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tessiner beinhaus-wandbild. 17. Jahrhundert
In weichem lockendunkel fällt das haar ihm,
des halben mannes welkenmatte, über beide schultern
hin. weit fällt das kunsthaar, formale wie narzißtische
allonge, den rücken runter. ein feines stöffchen
trägt er da. der halberledigte cavalliere. Doch ist
sein leib nur obenrum so hübschlich angetan.
da hilft kein flotter tänzelschritt. die pure becken-
schaufel ist zu sehn, auch weiter abwärts nichts
als nackter knochen. und stützt sich lässig, dieser
signor scheide- oder schneidewelt, auf sensen-
attribut, dem tut kein fuß noch schwanz mehr weh:
melancholie ist schon im blick; im blick zurück.
„Am Klaviergarten“ verkündete der Lautsprecher. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich und cellini stieg ein. Man konnte, obwohl genügend Licht war, nicht wirklich erkennen ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Für eine Frau wirkte seine Kleidung zu androgyn und für einen Mann viel zu feminin. Ich fühlte mich an ein Denkmal irgendwo im Süden Deutschlands erinnert, das dort in der Nähe eines Rathauses steht. Von vorn hatte man den Eindruck eines jungen Landsknechts aus dem dreißigjährigen Krieg, dem das Tragen einer Muskete vielleicht manchmal zu schwer wurde. Betrachtete man cellini von der Seite wirkte ihr oder sein Körper zartgliedrig, fast epheben, wie bei einer jungen Frau, die noch nicht geboren hat. Und von hinten zeigten mir sein Wams und die enge, anliegende Hose schmale Schultern, einen grazilen Rücken, einen runden Po, nicht zu magere Schenkel und wohlgestaltete Beine, die an eine junge Reiterin oder an einen physisch noch nicht ganz ausgebildeten Leichtathleten denken liessen.
Cellinis ganzer Leib, eingehüllt in Brokat und Samt, scheint wie die weibliche Imitation eines jungen Mannes, der, sehnsüchtig und ohne Scham, über sein wahres Geschlecht täuschen will. Dürer, Caravaggio und Rembrandt fallen mir ein und natürlich Benvenutos Salzfass. Über Perseus lasst mich später, dann reden, wenn Cellini Dunkles offenbart. Oder, auch das kommt mir in Sinn, dass er ausschaut wie eine junge schöne Frau, die sich allzu gern männlich formt. Es ist diese Uneindeutigkeit des Geschlechts, die mich aus der Lektüre reißt
Ich las gerade, da cellini den Bus betrat, Gedichte von Thomas Kling und parallel einen Aufsatz von Werner Krauss: „ Die Ohnmacht der Wörterbücher“, als mir nun ganz und endlich, die Erscheinung, die Persona cellini, durch ihren warmen Blick, ihren herzlichen Gruß die Konzentration stahl. Und wer nun denkt cellini sei ein Orlandosurrogat, denkt zu kurz. Mit Orlando teilt er nur die Fähigkeit sich in den Zeiten zu erneuern. Cellini hat auf jeden von uns eine andere Ausstrahlung. Manche Tage sehe ich eine Verkörperung von >>>IHR, Artemis, in ihm, die nun älter geworden, noch immer leuchten die Augen blau, in cellini mir entgegentritt. Sicut cervus! Und der Hirsch schreit.. Er/sie ist für mich ein lebendiges Personaldiorama, in dem sich die Insassen des Busses selbst und cellini fluidierend anders, je nach Bedürfnis, sehen und erfahren können. Das ist eine Seite seines Wesens, die vielleicht nur ich wahrnehme. ANH , Bruno Lampe, montgelas, Lutz Hesse, Prunier oder der verschwundene Katanga werden ihn, da bin ich fast sicher, auf eine andere Weise empfinden und an Cellini Eigenheiten entdecken, die mir verborgen bleiben müssen. Eine andere Seite cellinis, seine wichtigste, ist die, dass er, unabhängig von uns, im welchen Geschlecht es auch sein mag, frei und selbstbestimmt lebt. .Oft sehe ich in Benvenuto eine Frau, in der sich alle Frauen, die ich liebte oder noch liebe, spiegeln. Ich weiß, das ist falsch und einseitig. Das macht mit mir die „litauische Krankheit“, sie verengt den Blick auf das rein Physische und seine Bewegung. Statt Benvenuto, verzeih cellini, erkenne ich nur R., die auch anders heißen könnte.
„das bildbeil erhoben und schneit ins bildholz rein sprachhaus buchkammer
aus denen flammen schlagen aus denen fremde aschenseiten auferstehn
wie projektile atmende kurzlebige durchsichtige sprachen. das sind geschwinde
schatten dicht flammender membran, flammengliedmaßen, die sich strecken.
fallender schnee. schrift ist durch einen schneesturm waten ich höre mein keu-
chn, stimme im stiemen im brausen das angegriffene ohr mit dem das hören
erst erschrieben werden muss. polternde asche johlender schnee der durch die
nächte fällt. die mitbrüder kopieren der kopist bin ich die sprache ist die schwe-
ster ich gehe mit der schweren schwester ins bett in dem sie manchmal wie
ein brett liegt heiliger Georg hilf warum stellt du dich taub“.