5.57 Uhr:
[Im Hegerfeld.]
Ich kam zu spät. Am frühen Nachmittag, gestern, da saß ich noch für lange im Zug, erreichte mich der Offenburger Arzt übers Mobiltelefon. Dann konnte ich, drei Stunden später, nur noch anschauen. Es war dieselbe Fremde, die ich in den Catacombe dei Cappuccini in Palermo verspürt hatte, es ist derselbe Tod, fremder aber noch im Gefühl, weil man etwas herzustellen versucht, für das es weder mehr einen Empfänger noch einen Sender gibt. Es mag sein, daß das zwischen Menschen und Toten anders ist, die sich tief geliebt haben, oder daß sich ein Gespräch über die Grenze hinaus erst später entwickelt wie zwischen meinem Vater und mir (und ja auch da erst, als ich selbst Vater wurde); aber mein Grundgefühl jetzt, meine Absicht, ist, ihr Ehre zu erweisen und dieser stolzen, harten Frau, die sie – für mich und mir gegenüber – immer gewesen ist, alles zu ersparen, was ihr die Würde nähme. Dazu gehört auch, ihr keine Sentimentalität anzutun, sondern ebenso mit Pragmatik zu handeln, wie sie – mir gegenüber – immer getan hat. Seltsam dabei ist, und heikel, daß die Menschen, die sie h i e r kennen und kannten, sie anders kannten als ich, einfach weil sie, nachdem sie hergezogen, offenbar auch anders geworden war. Mein Junge kennt sie nur als gütig und weich, und so, wie meine Frau, liebt er sie sehr. Seinetwegen wurde im letzten Sommer der Krieg beendet, den sie und ich lebenslang miteinander führten, und wurde zu einer Art freundschaftlicher, doch vorsichtiger Nähe, in der es sich endlich sprechen ließ. Wie es und ob sich das weiterentwickelt hätte, weiß ich nicht. Wir gingen seither miteinander vorsichtig um, das ist das Wort, um nicht das Eis wieder brechen zu lassen, über das wir aufeinander zugegangen waren. Auch das Wort „Eis“ war nach wie vor angebracht.
An sich bin ich nicht der, der dies alles, was jetzt zu tun ist, tun sollte. Aber ihr Lieblingssohn, mein Bruder, der sie wirklich geliebt hat, und sie liebte ihn, ist seit Jahren schon tot; wo s e i n Sohn ist, weiß niemand; das werde ich recherchieren müssen, aber dazu ist vor der Beerdigung keine Zeit. Ich werde heute vormittag, nach dem Gang zum Beerdigungsunternehmen, ihre Papiere durchsehen müssen; alles, was ich hier tue, ist, empfinde ich, ein einziger Übergriff. Ich möchte, daß ihre Freunde, die sie hier gewonnen hat, ihre Erinnerungen bekommen; ich weiß nicht, was tun mit einem ganzen Haushalt, und zwar s o tun, daß ich ihre Ehre auf die Gegenstände übertrage, an denen sie hing; ich hatte gestern darüber nachgedacht, ob sie lieber bei ihrem gestorbenen Mann oder bei meinem Bruder liegen würde; wir haben darüber nicht gesprochen, als wir im Januar hier sprachen; wir waren noch davon ausgegangen, daß sie eventuell Pflegefall würde; und dafür legten wir fest, was festzulegen war. Ihren möglichen Tod haben wir im Gespräch nur insoweit bedacht, als sie auf keinen Fall künstlich am Leben erhalten werden wollte. Vielleicht finde ich aber noch etwas Schriftliches, worin sie Genaueres bestimmt hat.
Ich hab heute morgen nicht arbeiten können, kann es eigentlich auch jetzt nicht, auch wenn ich dringend muß. Gestern nacht bekam ich – und bekam meine ganze Familie – von der Nachbarin und Freundin meiner Mutter einen langen schweren Vorwurf: „Deine Mama starb, und es war niemand da.“ Einmal abgesehen von den sachlichen Einwänden, die zu erheben wären, bringe ich vor allem das Wort „Mama“ mit meiner fremden Mutter nicht ineins.
Eine nahe Leserin schrieb mir gestern, was zu tun, worauf zu hören sei bei einer Gestorbenen, der man nah war, vor allem, die man liebte. Sie schrieb von einem wunderschönen Ritual, und daß ich dasitzen solle einige Zeit, bei ihr, und hören. Ich würde merken, daß sie sich noch erst lösen müsse und werde und Antworten gebe. Diesen langen Brief las ich aber erst abends hier. Und da h a t t e ich schon dagesessen und zu hören versucht. Von der Gestorbenen ging nichts als Fremdheit aus, eine harte Glätte, das Gesicht hatte etwas Schönes, das in sich ruht – aber abweisend ruht und mir gegenüber von unnahbarer Skepsis – so, wie ihr letzter Satz war, der mir, nachdem ich in der vergangenen Woche ihr Krankenbett verlassen hatte, bis jetzt in der Erinnerung ist und das immer, mein Leben lang, bleiben wird, ich bin mir sicher: „Weißt du, was mir auffällt? Die Menschen haben alle so eine Sehnsucht nach Berührung. Und ich kann mich nicht mehr wehren.“ Sie hat in der Tat nie, auch nicht von ihren Kindern, körperlich berührt werden wollen. Nicht, seit ich sie kannte.
(Ich denke auch darüber nach, weshalb ich das hier alles schreibe und daß auch das wieder in Dichtung eingeht; es ist mir bewußt, daß es ebenfalls eine Übertretung ist, aber es hat auch meine Wahrheit, daß ich lebe, indem ich formuliere, und daß ich dadurch Klarheit gewinne und wahrscheinlich überhaupt nur so denken kann. Durch das, wie meine Mutter immer gesagt und das sie bisweilen geekelt hat, Übermaß meiner Gefühle trete ich so einen gangbaren Pfad.)
16.35 Uhr:
[Bach, Konzert für drei Klaviere und Streichorchester, BWV 1064.]Für zwei Stunden in die normale Arbeit zurückkehren; Übertragung der Korrekturen aus der Zweiten Elegie in die DF.
Ich habe recherchiert, daß es wahrscheinlich ein Testament gibt, das im Notariat Haslach hinterlegt ist. Ob dem wirklich so ist, durfte man mir dort aber nicht sagen, weil schon dazu die Vorlage der Sterbeurkunde benötigt wird. Ich werde deshalb meinen Aufenthalt bis Freitag verlängern müssen. Parallel ist der Aufenthaltsort des Sohnes meines verstorbenen Bruders herauszubekommen, auch da bin ich, dank Netz, bereits weiter. Insgesamt ist der Rechtsraum, in dem ich mich zur Zeit bewege, heikel; aber ich nehme das, im Sinn meiner Mutter, auf mich. Ihre Nachbarin hat sie wirklich, und tief, geliebt.
Die, wie von ihr gewünscht, anonyme Beisetzung ist nun auch bereits geplant. Fast hätte sie an meinem nächsten Geburtstag stattgefunden; d i e s e symbolische Formklammer wollte ich aber nicht zulassen.
ohne vom Glauben zu lassen – ist’s d a s nicht, was auswählt und Menschen
adelt: das Unvereinb a re? und daß sie vereinbaren k ö n n e n,
was die Geräte als logische Fehler hinauswerfen würden?
(Zweite Bamberger Elegie, Anfang.)