Arbeitsjournal. Dienstag, der 12. Mai 2009.

6.40 Uhr:
[Arbeitswohnung, Canto Gregoriano: Puer natus et nobis (Monasterio de Santo Domingo de Silos).]
Um fünf war ich eigentlich wach, nachdem ich erst wieder nach zwei im Bett lag; aber ich mochte nicht hoch. Ich bekam, per SMS, nachts ein Leid mit, das absehbar gewesen war, ich aber in dieser Heftigkeit nicht vorausgeahnt habe; man mag das unsensibel nennen. Es hängt mit einem anderen Eintrag zusammen, mehr sag ich nicht, es beschäftigt mich sozusagen still. Es war vorauszusehen, ist aber nicht abwendbar.
Mit M. nachts zusammengesessen, der mir Grundlagen beibrachte für das Projekt; als ich schon einmal von das Projekt schrieb und wochenlang nichts Genaues sagte, war >>>> das gemeint gewesen. Das jetzt ist wahrscheinlich noch viel größer, umfassender, stellt vielleicht Weichen. Auf die wildeste Idee kamen wir nach zwei >>>> Taliskers. Ich werde das morgen in Heidelberg mit Kühlmann und Aikmaier diskutieren; man wird sie mir, wenn ich sie durchziehe und sollte die „Gegen“seite mitmachen, als Verrat auslegen; es ist aber nichts als die Konsequenz aus vielem, was ich denke und so auch publiziert habe. Wenn man von Bord eines Schiffes nicht mehr springen kann, ist es sinnvoll, sich mit Nautik anzuvertrauen. Im weitesten Sinn betrifft das a u c h die >>>> Urheberrechtsdiskussion; >>>> Gassner prophezeite es mir schon vor fünf Jahren: „Man wird anders Geld verdienen als mit den Texten selber, die Texte selber werden frei sein“; woran, wie ich finde, auch etwas ist, das ihrem Character entspricht, jedenfalls eher und weitergehend entspricht, als es die Zuformung zur Ware oder sagen wir auch nur zu etwas „Beeigentumtem“ausdrückt. Ich werde anders Geld verdienen m ü s s e n, heißt das freilich a u c h. Es hat aber auch etwas furchtbar Lächerliches, wenn sich die riesige Anzahl gesellschaftlich bedeutungsloser Autoren wie ich, die zumal eh kaum von ihren Arbeiten leben können, hinter den Heidelberger Appell stellen; es hat etwas von Leuten, die sich auf diese Weise wenn nicht die Einkünfte, nicht den Rang, nicht die öffentliche Bedeutung von Leuten wie >>>> Mankell & Enquist herbeischwindeln, aber meinen, durch eine Unterschrift daran zu partizipieren. Mit einem Wort: das ist Kleinbürgerei. Das außerdem Komische daran ist, daß sie ihre Arbeiten des Broterwerbs, die die eigentlichen Arbeiten finanzieren sollen, dadurch schützen, allenfalls; die eigentlichen Arbeiten werden nun erst recht bedeutungslos. Mal abgesehen davon, daß es im Hintergrund des Heidelberger Appells um etwas geht, das viel mehr eine Arbeitsrechtsfrage und in den Arbeitsverträgen zu regeln wäre, als daß es sich wirklich um urheberrechtliche Fragen handelt.
Also darüber sprachen wir, weil auch M. erst einmal auf der Anti-Google-Seite stand. Dabei will die Gegnerschaft gegenüber Google imgrunde nur eine Medientechnologie schützen – oder meint, sie zu schützen -, die derzeit stirbt: das Buch: das Buch als Erlöser-, nämlich Warenfetisch „Bildung“. Man w i l l nicht sehen, man stampft mit den Füßen auf wie Kinder, man wird überrollt. Von den Kindern, auch von den eigenen. Wieder einmal. Klaren Blickes war alles, was jetzt deutlich wird, bereits vor zehn Jahren zu sehen, ja >>>> dielmann sah es vor fünfundzwanzig bereits. Anstatt nun das Schiff selber zu übernehmen, also zu meutern und sich selbst zu Eignern des Schiffes zu machen, hält man sich an die Regeln und springt in die stürmische Hohe See, aber solidarisch und mit gutem Gewissen. Märtyringe, sozusagen, von: „Lemming“.
Um halb elf ab nach Charlottenburg, Cellounterricht, dann zu Αναδυομένη, also wenn sie mich noch sehen mag. Da ist erzählen nötig, Offenheit – na: eh. Um zwei/halb drei sollte ich wieder hier sein, weil mein Bub heut früher kommt, nur fürs Cello; sein Großvater ist drüben zu Besuch, von dem möcht er ja was haben. Meine >>>>morgige Lesung vorbereiten, weitermachen mit dem Projekt: Briefe vor allem, kontakten, Briefe beantworten. Und schon mal herumformatieren, dabei mögliche Links und Medien einzeichnen. Ich hab ein bißchen den Eindruck, daß ein Netz-Roman an die Bildenden Künste heranrückt. Alles fast neu für mich.

16.29 Uhr:
Schwere Gespräche, innige, traurige, zu Spargeln und zwei Kabeljauscheiben. Fünf prachtvolle Päonien. Liebe S.,
Ich habe, das werden Sie eben gelesen haben, auf die mir eigene Weise >>>> auf die Frage nach der Sterblichkeit reagiert.
Auch Bücher zerfallen. Alles zerfällt. Irgendwann. Ist es nicht auch das, was den Moment so bedeutsam sein läßt? Göttern, die ewig sind, wird alles zu nichts. Wollte wirklich mit ihnen jemand tauschen?
Seien Sie umarmt.
Unvermittelt brach der Tod herein. Ich habe den Verdacht, er komme i m m e r unvermittelt. Obwohl er sich, in einer milden, moderierten Art, schon vorher zu erkennen gab: aber nur dahin, daß es ihn gibt.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Dienstag, der 12. Mai 2009.

  1. Ich hab ein bißchen den Eindruck, daß ein Netz-Roman an die Bildenden Künste heranrückt. Ihr Eindruck täuscht Sie nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass schwarze Lettern gleichermaßen zu Textskulpturen und zu mobile pictures werden, die Gedächtnisräume und Erinnerungsorte evozieren, deren innerer Klang den Weg in Audiodateien sucht. Ebenso bietet das Netz Gelegenheit die Plastizität einzelner Texte durch Videos hervorzuheben oder sie miteinander zu verbinden. Der Netzroman wird auf diese Weise zu einer Art Performance und Installation, dessen möglicher zentraler Beweggrund, Bewegung, im doppelten Sinn des Wortes, abbildet. Die Vernetzung von typographischem Text mit Audiovisualität kann spannend werden, wird doch der Roman für seine „Leser“, dann multimedial von der Fläche befreit, Räume erobern können, die bisher über den Text decodiert worden sind.

  2. völlig einverstanden Die Bücher werden bald wie die Kameensammlungen im XVIII. Jahrhundert erscheinen.
    ‚Ja, hier ist ein Gegenstand ausgestellt, den die Leute damals in die Hand nahmen, und tatsächlich lasen, wie erstaunlich es auch klingen mag. Die Glanzperiode solcher Gegenstände war… warten Sie mal… das XX. Jahrhundert, ja das ist es ungefähr… Früher existierten sie schon aber nur für die Elite. Einige Jahrzehnte haben diese Gegenstände einen grossen Erfog gekannt… wie nannte sie man schon? … Bücher, ja, Bücher, komisches Wort, ja, ich weiss… und hier hinter diesem Schaufenster haben wir ein Prachtexemplar von solchen sog. Büchern“ wird eine charmante Dame im Musem der alten Kultur rezitieren, indem sie durch das Schaufenster auf den „Wolpertinger“ hindeutet, der auf blauem Samt steht.
    Ihr Projekt eines Gesamtwerks ist konsequent lieber ANH, denn Sie sind ein ebenso grosser Kenner der Musik wie der Literatur, und die beiden kreuzen sich in Ihrem Gedächtnis, also soll es auch tatsächlich erscheinen, wie sie bei Ihnen leben.
    Ein bescheidener Vorschlag: Jeden Tag notieren Sie in Ihrem Arbeitsjournal, welche Musik Sie hören; aber wir Leser möchten auch gerne diese Musik beim Lesen ebenfalls hören. Das wäre schon ein Anfang !

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