheit des Autors relativiert ist, aber sie bindet den Autor eben auch solange immer weiter und wieder ein, wie er selbst lebendig bleibt, sich seinem eigenen Anstoß stellt, solange er weiterwebt und -lebt (jetzt mache ich aber gleich Schluß, bevor’s hier anfängt zu goetheln). – Ich will jedenfalls ziemlich enttäuscht sein, wenn ich Herbst da nicht weiter mitmischen sehe!

    Dann leuchtet mir auch Deine (ja letztlich auch wertende, relativierende, hierarchisierende) Trennung Deiner Arbeit in Lyrik und Prosa / Roman nicht ein: gerade bei der Verschlingung der beiden Werkgruppen in Deiner speziellen Arbeit, das gegenseitige Aufgreifen, Themenzuspielen, Figuren-Setzen, Äquilibrieren von Theorisieren-Erzählen zwischen den beiden Bereichen ist doch so intensiv, daß es nachgerade eine Einheit abwirft. Allein diese Tatsache, diese Möglichkeiten zwischen den Formen weiter zu loten, sind immens. Ich verstehe nicht, wie Du da kleinmütig werden kannst. Wenn in den letzten Jahrzehnten jemand an der Grenzlinie der Gattungen gedrückt und geschoben und die sozusagen die »Vereinheitlichte Feldtheorie von Lyrik und Prosa« hat ahnbar werden lassen, dann doch Du mit den Arbeiten der zurückliegenden zwei Jahre. Mann! – Das ist, zu Ende gedacht, natürlich nichts anderes als das obige. Also, wirf die midlifekritische Erwägung der 52 Jährchen über Bord und halt Dein Schiffchen im Kurs!

    Und jetzt höre ich Großmaul wirklich auf. Nimm herzlichste Grüße aus der Leitung, Axel

    1. „Wieso bist Du denn letztlich ins Netz ausgewichen? Das war doch nicht nur als Schreibschablone oder Ersatzpapier, sondern (anfangs sicher neben der schieren editorischen Not) weil es andere Fäden zieht, anders sich strukturiert, eine andere, nämlich erweiterte Ästhetik öffnete – über Dich hinweg ein Stück weit, einerseits, andererseits in einer neuen Komplexität, die einem Gommringer glatt den Bleistift versengt hätte. Diese Komplexität, Komplexitäten eher sind es, die solche Sackgassen (des historischen Wurfs) nicht mehr zulassen.“
      – das ist es. die lyrik erscheint dann als „kleinere form“ als einzige die bedingungen erfüllen zu können: fertig hinstellen und basta. aber nur scheinbar, denn die struktur selber verändert sich, und die werke sehen in zukunft einfach ganz anders aus. vielleicht integrieren sie sich auch gewisserweise so ins leben selbst, daß heinrich >>> rombach mit seiner „konkreaktivität“ zum zug kommt …:
      “ Der Philosoph Heinrich Rombach dagegen verwendet den Begriff «Konkreativität» in seiner phänomenologisch-anthropologischen «Strukturanthropologie» zur Bezeichnung eines holistischen Verhältnisses eines Menschen mit seinen/ihren Mitmenschen und der gesamten Umwelt. Findet ein konkreativer Prozess in einer Gruppe von Menschen statt, entwickelt sich etwas, das gemeinhin als Team- oder Gruppengeist bezeichnet wird: Die Teilnehmenden wachsen über sich selbst hinaus, und es bildet sich eine «Gemeinschaft». Wie aus diesen Ausführungen klar wird, legt Rombach dem Begriff Konkreativität nicht eine ästhetische bzw. schöpferische Tätigkeit im engeren Sinn zu Grunde: jede Handlung kann konkreativen Charakter annehmen.

      Den beiden Ansätzen ist gemein, dass sie Konkreativität nicht zur Beschreibung von konkreten künstlerischen Prozessen und Produkten verwenden. Im einen Fall handelt es sich um ein utopisches ästhetisches Konzept, im anderen um ein (gruppen-) psychologisches. Hier dagegen soll der Begriff als literaturwissenschaftliche Kategorie konstituiert werden.

      Bei der literaturtheoretischen Sicht auf konkreative Projekte ist evident, dass die Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer an der Schaffung der Narration eine Modifikation der herkömmlichen Autor-Leser-Rollenzuteilung zur Folge hat. Diese stellt sich bei genauer Betrachtung eher als Verschiebung der Machtverhältnisse auf das editorische und – im digitalen Bereich – programmiertechnische Feld denn als radikale Gleichstellung der Leserinnen und Leser mit der Autorinstanz dar (vgl. zu dieser Frage Anja Rau: «What you click is what you get? Die Stellung von Autoren und Lesern in interaktiver digitaler Literatur», wo am Rande auch Online-Mitschreibprojekte zur Sprache kommen).“

    2. Quatsch. @Zensur. Ich habe mehrmals angekündigt, daß Ihre hämischen Beiträge in Zukunft kommentarlos gelöscht würden. Der Zeitpunkt ist gekommen. Werfen Sie Ihren Unrat anderswo ab. Zensur wäre, wenn jemand Ihnen d a s verweigerte.

      Eröffnen Sie einfach ein eigenes Weblog – und ich wäre der letzte, Sie daran zu hindern, es als Toilette zu benutzen.

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