Eigenartig, daß die Todesstrafe dort zu Unrecht wird, wo man sie nach einem „ordentlichen“ Verfahren verhenkt, nicht aber, wo ein gezielter Todesschuß sie in der Aktion bewirkt, deren eine nur kleine Teilmenge die Notwehr ist. Ich werde diesen Schuß den Freischuß nennen. Denn auch diese Kugel, wenn sie denn trifft, ist vom Teufel gegossen: letztlich ohne Moral. Das Moralische tritt ja eben erst durch die Gerichtsverhandlung ein, auf die ein Angeklagter das Recht hat; aber genau eben dieses Moralische in der Gerichtsverhandlung läßt die verhängte Todesstrafe, bevor und wenn sie zur Ausführung kommt, derart unmoralisch werden. Hier wird die grundsätzliche Antinomie des rechtgültigen Strafens wie wohl des Strafens überhaupt entblößt: daß es ebenso barbarisch wie das Verbrechen ist, auf das es reagiert.
(CDXCIII).
Selbst wenn der Schuss gezielt und in der Absicht zu töten abgegeben wurde, sehe ich den Zusammenhang zu irgendeiner Form von Strafe nicht. Dazu müssten die Motive des Schützen bekannt sein. Und selbst dann erscheint mir der Zusammenhang zu sehr konstruiert.
@ metepsilonema (schwierig zu tippen…), ist der zusammenhang wirklich konstruiert? anhs „freischuß“, also der angeordnete, frei:gegebene, absichtsvolle shoot to kill soll, da der tod der zielperson nicht als risiko einkalkuliert, sondern als endzweck impliziert wird, zum gleichen ergebnis führen wie die gesetzlich verhängte todesstrafe (nur u die geht es hier ja): vernichtung eines als untragbare gefahr für seine mehr oder weniger weit gefaßte umgebung angesehenen straftäter, abschreckung und rache inbegriffen. (in diesem satz sind, genau genommen, mindestens fünf begriffe problematisch, aber sei’s drum!) soweit die analogie. die motive des schützen sind ebenso nebensächlich wie die des henkers, des mannes am stromhebel oder dessen, der die tödliche infusion auslöst.
der twist dabei ist: obwohl die verhängte todesstrafe einen ausgefeilteren gesetzmäßigen, also moralischen, prüfungsprozeß erfordert als der „freischuß“, haftet ihr, nicht ihm ein höheres maß an unmoral an.
da kommt man schon ins grübeln. ist also strafen „ebenso barbarisch wie das Verbrechen ist, auf das es reagiert“? wenn ich zeit hätte, würde ich den alten MARCHESE BECCARIA nochmal hervorkramen.
@Aikmaier Ich sehe nicht, warum diese Analogie notwendig ist, um zeigen zu können, dass die Todesstrafe moralisch nicht tragbar ist. Und selbst wenn: Ich meine, dass der Vergleich nicht hält, weil hier Äpfel mit Birnen verglichen werden. Auf der einen Seite steht etwas gesellschaftlich Akzeptiertes bzw. Gewolltes, auf der anderen Seite eine im Graubereich von Affekt und freiem Entschluss getroffene Handlung (ich gehe einmal davon aus, dass hier auf die aktuellen Ereignisse in Griechenland anspielt wird).
Was ist der Schuss nun? Ich lese angeordnet und danach absichtsvoll. Das geht nicht zusammen. Die Motive des Schützen sind für eine moralische Bewertung nicht nebensächlich. Im Gegenteil: Blendet man sie aus, wird der Freischuss ein zufälliger, und ist damit moralisch nicht bewertbar. Die Absicht hinter der Handlung macht ihre Moralität aus.
@ Metepsilonema; „notwendig“ ist diese analogie nicht. aber möglich. ich persönlich dachte bei anhs „freischuß“ (und mag damit falsch liegen) an einen im rahmen einer (para)militärischen oder polizeilichen aktion sanktionierten todesschuß. daher angeordnet. die einsatzleitung, wo immer sie liegen mag, entscheidet ad hoc über leben und tod des zielperson. daher absichtsvoll. die crux ist, daß solche todesschüsse in aller regel weniger hinterfragt werden als gesetzmäßig ausgesprochene todesstrafen, gegen die (siehe usa, siehe china?) eine etablierte lobby besteht, was ja auch gut so ist. nur: wenn man die relationen in den blick nimmt, wie anh das im aphorismus getan hat, wundert man sich schon, nein?
ps.: in oben genanntem szenario spielen die motive des schützen eben keine rolle, denn er/sie führt befehle aus, die ihrerseits zu hinterfragen wären. niemand würde auf die idee kommen, sagen wir: einen amok-schützen an einer mittelamerikanischen high-school für moralisch unbedenklicher als die giftspritze zu halten, oder?
@Aikmaier. Exakt.
@Aikmaier Wir sprechen doch von demokratischen Rechtsstaaten, oder? Ich würde daher bitten, paramilitärische, militärische und polizeiliche „Aktionen“ auseinander zuhalten.
Bleiben wir einmal bei der Polizei, die scheint mir für unseren Zusammenhang am wichtigsten (passendsten). Es wird nicht einfach über das Leben einer Zielperson entschieden. Es gibt Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, und Ermessensspielräume der handelnden Beamten. Ein Schuss aus Notwehr ist ein absichtsvoller, und gezielter Schuss, wenn auch kein angeordneter. Wird ein Terrorist im letzten Moment durch Waffengewalt am Zünden einer Bombe gehindert, dann entscheidet der Beamte selbst, es bleibt keine Zeit für Instruktionen (bzw. lassen die einen Handlungsspielraum; es ist klar wie gehandelt wird, falls der Terrorist sich ergibt: er wird nicht erschossen). Und wenn ein Beamte während eines Einsatzes ausrastet und wehrlose Demonstranten erschießt, ist das wieder eine andere Angelegenheit. Der Freischuß ist eine unzulässige, schematisierte Reduktion der Realität. Außerdem: Kein Polizist handelt wie eine Maschine, die Befehle ausführt, ohne sein Tun verantworten zu müssen, und auch der Krieg ist kein rechtsfreier Raum. Darum gilt gerade das nicht: er/sie führt befehle aus.
Zur Verwunderung: Nein, ich wundere mich nicht. Ein Beamter im Antiterroreinsatz steht in einem ganz anderen Kontext als ein Henker der die Giftspritze verabreicht. Ersterer handelt präventiv (Prävention ist die Hauptaufgabe der Polizei, das sollte man nicht vergessen), er setzt sich selbst für die allgemeine Sicherheit ein, und wendet Gewalt nur im äußersten Notfall an – zum Schutz seines, oder anderer Menschen Leben. Die Todesstrafe hingegen ist alles andere als präventiv (außer ihre [vermeintlich] abschreckende Funktion); sie ist ein Akt, hinter dem man nicht zu Unrecht auch Rache und Strafe vermutet.
@ Metepsilonema: Sie haben mit allem, was Sie sagen, recht. und doch ist es mit der „schematisierenden Reduktion der Realität“ so eine sache. auch Ihre argumentation scheint mir von solcher nicht frei zu sein.
demokratische rechtsstaaten, ja. aber auch die setzen blackwaters und bürgerwehren ein – nicht alle, aber einer genügte, um die möglichkeit zu belegen.
sicher ist zwischen einem polizisten im „krieg gegen den terror“ und einem ‚henker‘ (wie Sie ihn nennen) situativ zu differenzieren; sicherlich handeln beide nicht ohne emotionale und auch moralische beteiligung. jedoch: die moral, um die es mir (anhand von anhs aphorismus) ging, ist eben nicht eine individuelle, sondern eine gesellschaftliche. jene nämlich, die zwei handlungen mit ganz unterschiedlichen ethischen „vorläufen“ und sicherungsmechanismen austattet; handlungen, die gleichwohl im ergebnis konvergieren: der auf die eine oder andere weise als ‚lebensunwert‘ betrachtete (ja, so verhält es sich im kern) mensch ist tot; handlungen, unter denen ich nicht die tat des einzelnen polizisten, soldaten, ‚henkers‘ verstehe (jene haben ggf. ihre je eigenen probleme davonzutragen), sondern eben einen gesellschaftlich grundierten und insofern überpersonalen handlungs-ablauf.
prävention, ja, ist die erste funktion der polizei. allerdings wird auch, z.B. von vehementen befürwortern der todesstrafe, dieser eine präventive wirkung zugeschrieben: schlicht deshalb, weil ein gesellschaftlich untragbares, schädliches oder gar zerstörerisches subjekt nicht mehr ist und daher auch (unwiderruflich durch amnestien, gefängnisbrände, justizversagen) nie mehr wird schaden anrichten können.
rache und strafe spielen hier staatlicherseits eine rolle; inwiefern freilich bei polizisten oder soldaten rache und strafe als individuelle motivationen für die tötung eines gegenübers (feindes, „terroristen“) eine rolle spielen, kann nur im einzelfall geklärt werden, wenn überhaupt. jedoch (stichwort: reduktion der realität), ob der feind ein feind war und nicht nur ein frierender zivilist, der einem feindlichen soldaten mantel und mütze geklaut hat; ob er terrorist ein terrorist war oder doch nur ein geschmackloser spaßvogel mit einer bombenatrappe, stellt sich in aller regel erst im nachhinein heraus.
dies alles wäre zu bedenken, wollte man aus einem aphorismus einen leitartikel für den politikteil machen. wollte ich aber nicht, sondern nur auf die unterschiede der moralischen (nicht der juristischen) legitimation hinweisen.
@Aikmaier Ich bezog mich auf Rechtsstaaten, weil hier die Verhältnisse klar geregelt sind (es gibt gesetzliche Grundlagen), und weil sich einfacher feststellen lässt ob sich Dinge falsch (also nicht wie vorgesehen) verhalten. Ich meinte nicht, dass es in diesen Staaten keine Misstände gibt. Aber man kann sie als solche ausweisen.
Das Wort Henker ist unglücklich gewählt, ich weiß nicht warum ich es verwendet habe.
Mir drängt sich die Frage auf, was gesellschaftliche Verantwortung jenseits „aufsummierter“ individueller Verantwortung sein kann. Ich verstehe aber immer noch nicht ganz warum der Ergebnisvergleich sein muss, oder anders, was er zum Verstehen beiträgt. Natürlich ist ein Mensch tot, der bei einem Autounfall ums Leben kam; und einer der hingerichtet wurde; und ebenso einer, der in einem Akt von Notwehr ums Leben kam. Aber das Ergebnis gleichzusetzen, ohne die zuvor erfolgten Ereignisse berücksichtigen zu wollen, ist mangelnder Differenzierungswille, Schlamperei, oder Absicht. Niemand wird als per se als lebensunwert angesehen, Maßstab ist einzig sein Verhalten. Wenn mich jemand töten will, dann hat er mit meinem Widerstand zu rechnen. Wenn jemand Bomben legt, dann wird die Polizei ihn davon abzuhalten versuchen. Wer wird hier von vornherein als lebensunwert betrachtet? Zu so einem Schluss kann man doch nur kommen, wenn man es vom Ergebnis her unterstellt. Ich leugne nicht, dass es gesellschaftlich-kulturell bedingte – von mir aus „überpersonale“ (was auch immer das genau in diesem Kontext bedeuten soll) –
Normen und Wertvorstellungen gibt, an denen das Verhalten einzelner gemessen wird. Ich bleibe aber dabei, dass das gesellschaftliche bloß eine Abstraktionsebene dessen ist, was sich aus individuellen Interaktionen ergibt bzw. worauf sich Individuen geeinigt haben. Hier einfach von einer gesellschaftlichen Prägung zu sprechen, und alles andere außen vor zu lassen, halt ich für verkürzend. Sonst wäre es ein Leichtes all unser Fehlverhalten zu entschulden.
Auch ein Aphorismus hat sich auf Stichhaltigkeit und Anspruch hin prüfen zu lassen, das hat nichts mit politischen Leitartikeln zu tun; und die unterschiedliche moralische Legitimation haben Sie doch in Frage gestellt.