Arbeitsjournal. Donnerstag, der 13. November 2008. Mannheim. Berlin.

6.57 Uhr:
[Bei Kühlmanns am Küchentisch.]
Seit sechs Uhr auf. Ich war gestern nacht so müde, daß ich mitten ins Gespräch mit Kühlmann hinein eingeschlafen bin, zweimal, das erste Mal sah er’s mir nach, beim zweiten schickte er mich zu Bett. Da war es ungefähr halb eins. Dennoch, weil mich das Buch gepackt hat, las ich noch dreivier Seiten >>>> im Neumeister weiter („Könnte Köln sein“;bei etwas Witz liest sich auf dem Titel des Buches: „Andreas Neumeister könnte Köln sein“), wie zuvor bereits im ICE, der in Frankfurt technischer Schäden wegen ausgetauscht werden mußte, so daß ich dann s e h r knapp in Heidelberg ankam; die Zeit reichte immerhin noch für einen Kakao mit >>>> Hanna Leybrand, die mich abholte und zu Uni fuhr.
Im Seminar siebzehn sehr Interessierte, es gab einige kluge Einwände, vorsichtiges Abtasten von Positionsgrenzen; wirklich diskussionsfreudig ging es aber n i c h t zu. Den kleinen Crash-Kurs in Sachen Konjunktiv durchgezogen („Sie m ü s s e n ihn nicht immer anwenden, es gibt in der Tat Fälle, wo die korrekte Verwendung den Fluß eines Textes stört: aber Sie müssen wissen, weshalb Sie ihn nicht korrekt anwenden und vor allem, d a ß Sie ihn nicht korrekt anwenden; kurz: Sie müssen ihn können, bevor Sie ihn beugen“); schließlich die dann später beim Betongriechen fortgesetzte Diskussion darüber, was ein Gedicht eigentlich s e i. So ging das bis kurz nach 23 Uhr, dann brachen Kühlmann und ich auf.

In das Buch Andreas Neumeisters bin ich regelrecht eingetaucht, wobei sich mir auch hier eine Kategorienfrage stellt: inwieweit es eigentlich Roman sei oder nicht vielmehr etwas Drittes, Viertes, Fünftes, das noch keine definierte Zuschreibung hat. Selbstverständlich ist mir bewußt, daß spätestens mit der klassischen Moderne der Romanbegriff zunehmend ungefähr geworden ist, aber es scheint mir keine gute Lösung zu sein, schließlich alles einen Roman zu nennen, nur weil die Auflösung eh schon so vorangeschritten ist. Ähnlich im anderen „Fall“, im Grund poetisch n o c h fesselnder als Neumeisters Buch, nämlich >>>> Thomas Meineckes „Jungfrau“; spannender- und einsichtigerweise spielt >>>> Godards „Je vous salut, Marie“ eine gute Rolle darin, sowieso, und eine enorme, vor allem spezielle Bildung, der man vielleicht ein bißchen z u sehr die Recherche anmerkt, gerät hier in einen Prosastrom von Kraft. Ich mußte das Buch beiseitelegen nach sechzig Seiten, „mußte“, weil ich mir erst einmal über alle mir zugeschickten acht Bücher ein Gefühl verschaffen muß, das ich dann in der kommenden Woche bis zum Donnerstag nur-lesend vertiefen will. Leider hält mich das von >>>> Schwartz‘ „Schnee in Samarkand“ ab, aber es ist Vorbereitungsarbeit >>>> hierzu. (Welch ein Privileg aber, zu lesen Arbeit nennen zu dürfen!). Und, jedenfalls im Fall dieser beiden Bücher, zu den anderen kam ich noch nicht, entschädigt ja durchaus. Mir wird bei den Lektüren aber a u c h klar, >>>> w i e konservativ ich inzwischen geworden bin oder vielleicht sogar immer w a r; das ist ganz unabhängig von den formalen Weiterführungen, von diesem Neuen, das mit einigen meiner Bücher in die Welt getreten ist und sich schließlich im >>>> Kybernetischen Realismus theoretisch auskristallisiert hat. A u c h klar wird mir, welch eine Rolle die Musik dabei gespielt hat, „meine“ Musik, die von der Jugendkultur niemals berührt worden ist, sondern abseits davon im Palast eines sog. Elitären steht. Mein Konservatismus hat hier ganz fraglos eine Wurzel. Darüber würde ich in Oldenburg dann gerne sprechen, vielleicht fängt allmählich eine Zeit der Verständigung an, schon deshalb, weil mich Neumeisters und Meineckes Bücher tatsächlich so mitreißen; nicht einmal das ständige Hinübergleiten in die englische Sprache stört mich da, die für den Pop offenbar wesentlich ist.

(Ich dachte eben: Welch eine poetische F r e i h e i t Neumeister und Meinecke haben; ich kann davon nur träumen – aber will ich das? Auffällig die Leichtigkeit ihres Erzählens, ohne daß es in irgend einer Weise oberflächlich wäre. Es hat tatsächlich etwas von einem Tanz, während bei mir, jedenfalls in den massiven Romanen, die Erdschichten immer knirschen, sich aufwerfen, so schwer, so langsam und zäh wie Kontinentalplatten, die sich aneinander reiben und sich, erst gar nicht recht merklich, zu Gebirgen türmen; bei Bruckner hat einmal jemand davon gesprochen, daß sich die motivische Arbeit regelrecht durchwalkt. Auch die Blickrichtungen, übrigens, sind erst einmal verschieden. Dennoch, es gibt Verbindungen, wie ich gerade bei Meinecke merke, und nicht wenige rühren eben d o c h von gemeinsamer Erfahrung her: nämlich derjenigen des Spielfilms.)

10.52 Uhr:
[ICE Mannheim-Berlin.]
Rückreise. Kommod. Ich lese, maile bisweilen, halte das Postfach im Blick. Eine für meinen Jungen erfreuliche Nachricht erreichte mich übers Mobilchen heut früh aus einem Hausacher Notariat. Eine Wende, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Man wird jetzt sehen müssen. Im Hintergrund das peinliche Schwelfeuer kleinstbürgerlicher Erbgier. Ich wollte damit gar nichts zu schaffen haben. Jetzt sieht die Situation anders aus; im Sinn meines Sohnes ist zu handeln. Urkunden sind herauszusuchen und zu verschicken. Dann abzuwarten. Aktiv einmischen mag ich mich eigentlich nicht. Ich lese. >>>> Faculty of Fine Arts – die eigentliche Provokation sei nicht die Zerstörung des WTC, sondern der Angriff auf das Pentagon gewesen, das strategische Herz der Militärmacht. Neumeister, Könnte Köln sein. Dazu das hyperventilierende Glück der Deutschen, jetzt einen schwarzen Präsidenten zu haben. Kühlmann: „Dieser Missionarseifer… mir ist das verdächtig.“ Ich: Wer derart viel Geld und Macht braucht, um sich als Präsident durchzusetzen, k a n n nicht das sein, als was er unversehens zu gelten scheint: ein Erlöser (!). Wie viele Finger krümmten sich im Vorfeld, wie viele Geschädigte hinterläßt dieser Wahlkampf – egal, auf welcher Seite. Es geht um Machtpolitik, nicht um Ausschüttungen irdischen Heils. Immerhin der erste schwarze Präsident der USA, d a s auf jeden Fall ist ein Fortschritt. Dazu ein Freund: „Weißt du, das mag jetzt düster klingen, aber einem Schwarzen als Präsident der USA gebe ich vielleicht vier Jahre. Dann wird er sterben.“ Finsterer läßt sich das Land nicht beschreiben; selbst ich erschrak.

22.08 Uhr:
[Am Terrarium.]
Bis eben Cello geübt, Schlags zehn sinkt hier der Bogen. Jetzt will ich Meineckes „Jungfrau“-Buch weiterlesen; Neumeisters „Könnte Köln sein“ hab ich noch im Zug zuendebekommen: es verplätschert ein bißchen; ich bin mir nicht sicher, was davon zurückbleiben wird. Meineckes Buch ist gewagter; allerdings hat er auch ein Sujet gewählt, mit dem ich nun ganz und gar nicht gerechnet hätte.

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