nachmittags klingelte es an der tür. „hallo bruderherz“ „hallo große schwester“
wir dachten darüber nach, warum gestern plötzlich das möglich wurde, was nie möglich war. „ich kann es dir sagen, es war möglich, weil du als große schwester dich endlich mal schwach zeigtest, da wussten wir, dass wir dich endlich in den arm nehmen durften.“ ein satz, der mich sehr nachdenklich stimmte. „du warst immer diejenige, die dann handelte, wenn wir auf grund unserer eigenen position nicht mehr dazu in der lage waren. je schlimmer es wurde, desto ruhiger wurdest du, mir war immer so, als ob du dich ausklinktest, du zeigtest nie angst, du weintest nie, egal, was er mit dir machte, du hast noch nicht einmal den blick gesenkt, oder mit den augen gezuckt, wenn er dich ohrfeigte.“ „nur so funktionierte es.“ „ich werde nie vergessen, wie oft du mich, als ich klein war, beschützt hast, du bist dazwischen gegangen, du hast ihm deinen rücken geboten, damit er mich nicht schlug.“ „ja, weil du immer ein so wütender junge warst, je wütender du wurdest, desto mehr wehrtest du dich, desto mehr schlug er zu, er hätte dich windelweich geschlagen, du warst ihm körperlich ja garnicht gewachsen.“ „später schon.“ „weißt du eigentlich, dass ich ihm in seinen kaffee gepinkelt habe?…“ „du hast was?“ „ich habe die kaffeekanne auf den boden gestellt, mich darüber gehockt und reingepinkelt. du weißt doch, zielen konnte ich schon immer gut, ob mit der faust, mit der pistole oder eben auf diese art. du kannst sicher sein, wann immer ich essen für ihn zubereiten musste, war etwas von mir in diesem essen. seit diesem abend, an dem er mich zwang, aus dem nachttopf den urin zu trinken, bekam er regelmäßig das von mir, was ihm zustand.“ mein bruder grinste: „und ich habe ihm in die schuhe gekackt.“ „es dachten immer alle, es wäre der hund gewesen.“ „ja, und der hund überlebte das nicht, was mir heute noch leid tut.“ „mach dir keine vorwürfe, der hund hätte sowieso nicht mehr lange überlebt, so oft, wie er ihn verprügelte.“ „ja, aber ich höre dieses jaulen immer noch und dann diese stille.“
„hast du hunger, magst du in schinken gebackenen ziegenkäse, mit rosmarin und thymian?“
wir sprachen eine ganze weile, ließen die gedanken dann aber los. es war einfach nötig, in unsere jetzigen leben zurückzukehren. als er ging, nahm er mich in den arm: „du kannst immer anrufen, und wenn’s nachts um drei ist, und bitte ruf auch an, wenn es dir nicht gut geht.“
ja, wir hatten eine ganz besondere beziehung zueinander, und er kümmerte sich immer um die jüngste schwester, steckte ihr, wenn sie stundenlang weinte, die mutter sich aber nicht kümmerte, einen lolli in ihren mund. „magini weint“ sagte er immer, wenn ich mittags aus der schule kam, da war er vier jahre alt und ich sieben. sein gesichtchen war in diesen augenblicken eine einzige verzweifelte hilflosigkeit, weil er nicht verstand, dass die mutter sich nicht kümmerte, die konsequenz war ja, dass sie auch ihn vernachlässigte. er heftete sich dann immer an meine fersen, bis er sah, dass ich mich der kleinen schwester wirklich annahm, vorher gab er keine ruhe. meistens musste ich sie dann erst einmal wickeln, und zu essen bekam sie auch von mir, die flasche zuzubereiten, war nicht so schwer. fast immer bereitete ich zwei flaschen zu, für den kleinen auch eine. ich war sieben jahre alt, hatte eine zweijährige schwester in dem einen arm, und in dem anderen den kleinen bruder, meistens schliefen wir dann gemeinsam ein. mein zwillingsbruder war immer verschwunden, ihn sahen wir nur selten. bis heute kann mein kleiner bruder ein kind nicht länger als eine minute weinen oder schreien hören, er muss immer reagieren und prüfen, warum ein kind weint.