Der Meister. 29.04. 2008. Paul Reichenbach lernt malen.

Er trug immer eine bunte Fliege und dazu das passende Hemd. Der Anzahl seiner Oberhemden, die er besaß, entsprachen der Menge Fliegen, die er stets etwas verschoben unterm Kragen befestigt hatte. Dies war keine Schlamperei und auch keine morgendliche Hast. Die Schieflage signalisierte uns seine Tagestimmung. Zeigte der Propeller leicht nach links brauchte man nicht lange auf ein Lamento über unser selbstverschuldetes geistiges Elend zu warten. Hingen jedoch die Flügel nach rechts, meistens schien an solchen Tagen die Sonne, schmetterte er uns näselnd, in einer Art Diskant, sein Guten Morgen entgegen, obwohl der offizielle Gruß ja „Freundschaft“ hieß. Die Rede ist von meinem Zeichenlehrer, der auch, man hätte es nie vermutet, der Parteisekretär an der Schule war. Sein dichtes lockiges, braunes Haar, die Beatles hatten sich noch nicht erfunden, wellte sich ihm locker bis zum Kragen. Lebhafte buschige Brauen über den Augen und ein begeisterter Blick auf die Linien eines Schülerinnennackens, wenn er durch unsre Reihen tänzelte, während wir still die Köpfe auf Zeichenpapier und Palette gesenkt vor uns hinpinselten, komplettierten an solchen guten Tagen den Eindruck, den er uns von sich geben wollte. Ich bin kein Lehrer, sagte seine ganze Haltung. Ich bin ein Künstler, der leider dem Brot folgen muss, statt der Kunst zu dienen. Seine stehende mit großer Geste theatralisch vorgetragene Rede war: Rembrandt tot, Gogh Tod, warum lebe ich? Wir nannten ihn, durchaus wohlwollend spöttisch, insgeheim Meister. Er hatte keine Vorurteile und ideologisches Geseire war ihm fremd. Die Kunstgeschichte endete für ihn mit Picasso, daneben ließ er ein wenig Dali und Magritte gelten. Vom sozialistischen Realismus sprach er nie oder nur ganz selten. Nein, er wertete ihn nicht ab, er sprach einfach nicht darüber. Wer ist schon Womacka, mag er gedacht haben, als 3 oder vier Schüler, ich war darunter, ihn eines Tages zu überzeugen versuchten, dass Womackas Bild „Am Strand“ für sie große Kunst sei. Ohne Bezug auf das Bild, die Fliege hing linkslastig schepp, erklärte er uns in den folgenden Stunden, was seiner Meinung nach Kitsch sei.
Kunst, so meinte er, sei stets um Wahrheit bemüht, auch wenn wir nicht genau wissen was Wahrheit ist. Kitsch aber, dass müsst ihr begreifen, ist immer Lüge, die sich vermeintlicher Wahrheiten bedient.

>>>>>Bildquelle: W. Womacka „Am Strand“

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