Heidelberger Vorlesung I (1). Arbeit in der sterbenden Schriftkultur ist Arbeit am Sterben der Schriftkultur.

Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich meine, daß derjenige, der ein grundlegendes Prinzip vorauseilend aufstellt, derjenige sein muß, der das Beispiel dafür liefert,

schreibt >>>> Ezra Pound in A Stray Document, einer kleinen Anweisung für Dichter. In diesem seinen Sinn hat sich das, was ich im Folgenden als Grundzüge einer >>>> nach-postmodernen Li­teraturästhetik skizzieren möchte, aus den Entwicklungen meiner poetischen Arbeit entwi­ckelt. Es soll aber nicht nur Gültigkeit auf meine eigene Arbeit haben, sondern die Grundzü­ge einer allgemeinen nach-postmodernen Poetik skizzieren, wie ich sie für unabdingbar hal­te, wenn vor allem die Prosa-Dichtung nicht restlos den entertainenden Bach hinabgehn und Literatur eine Bedeutung wiedererringen soll, die sie in den letzten drei Jahrzehnten verspielt hat und die über den puren Zeitvertreib einer zunehmend geringeren Leserschaft oder die Bedürfnisse eines, gesellschaftspolitisch gesehen, Orchideenstudiums hinausgeht. Dabei geht es nicht um die kulturelle Leitfunktion, wohl aber um eine Leitfunktion zusammen mit den anderen Künsten und Kunst statt Unterhaltung überhaupt.
Mein Anspruch ist ein hybrider. Doch können Sie ja in Ihren Erwägungen meiner Argumente andere ästhetische Position mit einbeziehen und gegen die meinen auf- oder abwägen. Wahr­heitsfindung wie Wahrheitsschaffung ersteht im Wechselspiel und wird um so produktiver, je ernster es die jeweiligen Positionen mit ihren Haltungen meinen. Deswegen kann ein solcher Größenwahn erkenntnisfördernd sein. Haltungen, die sich selber von vorneherein relativie­ren, führen in aller Regel nicht weiter, sondern schwächen die Kraft ihrer Argumente zuguns­ten des Gegners.

Ich spreche, meine Damen und Herren, >>>> pathetisch. Ich spreche von Dichtung, nicht von Schriftstellerei. Es ist wichtig, auf diesem Unterschied wiederzubeharren, und poche darauf, daß es einen Unterschied zwischen den sogenannten E- und U-Künsten gibt, einen Unter­schied der Tiefe, der Bedeutung, auch der Härte und des Risikos. Mit dieser Meinung stehe ich diametral gegen den allgemeinen Trend. Selbstverständlich sind auch aus der Pop-Kultur Kunstwerke hervorgegangen; die aber würde ich unterdessen den E-Künsten zurechnen. Kunst ist übrigens immer E. U-Künste lassen sich nur im Plural nennen. Subsumieren wir die großen U-Kunstwerke weiter unter U, geht ihre widerständige, progressive Kraft unter der Macht der Vermarktbarkeit und des Labelings in die Knie.
Unter >>>> Ästhetik verstehe ich hier die Ausdruckshaltung der vor allem literarischen Künste und die möglichen Gebote, aufgrund derer sie sich stringent formen. Selbstverständlich ist Strin­genz eine heikle Kategorie, zumal in einem normativen Auftritt wie dem meinen. Es kann auch gegenwärtig noch >>>> ein Akt des Widerstandes sein, Stringenzen zu durchbrechen. Solche Durchbrüche sind aber nicht systematisierbar, vor allem verlieren sie, wenn eine Ästhetik sie verlangt, ihre Kraft; ich will ihre Möglichkeit hier nicht mitformulieren, weil das dem Me­chanismus des hochkapitalistischen Marktes entspräche, sich ihm Fremdes, ja Feindliches, als Äquivalentes einzuverleiben und dadurch seiner Sprengkraft zu berauben. Verletzungen ästhetischer Normen sind ästhetische Terror-Anschläge; wird der Terrorismus zur prinzipiel­len Art der Kriegführung, werden sie ihrerseits Norm und verlieren dadurch ihr Skandalöses.

So etwas ist mit den Bewegungen geschehen, die als Sprachentschlackung zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Literaturen revolutionierten oder wenigstens reformieren wollten. Heute, in der Gegenwart eines so genannten anything goes, stehen wir deshalb in einer bizarren Situa­tion. Alles das, was die ideologischen und die sie verschleiernden sprachlichen Verkrustun­gen abschlagen wollte – das falsche Pathos; ich betone „falsche“; die Bigotterie, die Selbst­feier – und was an die Leerstellen des >>>> Kahlschlags eine lebendige, dem Alltag, also der Le­benswirklichkeit der Leser zugewandte Umgangssprache setzen wollte, hat sich derart den Interessen eines eben diese Lebenswirklichkeit bestimmenden Marktes zugeneigt, daß, was einmal, auch und gerade in den Endsechzigern, progressiv gewesen ist, regressiv geworden ist. Wer heute noch meint, möglichst profan schreiben zu müssen, trägt nicht Eulen nach Athen, sondern Kofferradios in Diskotheken, bzw. Clubs. Da schaltet man sie an und sucht, indes der Techno pulst, nach Sendern.
Die Dynamik dessen, was Adorno und Horkheimer >>>> „Dialektik der Aufklärung“ nannten, durchdringt auch die Sprachentwicklung, so daß es wohl sein kann, daß der patheti­sche Ausdruck, der nicht profaniert und profanieren nicht länger will, die rebellische Funktion der Sprachentstauber übernommen hat und nunmehr gerade dasjenige für Wider­stand steht, was vor vierzig, bzw. neunzig Jahren plakativste Affirmation gewesen wäre. Hät­te Ezra Pound seine „Frauen von Trachis“ wie ein Hölderlin nachgedichtet, wäre das Stück im Faltenwurf bürgerlich-repräsentativer Roben erstickt und hätte keinerlei Kraft entfaltet; schriebe es aber heute einer im laxen Jargon des Alltags, es wäre ganz ebenso verkrustet. „Verkrustung“ ist heute nicht mehr dasjenige, was mit hohlem hohen Ton repräsentiert, son­dern was sich umstandslos an den Konsumenten bringen läßt – wozu es die Allgemeinver­ständlichkeit braucht, das Verstoffwechselbare und Flüchtige eines Artikels, der sich für – um es in der bezeichnenderweise US-amerikanisierten Sprache dieses Marktes auszudrücken – >>>> product placement eignet. Denn die repräsentative Funktion der Kunst ist nach wie vor in Kraft; nur dient sie nicht länger Eliten oder gar Oligarchen als Spiegel, sondern der de­mokratischen Menge; aus der ermittelt der Vermittler ein arithmetisches Mittelideal und schmirgelt die Kunst darauf ab. Auf diese Weise entsteht der gewollte, kalkulierte Blockbus­ter, für den man auf dem Buchmarkt den Begriff Bestseller hat; im Fachjargon heißen solche Bücher „Stapelbücher“. Und für „Vermittler“ dürfen Sie getrost „Verkäufer“ sagen.
Wenn man nicht, wie es aber den Anschein hat, die Kategorie des Widerstands als eines grundwirkenden Elements aller Kunst anheimgeben will, bleibt den Künsten deshalb gar nichts anderes übrig, als sich auf das deutliche Risiko ihres Untergangs hin gegen leichte Konsumierbarkeit zu stemmen. So heißt es in des großen >>>> Lezama Limas Aufsatz über den amerikanischen – womit er „südamerikanischen“ und außerdem einen modernen meint – Ba­rock:

>>>> Nur das Schwierige ist anregend; nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten. <<<<

Das steht querköpfig gegen die Doktrin der vorgeblichen Einfachheit und schnellen funktiona­len Verfügbarkeit, die der Markt und mit ihm, wie es aussieht, eine letzte Leserschaft von Dichtung derzeit fordern. Deshalb ist das Risiko des Unterganges objektiv. Doch ist es das eben auch dort, wo sich Dichter den Markt-Usancen anpassen, nämlich weil damit ihr eigent­lich-Literarisches verschwindet und man eine Literatur, die eher zur Grundlage für Verfil­mungen herhalten will, auf keinen Fall mehr Dichtung nennen kann – eine solche besönne sich nämlich auf das alleine ihr eigene.
Das stimmt freilich nicht für >>>> Literatur insgesamt, deren Begriff ja erst einmal nichts anderes um­faßt, als was mit Lettern zu tun hat. Diese stehen für Laute, die wiederum Bedeutungen tra­gen, und zwar durchaus distinkte, das heißt jeweils genau definierte Bedeutungen. Einer sol­chen konkreten Definition entspricht auf der Autorenseite eine Absicht; damit ist diese, a l s Definition, funktional. Aber, was ich sagte, stimmt für die Dichtung.

Der >>>> wirkungsästhetische Moment meiner Positionen richtet sich gegen Funktionalität, nicht gegen ästhetische Wirkung. Bitte bedenken Sie das. Die Forderung nach Funktionalität ent­spricht dem Interesse des Marktes, und zwar, weil Kunst-als-Funktion kalkulierbar ist. Da­mit verliert sie aber an Freiheit, die ich lieber >>>> Möglichkeitenpotentiale nenne. Eine ästheti­sche Wirkung hingegen kann auch nicht gewollt, kann eine nicht-kalkulierte und nicht kalku­lierbare sein; das setzt sie unter Umständen in schroffen, manchmal existentiellen Gegensatz zu gerade opportunen Ästhetiken. Das ist nichts Neues, wir kennen das in allen Kunstberei­chen aus der Geschichte.
Gegenwärtig werden Leser nicht als Empfänger, bzw. im Wege der Übertragung wirkende Sender auf Wirkungen betrachtet, sondern ausgesprochen nachdrücklich und ausschließlich als Käufer von Ware definiert und behandelt. Das hat vermittels des Begriffes der Zielgruppe auch in Denken und Verhalten von Autoren Einzug gehalten. Schon die Frage FÜR WEN SCHREIBE ICH? füttert die funktionalistischen Teufel und streicht links und rechts alles weg, was nicht >>>> tautologisch wäre. Tautologisch meint, daß ein solcher Autor – oder sein Verleger, oder der Rezensent – wissen zu können meint nicht nur, was einem Leser zu lesen zumutbar sei, sondern auch, was eine spezielle, also wiederum definierte – kalkulierte – Gruppe über­haupt aufzufassen vermöge und was über ihren Horizont gehe, und wieviele Leser aus wel­chen Schichten wieviel und was zu lesen vermöchten. Dieses Konstrukt vordefinierter Ver­faßtheiten des lesenden Menschen chronifiziert sich und führt, quasi als self fulfilling pro­phecy, den Zustand objektiv herbei, der zur Zeit der Definition möglicherweise noch offen gewesen ist. Das ist kein mythischer, sondern ein objektiv materialer Prozeß der Bedürfniser­hebung und Bedürfniserzeugung; ein Entrinnen wird dann immer unwahrscheinlicher, wenn die Dichter selbst eine Dynamik mit antreiben, die allein im Interesse kalkulierbaren Absat­zes liegt und eigentlich nicht ihre, sondern – und da verständlicherweise – die Sache von Li­teraturvermittlern, bzw. Verlegern ist. Auf der Autorenseite mag dabei ökonomisches Interes­se im Vordergrund stehen, sagen wir: finanzielle Not; es mag auch ein Interesse nach schnel­lem Ruhm antreiben oder die Überzeugung, eine moralische, bzw. politische Sendung zu ha­ben – also Missionarstum — mit Dichtung hat all das wenig zu tun.

Die schaut auf etwas anderes, hört aus etwas Anderem heraus; soweit sie Wirkung will, will sie die Wirkung ihres Gegenstandes, nicht etwa die der Person, die ihn formt. Urheberschaft spielt hier außer einer narzißtischen gar keine Rolle. Vielmehr registriert Dichtung H ö f e, Bedeutungshöfe, und setzt sie in künstlerische Bewegung.
Bedeutungshöfe sind ungefähre und musikalischen, nicht technischen Welten verwandt. Sie bleiben dem, der sie wahrnehmen kann, ungefähr und müssen ungefähr bleiben. Schon deshalb läßt es sich mit ihnen nicht kalkulieren, sie verlören ihren Halo sonst, diesen Mond­hof des Bedeuteten, der sie derart strahlen oder erschimmern läßt. Das Phänomen ist durch­aus jenen Wahrnehmungen vergleichbar, die wir am Rande unseres physischen Gesichtsfel­des haben: sie sind unscharf, aber – als Ausdruck einer >>>> evolutionsbiologisch entstandenen or­ganischen Warnapparatur – unmittelbarer und deshalb schärfer, als wenn wir uns direkt auf etwas konzentrieren. Bitte halten Sie für meine Poetologie den Begriff „unscharfe Schärfe“ ebenso im Gedächtnis wie später den des „raumlosen Raumes“. Unscharf aufs schärfste spürt ein Kämpfer den Angreifer im Rücken – und dies eben nicht nur, , wenn er mit dem Wind angreift und nach Knoblauch riecht – wie Morgan „Azeem“ Freeman das in Reynolds >>>> „Robin Hood – Prince of Thieves“ gegenüber >>>> Locksley richtig bemerkt. Sie kennen das selbst: Sie müssen gar nicht hinschauen, sich gar nicht umdrehen, um zu bemerken, daß jemand – oder ein Etwas – in den Raum tritt, der bzw. das mit Ihnen etwas zu schaffen hat. Genau das bewirkt in der Dichtung ein Bedeutungshof.

Der semantische H o f ist der Kern jeder Dichtung, nicht etwa wäre es die präzise Umset­zung einer Absicht, also nicht Intentionalität. Freilich bedeutet das nicht, daß ein Dichter etwa keine Absichten haben dürfte, ob nun aufklärerische, klassenkämpferische, affirmative, was auch immer; es bedeutet aber, daß nicht die Umsetzung dieser Absichten dasjenige ist, was einen Text zur Dichtung macht; die Absicht ist – angesichts des Kunstcharacters – viel­mehr eine marginale, sagen wir menschliche Draufgabe. Deshalb ist es zum einen ebenso ab­surd, wenn Dichter für ihre moralischen Haltungen ausgezeichnet werden, wie verständlich wird, weshalb sehr wohl auch aus unmenschlichen, faschistoiden, ja faschistischen Zusam­menhängen große Kunstwerke zustandekommen können. Das entsetzlichste und zugleich faszinierendste Beispiel der jüngsten Vergangenheit stellt hier wahrscheinlich das Werk >>>> Louis-Ferdinand Célines dar. Zugleich wird verständlich, daß es weder den Werken >>>> Louis Aragons noch >>>> D’Annunzios noch Ezra Pounds noch meinethalben, aber das ist schon unge­nau und letztlich eine gefärbte Behauptung, >>>> Ernst Jüngers irgend einen Abbruch tut, wenn und sofern diese Autoren mit dem Doktrinären sympathisiert haben. Kunst entsteht nicht aus Gesinnung und wahrscheinlich ebenso wenig aus Gründen einer moralischen Wahrheit. Im­merhin scheint auch der Umkehrschluß nicht zwingend zu sein; das beruhigt; wenn auch bei auffällig vielen der Großen eine Tendenz zu beobachten ist, vor allem politischen Verführungen zu erliegen, die der Durchsetzung ihres Werkes förderlich zu sein scheinen… und zwar so sehr, daß ich manchmal den Verdacht habe, den guten Guten habe bloß keine geeignete Gelegenheit die Hand gereicht.

So ungefähr das Wort „Bedeutungshof“ sowohl ist wie klingt: daß die Arbeit mit solchen Hö­fen dennoch ein präzises Verfahren darstellen kann, soll in meinen drei Vorlesungen mit her­ausgearbeitet werden. Es besteht aus einer Mischung genauen und flüchtigen Hinschauens, deduktiven wie analogen Denkens und Nachspürens, besteht aus Präzision und Inspiration, welche letztere ich den poetischen Instinkt zu nennen vorziehen. Instinkt deshalb, weil ich betonen möchte, daß es keineswegs um etwas sogenannt Esoterisches oder verschwiemelte Gefühlslagen geht, sondern eine Veranlagung meint, bzw., hirnphysiologisch betrachtet, um etwas, das das Gehirn immer schon weiß, bevor es überhaupt zu arbeiten beginnt. Das ent­spricht der gegenwärtigen >>>> Hirnforschung.
Die poetische Arbeit umkreist das Phänomen. Was jeweils genau von einem solchen Hof er­faßt ist, weiß der Dichter, wenn er beginnt, oft noch gar nicht; aber er berührt es schon, weil er es als Hof schimmern oder sogar schon leuchten gesehen hat und weil ihn das anlockt.

Semantische Höfe können >>>> Halos um einzelne Wörter sein, sie sind aber viel öfter, und dies vor allem in der erzählenden Prosa, Halos um Sätze und um Absätze, strahlen weit stärker aus deren Rhythmik als von ihren tatsächlichen, d.h. funktionalen Bedeutungen ab. >>>> Walter Benjamin hatte dafür, auf ein einzelnes Wort, eine religionstheoretische, wenn Sie so wollen, mythische Erklärung, die ich immer wieder gerne herbeiziehe, um metaphorisch klarzuma­chen, was hier gemeint ist.
In seiner frühen Schrift >>>> „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ steht der markante Satz

Jede Sprache teilt sich selbst mit.

Worüber man sehr ins Grübeln kommen kann, weil der Satz das Bedeutende vom Bedeuteten erst einmal abzuschneiden scheint – unter der Voraussetzung, daß ein Wort tatsachlich seinen definierten Inhalt und n u r diesen bedeutet. Diesen Zusammenhang kehrt Benjamin gerade­zu um und scheidet schließlich, wund an der funktionalen Wirklichkeit, zwischen dem Na­mens- und dem Begriffsanteil eines Wortes. Der Name ist das, was ein Wort i s t; der Begriff das, was ein Wort bezeichnen soll. Der Begriff stutzt das Wort um seinen wesentlichen, sich der Verfügbarkeit entziehenden Gehalt – letztlich aber um das, was das bezeichnete Ding selbst ist. Ausgedrückt in Benjamins religiöser Formulierung: Der Namensanteil ist der Name, den sich ein bezeichnetes – ewiges – Ding selbst gegeben hat; sein Sein. Der Begriffsanteil bezeichnet das, wozu wir ein Ding in unserem eigenen und/oder dem Interesse anderer benutzen. Er bezeichnet den Gebrauchswert, der – läßt man einmal Fetische beiseite – auf dem vollendeten kapitalistischen Markt mit seinem Tauschwert zusammenfällt. Fetische wären hier etwa labels, Markennamen usw. Der „neue Grass“ ist ein Fetisch, der „neue Handke“ usw.
Anders als Namen sind Begriffe Sklaven, bzw. Arbeitnehmer, die zu funktionieren haben, wie ihr Herr, bzw. Arbeitgeber und schließlich, wie der Konsument das will. Genauer: wie der Markt will, daß der Konsument es will, und wie er es erreicht, daß der es will. Andern­falls verlieren die Begriffe ihren Job.
Genau dieses Abhängigkeitsverhältnis ist kunstfremd. Eigentlich hatte es selbst zu höfischen und in absolutistischen Zeiten keine umfassende Geltung, auch wenn die Künste da weit stärker im Dienstverhältnis standen, als das auf ersten Blick heute der Fall ist.

Zum Bedeutungshof selbst und seinem Verhältnis zum Thema einer Dichtung gibt es eine sehr schöne Stelle bei Edgar Poe, nämlich in den Morden der Rue Morgue. Da sagt Dupin folgendes

>>>> „(…) and it is possible to make even Venus herself vanish from the firmament by a scrutiny too sustained, too concentrated, or too direct.“ <<<<

Das ist weit mehr eine poetische als naturwissenschaftliche Beobachtung und viel­leicht das Z e n t r u m allen poetischen Denkens; überdies hat es ebenfalls etwas mit Instinkt zu tun, hier dem detektivischen. Es ist zudem nicht nur physiologisch bestätigt, sondern läßt sich jederzeit ausprobieren. Aber zieht man als Dichter daraus seine Konsequenzen und zielt genau auf solche Höfe ab, anstelle auf die Referier­barkeit von plots, wird man oft kaum mehr verstanden. Man erfüllt Erwartungen nicht, und man erfüllt sie nicht, weil alle Erwartung unterdessen auf etwas gerichtet ist, das sich schwarz auf weiß nachhause trägen läßt, nicht aber auf ein darüber hin­ausgehendes Staunen und Staunen-wollen.
Das ist ein Virus, meine Damen und Herren. Es ist unter anderem ein Virus der Profanität, des etwas sofort Gebrauchen-können-müssen, letztlich der Kalkulierbarkeit von Erfahrung und Erkenntnis. Das bedeutet, daß immer das neu erkannt werden soll, was bereits erkannt worden ist. Es bedeutet, darauf wies Adorno bereits hin, den infiniten tautologischen Regreß. Der läßt uns die Wahrnehmung von Bedeutungshöfen und die Wahrnehmung eines wirken­den Ungefähren entweder abwehren oder verlernen und zumindest gering- sowie die konkre­te, konkretisierbare und handelbare Aussage unangemessen hochschätzen. Das nicht nur Be­gehren nach ihr, sondern die Forderung, daß sie und n u r sie es wert sei, sich um sie zu küm­mern, wird gerne als Forderung nach Konzentration auf etwas maskiert. Dabei wird verges­sen – und ich fürchte, es s o l l vergessen werden -, daß eine solche Form funktionaler Kon­zentration der Wahrnehmung poetischer Wahrheiten ganz zuwiderläuft, ja ihre Möglichkeit durchstreicht und letzten Endes Dichtung selbst eliminiert. Aus diesem Grund und m i t die­sem Grund wird Kindern und Jugendlichen seit Generationen das Verständnis für Dichtung vermittels eines halbgaren Interpretations-Wahns, der obendrein noch Grundlage für Beno­tungen darstellt, auf das furchtbarste ausgetrieben. Wer unter Ihnen hat n i c h t bis zum Kot­zen Kafka interpretieren müssen? Wer ehrlich ist, wird zugeben, daß keine Klassenarbeit, die zum Beispiel Kafka interpretieren sollte, jemals dazu geeignet gewesen wäre, einem Men­schen Kafkas Dichtung nahezubringen. Bei Gedichten verschärft sich diese Abschreckung noch.
Ich habe gewiß nichts gegen eine Anstrengung des Geistes. Literarwissenschaftliche Diszi­plinierung hilft Ihnen aber nur dann, wenn ihr eine L i e b e zum Gegenstand vorausgeht, die so groß ist, daß auch staubigste Analyseexerzizien ihr nichts mehr anhaben können. Allein in diesem Fall kann aus dem gymnasialen und später akademischen Staub etwas Organisches werden, das lebensfähig ist, und aus Ihnen eine gute Germanistin, einen guten Germanisten werden läßt – einen Dichter dann aber immer noch nicht. Keine Universität, kein Institut für Literatur und schon gar kein creative writing-Seminar kann das aus Ihnen machen. Einer der intensivsten lyrischen Poeten der Gegenwartsliteratur, >>>> Wolfgang Hilbig, war Werkeugma­cher. Liebe ist nicht lernbar, und übertragbar nur dann, wenn etwas da ist, auf das eine Über­tragung wirken kann. So, wie Sie, um sehen zu können, eine Hirnorganisation brauchen, die die vom Auge wahrgenommenen Signale auch verarbeitet. >>>> Das Auge allein reicht nicht.

Dieses gilt übrigens selbst dann, wenn man, wie ich es bin, der Überzeugung ist, daß es sich auch bei der Liebe letzten Endes um einen hirnphysiologischen, also chemisch-elektrischen und so auch beschreibbaren Prozeß handelt, der vollkommen den Gesetzen der Naturwissen­schaft gehorcht, so daß weder von Freiheit noch von Zufall in irgend einer schlüssigen Weise gesprochen werden kann. Denn auch solch einer Liebe gehen Initiationserlebnisse voraus – die Initiation entspricht dem, was das Gehirn immer schon vorher weiß und dem, was bei Kant die >>>> Grundkategorien der Anschauung sind. Wir haben uns unsere >>>> Initiationserlebnisse nicht ausgesucht, noch könnten wir sie uns aussuchen. Sie geschehen. Sie geschehen entweder in Form eines genetischen Erbes oder als Prägung oder als Ergebnis sozialer Erlebnisse oder aber als Mischung all dieser Faktoren, in je nach Kultur und Individuum unterschiedlichen Anteilen. Deshalb hatte Ernst Bloch so recht, als er im >>>> Geist der Utopie geschrieben hat, wer nach innen horche, der höre das Draußen. Was wir angeerbt bekommen, wovon wir geprägt werden und was uns sozial widerfährt, bestimmen nicht wir selbst. Wir können uns nicht einmal gegen Prägungen wehren, die wir als solche erkennen und ablehnen: wenn Sie an die späteren Reaktionsbildungen, d.h. nachträgliche Widerstandsformen, vergewaltigter Frauen, bzw. mißhandelter Kinder denken, wird Ihnen sofort klar, was ich meine. Es gibt kein Entrinnen. Traumabildung ist ebenso wenig wie die Bildung von Neigungen ein Ergebnis bewußter Prozesse. So läßt sich auch die Liebe zu einer Kunst oder gar die Fähigkeit, selber künstlerisch tätig zu werden, nicht durch Willen und schon gar nicht fremd-edukativ in Gang setzen, weder gymnasial noch akademisch.

In meinem Roman MEERE von 2003, bzw. in seiner letztgültigen Gestalt 2007, steht der Satz „Kunst ist Archäologie“. Vollständig lauten die drei zentralen Sätze:

>>>> Künstlerisch tätig sein, bedeutet zu graben, Vampire auszugraben. Kunst ist Archäologie. Die gefährlichsten Vampire sind die ältesten Gründe. <<<<

Wobei unter „Vampiren“, das ist metaphorisch wohl klar, sowohl Traumata verstanden wer­den, wie auch, das ist wichtig, überindividuelle, >>>> kollektiv-archetypische Zustände, sowohl Ängste und Begehren wie Lüste. Über letztere habe ich 2005 eine längere Erzählung veröf­fentlicht, die ich morgen nachmittag auf meiner ersten literarischen Lesung dieser Poetik-Dozentur vortragen möchte, weil sie mir paradigmatisch dafür zu sein scheint: >>>> Isabella Maria Vergana. Als ich sie begann, ja noch lange, während ich sie schrieb, war mir nicht bekannt, wohin mich die Entwicklung meiner Arbeit schließlich bringen würde, das heißt, daß es voll­kommen unmöglich gewesen wäre, sie vorher in ein Treatment zu fassen, das sich geeignet hätte, mögliche Lesegruppen als Ziel auszumachen. Vielmehr ist das Ergebnis, daß gerade diese Erzählung einige Leser zwar fasziniert, die meisten aber abstößt, zumindest verstört, obwohl ihnen allen sehr bewußt ist, bis zu welchem Maß hier die technischen Mittel be­herrscht sind. Die Handlung dieser Erzählung ist dabei von mir nicht geplant, geschweige gewollt gewesen, doch ließ es sich ihren Konsequenzen nicht ausweichen, ich hätte denn aus Gründen politischer >>>> Correctness etwas verfälschend weggebogen, das sich ganz narrativ-lo­gisch ergab. Im Fall der Vergana ist es eben gerade die Beherrschung der technischen Mittel gewesen, die die Erzählung nicht nur überhaupt erst möglich gemacht, sondern das, was da aus mir aufstieg, hatte aus mir aufsteigen lassen und es schließlich erzwang.

Eine solche Wirkung von Form läßt sich derjenigen eines Psychoanalytikers vergleichen, der, indem er als >>>> Spiegel fungiert, die Möglichkeit herstellt, Türen in die Tiefe zu öffnen. Was wir dabei herausgraben, ist oft unbewußt verschüttetes Erlebnis- und Material eines nicht zuge­lassenen Begehrens, das auf dem Wege des Verdrängens zu Traumatisierungen http://www.aufrecht.net/utu/trauma.html geführt hat. Einmal angenommen, daß der Dichter nicht ernstlich erkrankt ist, sondern seinerseits ein Spiegel eines Allgemeinen – er teilt mit den anderen bestimmte, sei es kulturell, sei es aus ei­ner Gruppenerfahrung heraus verdrängte Inhaltsmuster -, kann man sagen, daß er etwas wie­der ans Tageslicht holt, von dem seine Zeitgenossen – mehr oder minder unbewußt – gar nicht wollen, daß es ans Tageslicht geholt werde. Übrigens will auch er selber das – persönlich – nicht unbedingt; aber insoweit er „seiner Kunst“ folgt, wird er es zulassen müssen und das Hervorgeholte, um es irgendwie zu verarbeiten, also nicht mehr zu verdrängen, als Material seiner Darstellungen verwenden. Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Dichterin und den Dichter, sondern insgesamt für Künstler, deren Arbeit konkrete Aspekte hat. Es erklärt ebenfalls die allgemeine Abwehr, auf die solche Künstler oft stoßen, zumindest in ihrer eige­nen Zeit.

Künstlerischen Grundprozesse – ihr creativer, nichttechnischer, nicht gewollter Anteil – ent­ziehen sich also oft dem Bewußtseinsakt des Künstlers, und zwar interessanterweise, je vir­tuoser er über seine handwerklichen Mittel verfügt: oft sind es eben s i e, die ihn leiten. Des­halb kann keine literarwissenschaftliche Analyse das Ergebnis eines gelungenen künstleri­schen Prozesses letztlich erfassen, sondern es bleibt in jeder Kunst etwas, das Adorno >>>> das „Nichtidentische“ genannt hat und das wiederum ich nicht „ein Drittes“, sondern „ein Vier­tes“, „ein Fünftes“ usw. nennen möchte. Weshalb ich den Begriff des Dritten ein wenig scheue, setze ich Ihnen gern in der Diskussion auseinander; hier würde es zu weit wegfüh­ren; ich habe das >>>> an anderer Stelle einmal ausgeführt.

Wenn ich nämlich gesagt habe, die handwerklichen Fähigkeiten eines Dichter zu erlernen, werde aus Ihnen ganz gewiß keine Dichter machen, sofern Sie das nicht sowieso schon sind, dann bedeutet das eben: die Mittel, wie virtuos auch immer gehandhabt, brauchen ein Medi­um, um sich für Dichtung – nicht für einen Zweck – in Bewegung zu setzen. In dem Sinn hat >>>> Gerald Zschorsch einmal gesagt: „Künstler zu sein, ist kein Beruf, sondern eine Haltung.“ Sie können auf Dauer kaum ohne Handwerk auskommen; allerdings kann ein zu früh erlerntes Hand­werk auch verhindern: indem es prima eine innere Leere verdeckt, aus welcher es zu eige­ner Kreativität gar nicht kommen kann, so daß das Handwerk dazu führt, Handlanger zu werden, und zwar gänzlich anderer als der Interessen des eigenen Kunstwillens. Außerdem schützt es vor Fehlern, die für die Vollendung eines künstlerischen Weges und schließlich Meisterschaft absolut notwendig sein könnten. Allerdings sichert es Ihnen möglicherweise den Brotberuf.

Ich sprach von dem >>>> Halo, ich spreche von Höfen. Stellen Sie sich den Mond vor, und stellen Sie ihn sich als von einem solchen Hof umgeben vor. Nun vergleichen Sie diese innere Wahrnehmung mit den gezielten Bildern der Astronomie. Die indische Tante meiner Frau legte mir bei einem Besuch in Agra http://de.wikipedia.org/wiki/Agra_(Indien) ihre rechte Hand auf die Schulter und fragte: „Wo begin­ne ich, und wo höre ich auf?“ Das ist die Frage, die ich für Realität-insgesamt stelle. Das ist die Art, in der ich Kunst scheinen sehe – um ganz bewußt die Begrifflichkeiten von >>>> Schein, Vorschein usw. hier wieder ins denkerische Spiel zu bringen und um auf dem Ungefähren, dem nicht Konkretisierbaren zu beharren. Wir sehen nach Maßgabe unseres genetisch vererbten Hirn­apparates, wir sehen Realität anders als, sagen wir, >>>> eine Fliege und ein Panther oder ein Ele­fant. Sehen die „falscher“ als wir? Doch auch schon art- und kulturintern sehen wir je an­ders. Was ein gläubiger Moslem und ein mosaisch Glaubender für Realität halten, unter­scheidet sich sehr von dem, was der technobegeisterte Jungchirurg für Realität hält; dabei ist kaum zu sagen, wer und ob wer unter denen ein letztliches Recht hat. Ebenso wenig, wie ge­sagt werden kann, die raumlosen Räume des Internets seien nicht. Ihre Ontologie ist eine vergleichsweise neue, ihr On sowieso. Es bewirkt aber ganz konkrete Umwälzungen nicht nur politisch-ökonomisch-sozialer Natur – da sind sie unmittelbar, das heißt empirisch, nach­zuweisen -, sondern auch psychologischer. In vorsichtigem Bezug auf Heidegger habe ich das, was momentan vor sich geht, eine >>>> anthropologische Kehre genannt. Ich möchte fast sa­gen: „naturgemäß“ läßt sich diese noch gar nicht anders als in Form eines Hofes beschreiben.
Indem Kunst in die Tiefe geht, ist eine solche Beschreibung aber dann müßig, wenn sie le­diglich referiert; vielmehr muß in ihr selbst, in ihren Ausdrucksformen, diese Kehre Gestalt bekommen. Da ist es mit naturalistischen und/oder >>>> neorealistischen, scheinrealistischen Er­zählformen, wie sie imgrunde auf der Wahrnehmungsstufe des 19. Jahrhunderts, und zwar nicht einmal des späten, wiederverharren wollen, nicht länger getan. Oder aber es geschieht, was ich bereits absehe: daß sich Literatur-als-Dichtung (nicht als Unterhaltung, da mag sie meinethalben noch ein Jahrhundert vor sich hinwesen) aus der Kultur allmählich verab­schiedet. Die Umsatzzahlen der Verlage sprechen in diese Richtung leider manches deutliche Wort. Wobei mein „leider“ pro domo gesprochen und es an sich nicht unbedingt ein Unglück ist, wenn eine Kunstform stirbt, die ihr eigenes Jahrhundert nicht mehr erfassen will, bzw. kann, anstelle, wie sie es früher tat, ihm radikal vorauszulaufen. Wenn wir Dichter und Lite­raten langsam verschwinden sollten, so ist das genau so wenig schlimm, wie daß Hand­werksbetriebe, die Kutschen hergestellt haben, mit Aufkommen des Automobils nach und nach verschwunden sind; es muß auch keine Ledergerber mehr geben, an die nur noch Schweizer Namen sowie hin und wieder barocke Handwerksmuseem erinnern, oder wie >>>> der Bader, der fröhlich dem spätren Chirurgen vorangeschröpft ist.

Wenn ich nicht n u r eigener Interessen halber den Bedeutungsverlust der Dichtung beklage, so deshalb, weil ich der Überzeugung bin, sie könne nach wie vor auch eine leitende Bedeu­tungsrolle in der Art und Weise ausfüllen, wie wir Wirlichkeit wahrnehmen und neu wahr­zunehmen lernen könnten, auch – oder gerade weil – sie den Produktionsbedingungen der Gegenwart allein ihres Zeitaufwandes wegen scheinbar strikt entgegensteht. Dies näm­lich, weil keine andere Kunstform so wie sie zugleich den Halo, den H o f der Bedeutungen, erzählen und doch auch über ihn nachdenken lassen kann, auch über ihn nachfühlen lassen kann. Denn einerseits ist Literatur immer auch konkret – ihres Begriffsanteiles wegen -; das unterscheidet sie von Musik. Andererseits ist sie aber – ihres Namensanteiles wegen – der ganze Name beinhaltete den ganzen Hof Gottes – immer auch schon das-Ding-selber und damit nicht-diskursiv wie das Phänomen der musikalischen Wahrnehmung. Diskursivität und zugleich nicht auf ein Speziales reduzierbar zu sein, in den genannten Begrenzungen zwar lernbar zu sein, aber nur innerhalb dieser – für diese innere Widersprüchlichkeit, für diese Quadratur des Kreises steht sie: für deren Möglichkeit. Außerdem sie ist ein Schwamm, der es vermag, die verschiedensten Perspektiven, die verschiedensten sinnlichen Wahrnehmungen und die ver­schiedensten Begehren, die ich lieber Triebe nenne, in sich aufzunehmen und miteinander synkretistisch, und zwar gleichzeitig und >>>> wechselwirkend, agieren zu lassen. Doch kostet sie vergleichsweise viel Zeit – ein großer Nach­teil gegenüber anderen Künstern. Literatur, also Dichtung, ist niemals schnell. Versuche, schnelle Schnitte, wie wir sie aus dem Film kennen, literarisch nachzustellen, werden immer daran scheitern, daß ein Leser zurückblättern kann. Insoweit bewahrt auch die konservativste Dichtung ihrem Leser ein emanzipatives Moment – ganz anders als der Film, zu dessen Vor-Form sie allmählich regrediert, statt dessen.

>>>> „Konservativ“ meint die Form, nicht den Inhalt und also nicht ein realistisches Erzählen, das an die Kompliziertheit der von der Hochtechnologie bestimmten neuen Realität mit den er­zählerischen Waffen einer schon lange überkommenen Welt heranreichen zu können meint, und zusätzlich auch noch mit der grundierenden demokratischen Moral der Anständigkeit. Hiergegen folge ich einem Fluß, der in der deutschsprachigen Literatur zwar lange schon, doch immer schmaler werdend, neben dem gemütlich sanktionierten story telling einherge­laufen ist, aber allmählich, als wäre er wieder zur Quelle zurückgekehrt, einer inversen frei­lich, deren Wasser rückwärts fließt, zu versickern scheint. Wobei ich mich auf erzählende Prosa, nicht auf das Gedicht beziehe und außerdem weiß, daß etwa für die US-amerikanische Literatur etwas völlig anderes gilt. Denken Sie an den späten Gaddis und vor allem ein derart radikales Werk wie Pynchons Gravity’s Rainbow. Daß vornehmlich die Deutschen so rückschrittliche Prosa-Ideologeme pflegen, hat Gründe, die anderwärtig erör­tert werden müssen. Gegen diese setze ich seit meinem im SCHREIBHEFT publizierten Briefwechsel mit Barbara Bongartz den Begriff der >>>> Perversion in Bewegung. Dazu sei erst­mal nur angedeutet, daß ich mit ihm auf alte – >>>> kathartische – Kunstauffassungen zurückgrei­fe, die sich mit der Anstrengung um neue, genauer: nach-postmoderne literarische Formen zusammentun. Damit stehe ich nicht allein, aber es sind unserer nicht so arg viele. Ich werde in meinen beiden folgenden Vorlesungen auf meinen Perversionsbegriff zurückkommen.

Wiederum habe ich vor etwa drei Jahren gegen den Realismus-Begriff, wie er vor allem durch die literaturbetrieblichen Betrachtungen der Feuilletons geistert und offensichtlich auch an den Literaturinstituten herumpantoffelt, um sich aalartig in den Arsch des Bruttoso­zialprodukts zu schrauben, den Begriff „Kybernetischer Realismus“ gestellt. Damit ist, grob umrissen, eine Auffassung gemeint, die sich von Schopenhauers auf Kant fußendem Satz herleitet, >>>> Wirk­lichkeit sei das, was wirke.
Sie merken sofort, wie umfassend „Realismus“ dadurch wird, also das, was sich unter ihn supponieren läßt. Um von vornherein dem naheliegenden deutschen Einwand der Beliebig­keit zu begegnen, wie man ihn noch heute vorschnell wie billig gegen die Postmoderne ein­wenden hört, möchten Sie Ihren Blick bitte für einen Moment auf die Wirklichkeit nicht nur der technischen Bilder, sondern auch auf die geradezu naturhaft-unumstößlichen Auswirkun­gen richten, die Abstracta wie zum Beispiel Indices auf Aktienkurse – reine Imaginationen – auf die Schicksale von Menschen, ja ganzen Völkern ausüben. Hier ist Quantität handelbarer Bestimmungen in absolute und neue Qualität der Weltformung umgeschlagen; das eigentlich Abstrakte, material gar nicht Existente geht bis in die Herzen und führt auch in der sog. Ersten Welt zu vordem unbekannten Problemen, von denen etwa, daß eine Liebste, die >>>> ihren Liebsten im Netz kennengelernt hat, ihn entfernungshalber nur selten besuchen kann, bloß eine Äußerlichkeit ist, nicht aber, daß sie ihn so wahrhaftig liebt, wie nur irgend Menschen lieben könnten, die einander en face begegnen. Die aus sol­chen, immer noch marginalen, Erscheinungen erwachsenden Folgen sind für unser anthropo­logisches Selbstverständnis und tatsächliches Sein und Werden derzeit noch völlig unabseh­bar.

Dies möge Ihnen als erste kleine Blickrichtung dienen. Noch eine zweite: Stellen Sie sich vor, daß wir nicht nur die Erde mit materialen Kabeln durchzogen, sondern ein Netz von Milliarden um Milliarden elektronischer Synapsen über sie gelegt haben, die es sehr einfach möglich machen abzuhören, was Sie sich denn heute abend beim Fernsehn erzählen… und stellen Sie sich dieses Netz einmal ebenfalls als material v o r. Ja, schließen Sie bitte eine halbe Minute jetzt alle die Augen und versuchen Sie, dieses Netz zu fühlen, das Sie da per­manent durchdringt…. — Haben Sie’s?

Nein, ich gehöre nicht zu denen, die Angst vor Elektrosmog haben, aber das Phänomen an sich finde ich überwältigend. Wir haben es mit einer so ungeheuren wie ungeheuerlichen Veränderung unserer Lebenswelten zu tun, daß uns einzig, daß wir sie nicht wahrnehmen, weil unser Sinnesapparat dafür nicht gebaut ist, noch davon abhält, diesen permanenten Erd­rutsch von unserer Realität in ein Abstrakt-Sinnliches hinunter als das zu begreifen, was er ist. Ich schreibe bewußt abstrakt-sinnlich; damit einher geht Mythisierung. Bei Lévi-Strauss finden Sie das vermittels seines Begriffs der >>>> bricolage auf genaueste ausgeführt.
Sowie ein Drittes: In ihrem Essay >>>> Die Neuerfindung der Natur beschreibt die US-amerikani­sche Feministin >>>> Donna Harraway, wie wir im Rahmen der technischen Revolution der letz­ten fünfzig Jahre zunehmend die Kontrolle über unsere eigenen Lebensfunktionen, das heißt: über die Lebensfunktionen unserer Art an die Geräte abgegeben haben; sie spricht davon, daß wir eigene Lebensfunktionen auf eine Technik übertragen, die uns selber – insgesamt – völlig undurchschaubar ist. Das führt ebenfalls zur Mythisierung, zu einer >>>> Re-Mythisierung von Wirklichkeit, die objektiv ist und unausweichlich, also etwas über Wahrheit erzählt und schon deshalb in einer Dichtung, die gegenwärtig sein will, nicht ignoriert werden darf. Oder sie verliert den Kontakt zu den eigentlichen und unterdessen hauptsächlichen Wirkmächten unserer Existenz.
Meine Forderung ist, daß dies nicht nur deskriptiv – im Inhalt einer Erzählung – zu gesche­hen hat, sondern die Erzählung selbst, ihre Form, durchdringen und sie zugleich grundieren muß. Es muß auch metaphorisch ihr Grund sein. Ja, es liegt geradezu auf der Hand, daß hier eine angemessene Ästhetik zu entwickeln ist, von der aber, das gebe ich zu, fraglich ist, ob Literatur sich als ihr Ausdrucksmedium überhaupt noch eignet. Wobei ich kein anderes Ausdrucksmittel wüßte, daß sich so sehr wie Literatur dafür eignet, denn es muß zugleich affirmativ und skeptisch sein können.
Entschieden glaube ich allerdings nicht, daß sich dafür herkömmlich realistische Ästhetiken eignen. Im Gegenteil verstellen sie Wirklichkeit und spielen so einer Entwicklung gerade zu, als deren Gegner sie sich gerieren; man kann fast annehmen, daß sie uns die Illusion der Selbstverfügung sehr absichtsvoll zementieren, das heißt: manipulativ, während uns zu­gleich jeder Boden dieser Selbstverfügung unter den Füßen weggezogen wird – sofern es einen solchen Boden je gegeben hat und >>>> die Idee eines autonomen Ichs nicht immer schon Schimäre gewesen ist, bzw. eine bloße Angelegenheit der Selbstwahrnehmung, besser: einer Selbstfühlung, die sich nicht sehr von den Umständen unserer physischen Realitätswahrneh­mungen unterscheidet. Unterhalb einer Frequenz von 15 Hz nehmen wir Schwingungen von Energie taktil, das heißt als >>>> Materie wahr, darüber dann als Ton, bzw. als Licht. Was wir für fundamentale Differenzen halten, stellt sich als nichts anderes denn als verschiedene Zu­standsformen von Energie heraus – womit wir uns asiatischen Erkenntnistheorien nähern. (Wer sich das bewußt macht und einmal versucht, sich meditativ da hineinzuversetzen, hat überhaupt kein Problem mehr zu erfassen, was mit >>>> Ruheenergie gemeint ist, die etwa ein herumliegender Ball hat, bevor man ihn wirft und sich diese seine Ruheenergie in Bewe­gungsenergie verwandelt. Von diesem Gedanken ausgehend, läßt sich sagen, daß alle Dich­tung, die auf Handlungen beruht, bewegungsenergetisch ist, sich aber in ihren eigenen Geset­zen irrt, ontologisch irrt, weshalb sie letztlich immer psychologisch verfaßt ist. Wer die Dis­kussionen kennt, weiß, für wie schrecklich Literaturwissenschaftler und -kritiker diese Vorstellung halten. Bloß keine Psychologie, so schallt das ja gern. Man fragt sich, was die Angst so groß macht, daß mit solcher >>>> Abwehr reagiert wird, anstelle sich ihr klarer Stirnen zu stellen.)

Ich möchte noch einmal auf die Form zurückkommen: Form als Medium des Ausgrabens, von dem ich behaupte, daß Kunst es sei, und zugleich als Asservat der handwerklichen Befä­higungen, Kunst überhaupt schaffen zu können. Wie das Führen jeder Waffe sind Formen und ist die Formung von Material lernbar, allerdings nur dann, wenn Sie eine der jeweiligen Waffe gemäße physische Konstitution mitbringen. Wer keine Arme hat, eignet sich nicht zum Schwertkämpfer, sehr wohl aber vielleicht für den Meldedienst.

Form ist zudem ein Raum. In ihr findet etwas statt, das sich selber zum Ziel hat. Denken Sie noch einmal an den Benjamin-Satz: Jede Sprache teilt sich selbst mit. Das bestimmt den mit­geteilten, bzw. mitteilbaren Inhalt, nicht umgekehrt. Hieraus wird deutlich, daß nicht jeder Inhalt in eine beliebige Form gebracht werden kann; die Formen ziehen vielmehr ihre Inhalte an. So gesehen sind sie Katalysatoren, die das Subjekt der künstlerischen Tätigkeit von ih­rem Objekt, der Kunst selbst, trennen. Es, das Subjekt, hat es nicht in der Hand; egal, welche Absichten vorherrschen mochten. Daher der immense Eindruck von Fremdheit, dieses Das-habe-ich-nicht-gemacht!, der einen Künstler nicht selten überkommt, wird er mit dem Gelungenen eines eigenen Werkes konfroniert; es ist dann tatsächlich nicht mehr von ihm (geschaffen), sondern von etwas durch ihn, etwas, das durch ihn hindurch wirkte. Wobei Sie bitte nicht annehmen wollen, ich spräche von jemandes anderen Willen; es sind vielmehr >>>> Strukturen, die hier wirken, >>>> Muster, ähnlich den Figurationen immer derselben Grundmodel­le von Formung in der Natur.
Wäre dem anders, geschähe in Kunst immer nur >>>> mimetische Verdoppelung, und zwar der Befindlichkeiten des Künstlers, der zudem auf das Ausgegrabene mit ganz genau demselben Widerstand reagierte und es also wieder zuschüttete, wie das normale Menschen so tun. Solche sehr wohl dem Selbstschutz, aber auch vermeintlichem Selbstschutz dienenden Filter setzt in der Kunst die Form außer Kraft: sie substituiert sie, unterläuft sie. Leidenschaft für die Form bedeutet deshalb, die eigenen Sicherheitsinteressen hintanzustel­len. Wahrscheinlich wirkt hier quasi-darwinistisch, daß die Lust des Künstlers am Gelingen alle seine anderen Lüste übersteigt, also auch das Bedürfnis nach persönlicher Sicherheit. Verges­sen Sie nicht, daß sich vermittels seiner Kunst jeder Künstler – sofern er nicht abstrakten Mo­dellen anhängt, in der Malerei etwa informatischem Malen, in der Poesie der Konkreten Poesie – qua Expression outet, und zwar selbst dann, wenn er seine Gegenstände mit Be­dacht unverdächtig wählt. Jede Textexegese holt das Verborgene an ein Licht, in dem das gelungene Kunstwerk schon längst schwimmt. Aber der Dichter hat vielleicht vor­dergründig seine Aufgabe erfüllt wie ein Maler des Mittelalters, dem alleine sakrale Gegen­stände zu malen erlaubt war, der aber den Hintergrund mit dem Eigentlichen gefüllt hat, das ihn interessierte und was heute oft die Hauptwirkung eines solchen Bildes ausmacht.
Kunst unterläuft Zensur auf die eine und/oder andere Weise immer. Unter Zensur befasse ich hier, rechtlich nicht ganz einwandfrei, auch nicht-immanent von den Künsten geforderte Aufgaben, seien sie moralischer, seien sie sonstwie außerhalb des Kunstwerkes begründet. Wohl in dem Sinn hat ausgerechnet Bert Brecht – er, der geradezu paradigmatisch für intentionsgeleitetes Schreiben zu stehen scheint – seinen Genossen sinngemäß zugerufen: „Ich bin keiner, auf den ihr euch verlassen könnt.“ Er wußte: Im Zweifel für den Satz.

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