5.39 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Was >>>> Sirenomele hier schreibt, ist ausgesprochen bedenkenswert; ich werde dazu nachher eine Note verfassen und in >>>> die Werkstatt als Allgemeinbemerkung stellen. Wie gut dieses virtuelle Seminar jetzt funktioniert! Wobei es mir ein wenig leid tut, >>>> sturznest’s Kommentar gelöscht zu haben; aber es kam da ein Ton des Gefrozzels hinein, den ich draußenhalten möchte, weil ich aus der vierjährigen Erfahrung mit Der Dschungel weiß, wie schnell das in eine Kampfsituation ausartet, in der auch weit unter die Gürtellinie geschlagen wird. Sowas kann Die Dschungel in allen anderen Rubriken austragen, nicht aber in der Werkstatt, für deren Teilnehmer ich Sorgfaltspflicht habe. Nicht alle sind Ledernacken wie ich, nicht alle haben dieses Potential zur sofortigen und scharfen Gegenaggression; die Werkstatt soll auch jungen empfindsamen Autoren offenstehen, die sich möglicherweise getroffen zurückziehen könnten; es ist schon schwer genug, Textkritik auszuhalten, weil der Text bei gerade jungen Autoren immer auch noch Identität begründet, bzw. sucht.
Habe bis 24 Uhr gearbeitet, dann war ich pünktlich im Bett und bin pünktlich auf. Soweit sehr gut. Gleich, nach der ersten Sichtung Der Dschungel, werde ich an die BAMBERGER ELEGIEN gehen, Nr. 7 & 8, um sie noch einmal abzuschmecken und um letzte Rhythmus-Fehler zu beheben. Es wär schön, könnte ich noch heute die einstweiligen letzten Fassungen, Vor-Lektorats-Fassungen, an >>>> L. schicken.
Seidl von der Sonntagszeitung teilte gestern noch mit, man habe mein Zagrosek-Portrait verschieben müssen, aus Platzgründen, „wir waren so voll!“ „Aber ihr kippt es nicht?“ „Aber nein!“ Wiederum von >>>> dielmann nur Schweigen. Mein Freund Leukert rief an: „Hast du etwas von Dielmann gehört?“ Auch er ist ein Projekt mit ihm angegangen, auch er hört nichts mehr, schon seit einem halben Jahr jetzt. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, Strukturen zu erklären, beide Hände ins warme Feuer der Menschlichkeit gelegt, sagen wir: an den Ofen der Menschlichkeit.
Dann ist mein Sohn verhaltensauffällig in der Schule, spielt sich vor, spielt den Kaspar, lenkt ab, ist unaufmerksam. Er ist ein sehr guter Schüler, nach wie vor, darauf ruht er sich aus und agiert vitalistisch-wild. Letztres hat er deutlich von mir; als ich in der zweiten Klasse war, wurde von mir, der Auffälligkeiten wegen, ein psychologisches Gutachten erstellt, dessen Ergebnis soziale Imkompetenz war, Hochbegabung und soziale Inkompetenz. Ich krieg nun eine Ahnung, daß sich sowas vererbt. Nur war ich, anders als mein Junge, ein schlechter Schüler. Daß er ein guter werde, dafür hab ich, seit er zwei gewesen ist, nachdrücklich gesorgt, daß man ihm nichts wegen der Leistungen anhaben und daß er nicht an den Rand gedrückt kann, wie das damals mir geschah. Das ist erreicht, nun muß ich ihn aber auch anderswie disziplinieren, wobei die Disziplin aus ihm selbst kommen muß; ein bißchen Zwang wird sich zwar nicht umgehen lassen, aber der sollte den Geschmack von Training haben, meinethalben auch von Exerzitie, nicht aber von autoritärem Gehabe. Ein erstes wirkliches Erziehungsproblem. Ich will ja jegliches „Das tut man nicht“ vermeiden.
Nach der siebten und achten Elegie fang ich mit der Zweiten Vorlesung an.
Mit >>>> Jörg Sundermeier vom Verbrecher-Verlag telefoniert. Nach dem Ende der nächsten Woche gehen wir was trinken. Und zweimal direkt hintereinander mein Mobilchen in der Arbeitswohnung liegenlassen: als wollte sich mein Unbewußtes unerreichbar machen.
11.34 Uhr:
BAMBERGER ELEGIEN 7 & 8. Durchgesehen. Es gibt auf den 22 Seiten acht heikle Stellen, bei denen der fünfte Versfuß kein Daktylos ist. Das muß ich ändern. Ansonsten eine sehr heikle Zeile – heikel, weil ich sie nicht einfach zurchtrhythmisieren kann, denn es ist ein Bloch-Zitat; heikel, weil sich, wenn ich’s behalte, die gesamte rhythmische Struktur nach hinten hin verschiebt. Das also guck ich mir nach dem Mittagsschlaf an, der nun ansteht.
14.56 Uhr:
[Beethoven, Fünftes Klavierkonzert; spannend: Schmidt-Isserstedt und Wilhelm Backhaus.]
Extrem tiefer Mittagsschlaf. Dann kam die Geliebte übers Mobilchen durch, ob ich schnell einen Kaffee mit ihr trinken möge. Mochte ich. Zuvor den ersten Fehler in den Elegien beiseitegeräumt. Es geht bei allen acht Fehlern darum, daß in einem Hexameter auf jeden Fall der fünfte Fuß daktylisch sein muß; aber ich seh grad, das hab ich Ihnen vorhin schon erklärt.
Vom >>>> Turmsegler eine Mail: er, Benjamin Stein, habe eine Kritik an >>>> meiner Antrittsvorlesung geschrieben und >>>> öffentlich eingestellt. Er hoffe, mir nicht persönlich zu nahe getreten zu sein (da er in der Tat an einzwei Stellen persönlich argumentiert). Darauf schrieb ich ihm eben folgendes:
das ist überhaupt kein Problem, zumal ich ohnedies damit gerechnet habe und weiterhin damit rechne, daß mein Wiederbeharren auf einem Unterschied von E und U auf Widerstand stoßen wird; wäre dem anders, müßte ich gar nicht wiederbeharren.
Ich werde auf Ihre Kritik entgegnen und werde das mit Genauigkeit beim Turmsegler tun, sowie Ihre Kritik und meine Entgegnung mit Der Dschungel verlinken. Daß ich dazu Ihrer Umstände halber einige Zeit habe, ist mir momentan recht.
Und jetzt arbeite ich an den Elegie-Fehlern weiter, also an ihrer Behebung. Fisselarbeit.
zu den speziellen zusammenhängen … von hochbegabung und empfindlichkeiten
kann ich nur empfehlen … brackmann:
„jenseits der norm – hochbegabt und
hoch sensibel?“
viele hochbegabte müssen
offenbar soziale mechanismen
mühsam erlernen.
@rostschleifer. Oder: Nicht. Dann tun sie aber gut daran, sich rechtzeitig Autorität zu verschaffen.
[Geradezu ein Lehrstück über Hochbegabung sind die Granada-TV-Verfilmungen der >>>> Sherlock-Holmes-Stories mit Jeremy Brett als Holmes. >>>> Zeus Weinstein kommentiert sie so: „Er präsentiert ihn uns in zwanzig Episoden: anmaßend, exzentrisch und oft unausstehlich.“ Und zitiert Brett in einem Interview: „Wir alle sind doch Leute mit einem tadellosen Benehmen, nicht wahr? Und was habe ich am meisten genossen? Himmelherrgott, schlicht patzig zu sein! Ich hab’s echt genossen! (…) Einfach mit dem ganzen Gelaber Schluß zu machen. Ich genoß die Augenblicke, wenn Holmes abmarschierte, ohne auch nur ‚Auf Wiedersehen‘ zu sagen. Er hatte einfach nicht die Zeit, auf das höfliche Getue einzugehen…“]</sub