5.19 Uhr:
[Arbeitswohnung und latte macchiato.]
Pünktlich um halb fünf hoch, aber alles geht sehr verlangsamt, weil seit gestern spätnachmittags mein linker Fuß wieder im Rist schmerzt; es wurde schlimmer über Nacht, aber ich beiß die Zähne zusammen; da uns der Profi einen Automatic-Wagen gegeben hat, gefährdet dieser blöde Umstand auch die Ostseereise nicht. Freilich hoff ich, daß die Hinkerei sich so schnell wieder legt wie >>>> in Hausach. Ich fang doch nicht etwa schon mit Alters-Zipperlein an… (Das Hinken kommt dadurch zustande, daß ich eine Stelle herausgefunden habe, auf der es sich zwar nicht völlig schmerzlos, aber doch so auftreten läßt, daß ich vorankomme; ich kann sogar den Rucksack tragen, und das Geschleppe nachher, wenn wir den Wagen beladen, wird auch gehen. Egal).
Selbstverständlich ist die und sei es kapitalistische Demokratie gegenwertig die sinnvollste und am ehesten humane Regierungsform – allerdings für die, die in ihr und zugleich in wie leicht auch immer gesichertem Wohlstand leben; selbstverständlich liegt es mir fern, praktisch oligarchische Modelle gegen sie auszuspielen; anderes wäre nach den leidvollen Erfahrungen mit dem Faschismus auch völlig absurd. Dennoch sind Gedanken der Eliten weiterzudenken und präsent zu halten, und wäre es nur als ein Gegengewicht, das die Nivellierung belastet und langsamer macht, damit für Besinnungen Zeit bleibt. Und es bleibt ein Reiz des mythisch-Alten, des Gebundenen, Verbundenen, das Erde eben n i c h t als Rohstofflager begreift, und n i c h t den Menschen als Produktions- und Konsumtionsmaschine, die zu funktionieren habe, eben n i c h t nur als definierte und organisierte Arbeitskraft, über die sich sozial verfügen läßt. Von vielem Alten geht ein Reiz des Verbürgten aus, eines Wertes, der sozusagen Erfahrungen materialisiert und ihnen Kirchen gebaut hat, Andachts- und Besinnungsstätten, und Rituale geformt, um von den Künsten einmal ganz abzusehen. Je schärfer mir der grundlegende materiell-physikalische Determinismus bewußt wird, aufgrund dessen sich die Entwicklungen begeben, und also je schärfer meine Zweifel an der (vor allem westlichen) Konzeption der Freiheit des Ichs werden, um so bedeutsamer wird das Konservative, von dem ich noch vor ein paar Jahren keine Ahnung hatte, daß es das in mir gibt. Wobei ich aufgrund meiner unterdessen ständigen Beschäftigung mit Pound und ähnlichen ja eben n i c h t Verführten, sondern sie haben wie geblendet ganz freiwillig (aus ihrer eigenen Perspektive betrachtet freiwillig) mitgemacht… wobei ich mich also frage, wieso sie die Barbarei nicht gesehen haben, die mit dem heraufzog, was sie, bei Pound kann man das ja so sagen, feierten. Auch Benn, ein ziemlich unerbittlicher Denker, war nicht gefeit, jedenfalls nicht bis zu einem gewissen Punkt, an dem er dann endlich Nein sagte; auch Jünger sagte irgendwann Nein; D’Annunzio war nicht gefeit, gefeit wäre wahrscheinlich auch Pirandello nicht gewesen, doch starb er früh genug, um sich nicht ebenfalls mitschuldig zu machen; gefeit war Richard Strauss nicht, gefeit war nicht Ungaretti usw. usw. Sie alle scheinen sich ja allen Ernstes von der faschistischen Bewegung eine Befreiung erwartet zu haben, ganz ebenso wie Louis Aragon die Bestialitäten des Stalinismus bis lange lange für den Ausdruck einer menschlich emanzipativen und praktisch gewordenen Utopie gehalten zu haben scheint. Man muß sich doch ernstlich fragen, was diese Männer, die ästhetisch zu den allergrößten gehören, die das späte 19. und das 20. Jahrhundert hervorgebracht haben, derart in Bann schlug; ich glaube nicht, daß man weiterkommt, wenn mit Tabuisierung reagiert wird; auch Schuld, vor allem als Variante auf Erbschuld, führt hier nicht weiter und schon gar nicht zur Freiheit. Ganz sicher hatte Walter Benjamin recht, wenn er im Hitlerfaschismus n i c h t die Rückkehr zu einer mythisch fundierten Welt und zur neuen Aufgehobenheit sah, sondern die getarnte „Spiel“art eines besonders perfiden Kapitalismus – er hat ja schon in Hinsicht auf die Folgen recht; denn, worauf Syberberg immer wieder hinwies, ist der Hitlerfaschismus letztlich der Besen gewesen, der als Unrat alles wegfegte, was einer ungehinderten Ausbreitung des Kapitalismus noch im Weg stand; auch hier gilt Nietzsches fast schmerzhaft klarsichtiges „Es gibt keine perfidere Art, einer Sache zu schaden, als sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen zu verteidigen“ – wobei bei den Faschisten noch hinzukommt, daß ihre „Köpfe“ sehr wahrscheinlich von dem, was sie taten, überzeugt gewesen sind und gar nicht begriffen, wem sie in Wirklichkeit zu-agierten; die meisten ihrer politischen „Köpfe“ waren borniert und dumm, sowie machthungrig; wahrscheinlich alles zusammen zugleich.
So frage ich mich jetzt, wie denn die konservative Positionierung, deren Reiz ich mehr schmecke als tatsächlich habe, eigentlich praktisch aussehen soll; ob sie nicht, um ihrer selbst und vor allem der Menschlichkeit willen, Glasperlenspiel b l e i b e n muß; Jüngers in Heliopolis vorgeführtes Elite-Modell funktioniert ja tatsächlich nur in einem Raum, der sich nicht um Krankenversicherungen, Straßenbeleuchtung und Altersheime kümmern muß, funktioniert als eine n e b e n der Alltagswirklichkeit einher-existierende Gegen-Wirklichkeit, die ungefähr von der gleichen Art ist wie ein Versprechen auf himmlisches Leben und die nicht von ungefähr nur vermittels einer Raumfahrt (i.e. Himmelfahrt!) erreicht wird. Ein Mönchisches hängt daran, das zudem über genügend finanzielle Mittel verfügen muß, um nicht seinerseits von realen gesellschaftlichen Prozessen, also von Problemen, durchzogen zu werden – offen deshalb in der Tat nur Eliten, die ja jemand aussuchen muß. Wer sollte das sein? Plötzlich öffnet sich der Kyffhäuser neu – und da kommen eben ungute, verfälschbare Geister heraus und/oder solche, die verfälscht längst s i n d oder es immer schon waren. Man kommt dann nicht mehr um eine Eschatologie herum, die, wenn sie praktisch wurde, nahezu regelhaft barbarisches Unheil mit sich gebracht hat. Auf der Gegenseite aber steht Nivellierung, steht der Mensch als Funktion und zu Funktionierendes, als transzendenzlose Konsumtionsmaschine, deren Werte entsprechend umjustierbar, jederzeit umjustierbar sind und dessen Gründe letztlich in der Luft hängen, so, wie in der heimatlosesten aller Nationen, in den USA, der Arbeitsprozeß eine Flexibilität alleine des Ortes verlangt, die Wurzeln gar nicht mehr erlaubt, und eine Konformität, deren entsetzlich seelenloser Ausdruck der normierte Vorgarten jeder Kleinstadt im Mittelwesten ist. Bei uns ist es die immergleiche Konformität der Einkaufszentren und Bahnhöfe, der immergleichen rötlichen Bepflasterung der Einkaufsstraßen, und ist es das Glas der Malls.
Das alles geht mir durch den Kopf, der, mir ganz unversehens, mit Botho Strauss, mit Jünger, auch mit Handke sympathisiert und denkt – etwas, das ich, als ich „aufbrach“, nun wirklich nicht im Sinn hatte. Wenn Sie wollen, können Sie mit einigem Recht sagen, daß ich darüber verwirrt sei und ein bißchen hilflos herumrudere. Interessant dabei, daß sich diese Entwicklung in mir scharf erst auszuprägen begann, nachdem – oder i n d e m? – ich Gedichte zu schreiben anfing. Ich beobachte das ziemlich genau, will mir da keinerlei – bzw. so wenig wie möglich – Unbewußtes durchgehen lassen. Jeder Schritt, jede Zeile, die ich jetzt schreibe, geht über einen ganz ungesicherten Boden, einen heiklen Boden, einen ziemlich dünnen Boden wahrscheinlich; als ich noch emanzipativ-überzeugt war, ging es sich leichter, und ich hatte immer das Gefühl, auf der „richtigen“ Seite zu stehen. Das hat sich definitiv geändert; ich weiß jetzt nicht mehr, was diese richtige Seite ist.
Wenn mein Fuß es zuläßt, will ich in dieser Woche auf vielen Spaziergängen darüber nachsinnen, und, wie >>>> Fichte tat, darüber nachsinnen, wenn ich aufs Meer schaue, und wenn ich meine Familie ansehe. K e i n e Alternative, das scheint mir allerdings gewiß zu sein, ist irgend ein Nationalismus, irgend eine Verbindung „alter“ Werte mit der Nation, in die man hineingeboren ist; allerdings mit dem kulturellen Feld, aus dem man stammt, bei uns also die nahe Umschlingung der Abend- und Morgenländer – so ziemlich das Gegenteil des starr abgebundenen Zements, den die als Folge des Hitlerfaschismus erwachsene NATO repräsentiert, ihrem heimlichen Paten. Vielmehr ist auf Durchmischung, auf Mischlinge zu setzen, so, wie es alle Kunst i m m e r tat, auf die gegenseitige Befruchtung durch das jeweils Fremde. Auf liebevolle Neugier, nicht auf die Starrheit des Eigenen, von dem man so gut wie nie weiß, was es eigentlich ist und woher es stammt.