In der Matrix des Kybernetische Realismus stehen nicht nur faktische Er/Kenntnisse als Komponenten, sondern auch Möglichkeiten; das ist der entscheidende ästhetische Ansatz, daß er kein ausschließendes poetisches Verfahren ist, sondern ein integratives, das kausale Zusammenhänge eben n i c h t festfährt. Für einen Roman bedeutet das, daß dieselben Erzählstränge sich ebenso spalten können wie die erzählten Subjekte und daß diese gespaltenen Erzählstränge jeder zu anderen Weiterhandlungen führen, die parallel miterzählt werden, ohne daß es einen Akzent auf eine bestimmte Weiterhandlung gäbe. Schon insofern ist es unmöglich, einen Roman so zu planen, daß von Anfang an sein Ziel feststeht, auf das dann hingeschrieben wird. Zwar mag ein Ziel intendiert sein, es wird aber praktisch nie oder nur in einem von vielen möglichen Erzählungen über denselben Handlungsgegenstand erreicht. Ich habe, während ich das Verfahren entwickelte – besser: während e s sich entwickelte – auch Leser meiner Arbeiten darin hineingenommen, die auf meine Arbeit reagiert haben; in Der Dschungel ist das ja sehr gut möglich. So schrieb mir am 29. November 2005 ein Kommentator, der sich mimikry nannte, das Folgende in das Literarische Weblog – wozu Sie wissen müssen, daß ich in dieser Zeit intensiv am Dritten Band meiner Anderswelt-Trilogie schrieb und täglich Segmente daraus, die Sie heute noch nachlesen können, in dem Literarischen Weblog veröffentlichte und über sie mit meinen Lesern diskutierte; dabei haben sich drei Leser anerboten, Figuren des Romanes zu werden; eine, Brem genannt, ist heute, nach Abschluß der Erfindungsphase, sogar eine der Hauptpersonen geworden. Jedenfalls schrieb mimikry Folgendes, und Sie müssen jetzt nur noch wissen, daß die genannten Herren Cordes, Herzfeld und Goltz reine Romanfiguren sind, Niam Goldenhaar ist es sowieso und Judith Hediger wiederum ein Hybrid aus erfundener und Real-Person, hingegen die genannten Damen Lilith und Desideria sind „reine“ Realpersonen, die ihrerseits Weblogs betrieben; >>>> Desideria schreibt ihres bis heute. >>>> Hier also mimikrys Kommentar*.
Ich habe diesen Text nahtlos in meinen Roman integriert und bin den gelegten Spuren weitergefolgt, das heißt, ich habe das, was als mögliche Folge einer Romanhandlung von meinem Kommentator mimikry fantasiert worden ist, wie eine Tatsache behandelt – als eine matrische Komponente eben, mit der ich die poetischen Rechenvorgänge als Möglichkeit durchgearbeitet habe, die, und das ist jetzt wichtig, anderen Möglichkeiten durchaus widersprach. Auf diese Weise gelangen Sie zu einem Romanmodell, das sich jeglicher Eineindeutigkeit verweigert und dennoch, je im Hinblick auf einen bestimmten Erzählstrang, sinnlich evident und auf sich bezogen den Gesetzen der Kausalität verpflichtet bleibt. Das entspricht ganz unserer Erfahrung von Wirklichkeit, wenn etwa nach dem Bau des Assuan-Staudamms unliebsame Folgen eintraten, die zuvor nicht absehbar gewesen waren, weil man bestimmte Determinanten, die erst mit dem Bau wirksam wurden, nicht gekannt hat. Prinzipiell gilt, daß der Eingriff in ein Geschehen Auswirkungen auf jedes Einzelelement des gesamten ökologischen Systems hat, also auf jede Komponente der Matrix. Insofern der Kybernetische Realismus sich wie alle vorgängigen Ästhetiken zur Wirklichkeit mimetisch verhält, so eben hier zu einer prozessual verstandenen, also immer in Bewegung befindlichen Wirklichkeit. Daraus ergibt sich, daß ein nach-postmoderner Roman, der nicht regressiv ist, kein bestimmtes Ende haben kann, sondern immer nur verschiedene bestimmte Enden. In WOLPERTINGER ODER DAS BLAU finden Sie diesen Ansatz in den drei einander widersprechenden Epilogen, die das Buch abschließen und geradezu notwendigerweise in ein nächstes Buch hin eingeführt haben: in den ersten Band der Anderswelt-Triologie nämlich, in THETIS. ANDERSWELT. Es handelt sich insgesamt n i c h t um ein hermetisches Erzählprinzip, sondern gerade um das Gegenteil. Daß dennoch oft eine starke Hermetik empfunden wird, liegt daran, daß wir es gewohnt sind, gewohnt gemacht worden sind, die Abschließbarkeit von Handlungsvorgängen vorauszusetzen und sie in einem Roman deshalb zu erwarten, ja sie von ihm zu fordern. Hiergegen stehen meine Arbeit und damit der Kybernetische Realismus völlig quer.
schrieb daraufhin drei Tage später in Der Dschungel:
>>>> „Romanfigur Hediger (3). Als diese sehe ich
mich selbst spätestens seit ich der Romanfigur Herbst in Berlin begegnete.
Und bin ausserordentlich verwirrt deshalb, weil ich nun den Verdacht
nicht loswerde, Herbst habe mich tatsächlich erfunden. Nun bin ich Romanfigur,
die sich in Variationen selber liest.“]