>>>> hier (9.22 Uhr). Der Text lautet:Ich setzte mich in einen Sessel, zündete mir eine Zigarette an und versuchte, den kommenden Schaffensakt vor mir herzuschieben, sanft, sanft, damit er nicht verletzt werde. Aber bevor der Glaser mit seiner Arbeit fertig war, kam Frau von Hergenrath. Ich hörte auf zu schieben und unterdrückte einen Atemstoß der Resignation. Es galt Ruhe zu bewahren: sie war eine Mäzenin, die Wesentliches zu meinem Lebensunterhalt beitrug. Denn die Kunst geht nach Brot, wie jedermann, der nichts davon versteht, oft und gern versichern wird. »Ich komme«, sagte die Gute, »um mich nach Ihnen umzusehen.« Dabei sah sie sich um, als suche sie mich zwischen den Bildern. »Ich höre, Sie gehen durch eine unfruchtbare Periode.« Ich war nun wahrhaftig nicht geneigt, mich mit Frau von Hergenrath über die Tücken meiner Muse zu unterhalten. Daher versicherte ich ihr, das Gegenteil sei der Fall, ich erfreue mich voller Schaffenskraft, wobei ich mit vitaler Geste auf die umherstehenden Bilder als Zeugen wies. Sie waren zwar alt, und Frau von Hergenrath hatte sie alle,bereits mehrere Male gesehen, aber ich konnte mich auf ihr mangelhaftes Gedächtnis verlassen. In der Tat ging sie mit frischer, unsachlicher Kritik daran, mehr als einmal das Gegenteil dessen zu äußern, was ich als ihre frühere Meinung in Erinnerung hatte. Aber wenigstens der Glaser war verstummt. Er hatte schweigend das Hämmern wieder aufgenommen. Ich stellte fest, daß der Regen nachgelassen hatte. Die Zeit stand still.
Dieser einschläfernde Nachmittag nahm eine jähe Wendung, als Engelhardt plötzlich ins Zimmer stürzte, Engelhardt, der unausstehliche Gesellschafter mit seiner tödlichen Herzlichkeit, dem man aber nicht böse sein darf. Ein reifer Camembert ist er, unter seiner unangenehmen Schale weich, was ihn letzten Endes noch anrüchiger macht. Das auch noch! Ich zuckte zusammen bei dem Gedanken an den erwarteten Schulterschlag. Er küßte Frau von Hergenrath die Hand,.stürzte sich dann auf mich und schlug zu. D#bei rief er zuerst etwas mit »alter Knabe« und fragte dann: »Was macht die Kunst?«
»Naja, es geht«, sagte ich. .Die Antwort auf solche Fragen variierte ich von Fall zu Fall nur gering. Es war mir niemals gelungen, eine Entgegnung zu finden, die zugleich kurz und erschöpfend ist, und es war auch nicht nötig, denn die Fragesteller schienen stets mit diesen“ vagen Worten zufrieden zu sein. »Ich sehe«, fuhr dieser Mensch fort, indem er sich Frau von Hergenrath bei der Besichtigung einiger besonders schwacher Frühwerke anschloß, »die Muße küßt dich unentwegt. Das wollen wir begießen.« Er zog eine Flasche Kognak aus der, Rocktasche.-In seiner Fähigkeit, sein einziges Ziel im Leben — die sogenannte Hochstimmung — zu verwirklichen,*war er wahrhaft beneidens-NÄCHSTE SEITE-wert. »Ein begabter Hund, was?« fragte er Frau von Hergenrath. Er meinte mich. Ich war damit beschäftigt, Gläser zu holen, sah daher nicht, ob er sie dabei — wie es seine Art war — in die Seite puffte.
Hier stieß meine Frau zu uns. Das Geräusch des Entkorkens weckt sie immer, weckt sie selbst auf einige Entfernung, es wirkt, wo Küchenwecker versagen. Sie wandelte auf uns zu und begrüßte uns verhalten. Ich hatte das Gefühl, daß sie außer mir niemanden so recht erkannte: es wurde ihr-immer recht schwer, sich nach dem Mittagsschlaf im Leben zurechtzufinden, aber nach einigen Glas Schnaps gewann sie ihre — oft eigenwillige — Perspektive wieder. Engelhardt reichte ihr ein großzügiges Maß. Dann wollte er Frau von Hergenrath einschenken; sie aber legte ihre flache Hand auf das Glas und sagte, sie trinke niemals um diese Zeit. Diese Feststellung enthielt natürlich eine Spitze, auf mich gerichtet: ein Mäzenat, dessen Nutznießer am hellichten Tag außerkünstlerischer Tätigkeit nachgehe, sei zu überprüfen! Aber diese Feinheit nahm Engelhardt nicht wahr. Unter Anwendung dessen, was man vielleicht mit seiner spaßigen Überredungskunst bezeichnen könnte, gelang es ihm, sie zu einem sogenannten halben Gläschen zu bewegen. Damit war die Basis zur Überschreitung ihrer Vorsätze geschaffen, und hiernach sprach sie, wie man sagt, dem Kognak eifrig zu. Leider gelang es mir nicht, Engelhardt daran zu hindern, auch dem Glaser einen Schluck anzubieten. Dieser hatte bis dahin sinnlos vor sich hingehämmert, obgleich er längst mit seiner Arbeit fertig sein mußte. Es gefiel ihm hier. Auf Engelhardts Aufforderung hin kam er nun zum Tisch, sagte: »Ich bin so frei« und kippte sich — man kann es nicht anders ausdrücken — die Flüssigkeit in den Hals. »Ich male auch«, sagte er daraufhin zu Engelhardt, gleichsam um die Aufnahme in unseren Kreis gerechtfertigt erscheinen lassen. »Wer malt nicht?« fragt dieser albern, aber damit konnte der Glaser nichts anfangen und verwickelte meine Frau in ein — freilich einseitiges — Gespräch über Kunst.
So saßen wir denn, als sich die Tür öffnete und ein mir fremdes Paar — vermutlich ein Ehepaar — eintrat. Da meine Frau über dem Getränk ihre Pflichten als Gastgeberin vergessen hatte, “ stand ich auf und begrüßte die beiden so freundlich, wie es mir unter den Umständen gegeben war. Der Mann stellte sich vor — den Namen verstand ich nicht; ich habe beim Vorstellen noch niemals einen Namen verstanden, denn jeder Name trifft mich zu unvorbereitet — und sagte, er käme mit einer Empfehlung von Hebertin in Paris. »Aha, Hebertin«, sagte ich und nickte, als sei mir die mit ihm verbrachte Periode meines Lebens gegenwärtig; dabei hatte ich noch nie von ihm gehört. Ich stellte das
Ein schönes, vielversprechendes Fragment, ich assoziiere Anatole France,
aber wer steckt wirklich dahinter…?
Ich habe der Sprache wegen – übersetzte Texte klingen anders! – von Anfang an nicht an einen Franzosen gedacht, sondern an einen deutschsprachigen Autor der 50er Jahre. Und tatsächlich entstammt das Fragment denn auch Wolfgang Hildesheimers Erzählung Das Atelierfest, enthalten in dem1952 zuerst erschienenen und später noch einmal überarbeiteten Band Lieblose Legenden.
Wie ich auf einen Franzosen kam. Weiß ich nunmehr a u c h nicht länger. Chapeau, Frau HW, wie sie den Quelltext herausgefunden haben!