Paul Reichenbachs Mittwoch, der 27.Juni 2007. Überbleibsel.

Wenn das Gedächtnis für bestimmte Zeiträume und Orte schwarze Löcher und weiße Flecken aufbewahrt, die einzigen Überbleibsel des Nichts, ist erinnern schwer in Gang zu setzen. Seit langem versuche ich mir jene Tage bewusst zu machen, die ich, längst bevor der Begriff allgemeine Mode wurde, Bleierne nannte. Eine unheimliche Ereignislosigkeit, so wie man sie beim Fliegen mitunter empfindet, man weiß von der Bewegung und kann sich angeschnallt am Sitz nicht rühren, fühlt sich eingeengt, gefesselt und in der Luft stehen geblieben, bemächtigte sich meiner nach der Okkupation Böhmens, Mährens und der Slowakei. Ich wusste nicht mehr, wo ich herkam und wohin ich eigentlich wollte. Die unklare brechtsche Ungeduld des Radwechsels teilte sich mir im August 1968 nicht mit. Lasst alle Hoffnung fahren verkündeten die Stiefel der Roten Armee und die Zeitungen. Paris war fern. Der Traum war aus. Die eigene Haut wurde für Jahre wieder fremd, Einzig das „Haut an Haut- Spiel“ ließ damals ahnen, dass ich lebe. In alten Taschen finden wir manchmal unser Verlorenes. Erinnerung flüstert nicht. Es sind die vergessenen Dinge, die wispern. Warum ich heute darauf komme? Gestern stöberte ich auf unseren Dachboden und fand Reste des Nichts, die sich dort in einer kleinen leinenen Umhängetasche versammelt hatten.

2 S-Bahn Fahrkarten, Pappe, gedruckt in Lichterfelde
1 Bleistiftstummel, 1 Radiergummi und Radepur
1 Rasierklinge, 0,8mm.
2 Schwarzweißfotos. Vergilbt. Mit lachender junger Frau.
Namenlose Augen. Geknipst vorm Heiligen Wenzel.
1 Rowohlt – Taschenbuch, völlig befleckt und zerlesen.
Camus: Der Mythos von Sisyphos. Dick unterstrichen:
Stets werde ich mir selbst ein Fremder sein
1 Notizzettel, kaum leserlich, dünne Bleiworte:
Ist Sisyphos wirklich als glücklicher Mensch vorstellbar?

Ich komme nicht auf ihren Namen, erinnere mich nicht!

Nur ein Satz Batailles huscht mir durch den Kopf, verschwindet in anderen Bildern, auch schon lange vergessen geglaubten, tritt wieder aus ihnen heraus und leuchtet in flammender Schrift mein Gedächtnis aus:
„Wir waren nicht schamlos, im Gegenteil, aber eine Art von Befangenheit zwang uns der Scham zu trotzen.“

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