5.10 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Endspurt für die Vorschnitte der Ulskovskaja-Musiken für das Marianne-Fritz-Stück, und Endspurt überhaupt der Vorbereitungen. Heut abend muß alles so weit stehen, daß ich mich morgen rein auf die Sprecher konzentrieren kann; viele Musiken stehen dann fest, das wird allenfalls noch improvisierend zurechtgefeilt werden; was jetzt offen ist, wird sich während der Produktion ergeben, insbesondere aus der Dynamik zwischen den Sprechern. Ich bin überzeugt, daß wir morgen abend bereits allen Text außer den Fugen eingesprochen und vielleicht diese sogar schon mal angeprobt haben werden; Frau Schimanski, die Regieassistentin, ist eher skeptisch; doch kenne ich ganz andere, viel gedrängtere Bedingungen der Produktionszeit als diese ganzen fünf Tage jetzt, auch tendiere ich nicht groß zu Pausen, ja mag sie nicht – jetzt einmal von meiner Cello-Überei abgesehen, aber das s i n d ja nicht eigentlich welche, bzw. fasse ich sie nicht als solche auf, sondern habe unterdessen bereits die Tendenz, auch das als Arbeit aufzufassen.Bis 24 Uhr las ich gestern in dem Keyserling; manches gefiel mir, anderes irritierte mich, wozu allerdings meine innere ethnical correctness einiges beitrug; man muß solche Bücher historisch lesen, um aus ihnen herauszufiltern, was nach wie vor Gültigkeit hat, gerade wenn eine solche Lebensphilosophie sich ganz eng an das Subjekt anlehnt und nicht etwa, wie meist bei Philosophien, abstrakte Ausdrucks- und Denkformen sucht und ausformuliert. Dem hilft, daß natürlich auch seine Reiseeindrücke solche vom Anfang des 20. Jahrhunderts sind und sich seither nicht nur die politischen Umstände enorm gewandelt haben. Bei Keyserling ist das meiste ohnedies an seine Person gebunden; deshalb schreibt er auch, zu Recht, man solle dieses Reisetagebuch lesen wie einen Roman. Woran wiederum etwas höchst Modernes ist, wie ich selbst, umgekehrt, von meinen Essays und Vorlesungen gesagt habe, daß auch sie Romane seien. Vielleicht zu Keyserling später einmal mehr, vielleicht auch das eine und/oder andere Zitat für die Hauptsite Der Dschungel (ich lese das Buch, anders als ich sonst lese, der ich sonst nämlich Tische und Schreibtisch bevorzuge, in dem schwarzledernen Schaukelstuhl, der mit von meiner Mutter vermacht ist, lese ihn, wie man ’normalerweise‘ Bücher liest; der Bleistift liegt allerdings immer dabei). Frei von Esoterik ist Keyserling freilich nicht – was mich immer etwas abstößt und >>>> auf seine Nachkommen stärker gewirkt zu haben scheint als die philosophische Anstrengung des Geistes. Hab ich den Eindruck. Schon bei ihm ist einiges an Theosophie – was allerdings in der Zeit lag. Interessant sind seine Gegner: Rudolf Steiner, Joseph Goebbels und Kurt Tucholsky. Das klingt sympathisch nach Zwischen allen Stühlen.
Heute wäre mein am Tag seines 40. Geburtstags 1997 umgekommener Bruder 51 Jahre alt geworden.