„Wenn er kommt,“ murmelt er, „dann müssen Sie das Buch herausholen und wegbringen von hier. Er darf es auf keinen Fall bekommen.“]
„Ich verstehe nicht.“
„Ich verändere mich,“ erzählt er leise, als wir uns wieder setzen.
„Bitte?“
„O ja, ich verändere mich, als ich die Hieroglyphen zu entziffern versuche. Und erst darüber wird mir bewußt, wie gefährlich mein Fundstück ist. Denn sehen Sie: Anfangs, noch als ich Großbritannien verlasse und nach Deutschland zurückkehre, bin ich voll guter Vorsätze. Ich will das Buch öffentlich zugänglich machen. Doch – wie soll ich sagen? – sie bindet mich an sich, diese schreckliche Handschrift, läßt mich ihr mit Leib und Seele verfallen. Nein, ich übertreibe keineswegs! Sie verleiht mir nämlich Macht, Herr Baumann. Sie fördert meine Karriere. Mein wissenschaftliches Ansehen steigt enorm in den folgenden Jahren. Nun ja. Aber zugleich… zugleich heben meine Visionen an.“
„Visionen?“
„Ja, Visionen. Und nicht nur nachts, sondern oft unvermittelt im Sonnenschein, wenn ich spazieren- oder zur Arbeit gehe, ja bei der Arbeit sitze, – plötzlich bricht der Schreibtisch inmitten auseinander und gibt den Blick in einen sich in völliger Schwärze verlierenden Abgrund frei, oder Hauszeilen, je links und rechts, wehen auseinander und hinauf wie Theatervorhänge – oder Menschen, die mir eigentlich vertraut sind, verändern sich binnen Sekunden… sie verformen sich, Herr Baumann, Lippen und Kiefern verzerren sich wie Gummimasken, Nacken buckeln nach kätzischer Art, oder meiner Sekretärin sitzen Käfer auf Oberarmen, Schultern, Dekolleté… Und weil bald auf gar nichts mehr Verlaß ist, schließe mich ein und … und fange zu trinken an. Obendrein kommt es an der Universität zu gewissen Peinlichkeiten.“ Er nickt. „Bevor mir gekündigt wird, kündige ich besser selbst. Da leb ich halt als Privatgelehrter. Nahezu dreieinhalb Jahre geht das dann so. – Ich wohne in München damals, nicht weit vom Englischen Garten, und als ich eines sonntags, weil ja auch meine Wohnung sich verändert, weil die Türklinken Leben bekommen, sich die Teppiche gänzlich unerwartet verschieben, weil plötzlich die Kühlschranktür klappt und mir die darin verwahrten Nahrungsmittel ihre Not entgegenschreien… als ich also eines sonntags in die Parkanlagen geflüchtet bin, sehe ich ihn..!“
„Diesen Hazegne…?“
„Dieselben spastischen Bewegungen, dasselbe Zucken der Gesichtsmuskulatur! Es ist fürchterlich! Sofort drück ich mich hinter einen Baum. Dann laufe ich fort. Mein Gehirn arbeitet rasch. Innerhalb einer einzigen Woche – und spitze auf jedes fremde Geräusch und öffne meine Tür keinem Schellen – löse ich meinen Haushalt auf. Ich ziehe nach Hamburg, nehme kaum etwas mit mir. Ich richte mich völlig neu ein und – nein, lachen Sie nicht! – beauftrage eine Detektei, nach dem Dämon Ausschau zu halten. Zwei Jahre später wird er in Eppendorf gesichtet. Wieder fliehe ich. Haben Sie eine Ahnung, was ein gefälschter Ausweis kostet! – Insgesamt fünfmal bin ich seither zu jemandem anderes geworden.“
„Aber nun können Sie nicht mehr publizieren…“
„Sehr richtig. – Es ist das Buch.“
„Bitte?“
„Ich fasse an, was ich will, alles gelingt mir. Ökonomisch, verstehn Sie? Zuletzt spekulier ich in Häusern.“ Er schweigt einen Moment. „Menschlich.. menschlich bringt mich das um. Das Buch bringt mich um, frißt mich von innen, denn es ist in mich geschlüpft. Es hat die Seele eines Insekts. Durch mich begeht es Verbrechen aus dem Handgelenk. Ich lehne mich zwar auf, verzweifelt, zermürbt, aber dann… dann muß ich doch wieder jemanden schlagen oder… überfahren. Ich kann nicht anders, ich halte drauf. Also schaff ich mein Auto ab. Da geht das mit den Rasierklingen los. Es ist entsetzlich! Doch das Buch überschüttet mich mit Visionen und schenkt mir einen wunderbaren, unnennbaren Schmerz.“ Hinterm Dunklen stöhnt Mielke auf in seinem Sessel. „Dann – endlich! – will ich mich befreien. Aber es brennt nicht. Meine Güte, welch eine Überwindung, ein Streichholz dem Einband auch nur zu nähern! Sofort springt Ihnen eine der Hauswände entgegen, oder der Eßtisch platzt, oder sonst etwas Unglaubliches, Zähes, Widerwärtiges geschieht. Da überwinde ich mich, da schleudr’ ich den Versucher ins Feuer. Aber hilflos und kläglich spückeln die Flammen dran herum und erlöschen. Sie gehn gradezu ein. – Ich versuch es,“ er kichert, „dann mit… mit Weihwasser – so sehr erniedrige ich mich, daß ich, wie irgend ein Dummkopf, Weihwasser aus Kirchen stehle und die Seiten damit besprengte. Ach wie absurd! Alles versagt gegen Chtullhu: Voodoo-Zauber, totemistische Beschwörungen, jedwedes Ritual. Dann endlich, endlich, entschließe ich mich zum Entzug und lese einfach nicht mehr drin. Das ist eine Qual, ja, aber ich stehe sie durch, ich hab mich in der Gewalt, ich verschließe es, schließe es weg, und nun… nun, Herr Baumann, bin ich sein Hüter. Allmählich mildern sich meine Visionen. Ach, das Fernsehen! Wahrhaftig! Welch karitative Erfindung! Es betäubt mich mit heilsamer Ohnmacht, ich mache mich stumpf, ganz stumpf. Nur so kann man leben, Herr Baumann.“ Er atmet langsamer, noch langsamer, dann flüstert er: „Und jetzt hat man den Dämon hier in Braunschweig gesehen. Und ich hab keine Kraft mehr.“ Sein Atmen wird Wimmern. Das wird ein Schnarchen. Mir dreht sich der Kopf. Leise räume ich Geschirr und Aschenbecher in die Küche und gehe zu Bett.
[Fortsetzung und der Schluß – morgen.]