Arbeitsjournal. Mittwoch, der 9. September 2009. Mit Sex & Blog.

7.25 Uhr:
Manchmal ist’s nur >>>> zum aus der Haut fahren; die Überschrift des überm verlinkten Text stehenden Beitrags ist schon korrekt. Verhältnismäßigkeiten, sag ich nur. Klar, man will von mir Bescheidenheit einfordern; kriegt man aber nicht, mit Grund nicht. Der nächste Irrtum, der hier dauernd rumschwelt, ist, ich wolle eine Alternative zu den Printmedien entwickeln, und an diesem Anspruch werd ich dann gemessen. Es ist meiner aber gar nicht, sondern mich interessiert Weiterentwicklung; ich sehe, daß die belletristische Buchkultur untergeht, an Bedeutung hat sie seit zwanzig Jahren ständig verloren, von „Leitkultur“ kann man schon g a r nicht mehr sprechen, und also versuche ich eine Ergänzung, ein Hand in Hand, keineswegs ein Stattdessen. Sofern ein Stattdessen dann aber doch, so allein aus der Not heraus gegenüber einem mobbenden und blockierenden Betrieb – oder, ebenso, einem, der zwar gern würde, aber rein finanziell nicht kann. Der Publikationsweg mit Zukunft geht ins Netz, zweifelsfrei, das ist aber kein Grund, die Printmedien für „veraltet“ zu erklären; sie werden „nur“ von einer Entwicklung überrollt, die man durchaus als wenig goutierbar empfinden kann; sie ist dennoch, in einer kapitalistisch organisierten Demokratie, logisch: Quote zählt für Kunst nun genau so wie für Wahlen; Quote ist die Anzahl der Wählerstimmen.
Vergessen wird dabei, daß, abgesehen von den funktionalen (machtmoralischen) Hintergründen ihrer beauftragten Entstehung (etwa durch die Kirche) und den kunstfreudigen oder repräsentativen einzelner Mäzene, ausgefeilte Kunst n i e Sache des Volkes gewesen ist; sie war immer elitär. Für Kunst hat sich das nicht geändert, warum auch? Wo kein Finanzier ist, liegt Verkanntsein ganz vorn und versperrt den Blick selbst derer, die es anders wissen müßten. Das Volk schert’s nicht, das will Brot und Spiele, und gegens Brot ist ja nun wirklich nichts einzuwenden, dafür ist sogar, und entschieden, zu kämpfen. Um die Spiele liegt es anders: Tarantino organisiert das Gladiatorenbelustel.

[Kimmo Hakola, Klarinettenqintett.]

Es vergeht viel Zeit jetzt mit meinem und für meinen Jungen, seit er nebenan aufs Gymnasium geht. Mittags koche ich, er kommt mit seiner Freundin, beide essen, beide machen ihre Schulaufgaben hier, ich übe mit dem Buben, dann wird gemeinsam Cello gespielt. Danach hat er frei bis zum Abend. Wenn er bei mir auch schläft, wie heute, dann klappt es auch mit der Morgenarbeit nicht recht; um hineinzukommen, brauch ich Luft „nach hinten“; davon ist nicht genügend, wenn bereits um sechs der Kakao bereitet wird, dann das Frühstück, Schulbrote schmieren, drauf achten, daß die Zähne geputzt werden usw. Elternhaushalt, ganz schlicht, gut, sehr schön sogar, aber nicht arbeitsfördernd. Zeitökonomie wäre angesagt, die ich aber deshalb momentan nicht hinbekomme, weil ich so ins Leere hineinscheibe und, von den Gedichten einmal abgesehen, auch nicht recht weiß, was. Dazu kommt die Zeit, die mein Cello-Üben braucht. Der dritte Anderswelt-Brocken liegt da. Ohne Aussicht auf Veröffentlichung mag ich nicht wieder drangehen; fast ebenso steht’s mit den Bamberger Elegien; ich hab so ein grundsätzliches Gefühl von Vergeblichkeit. Was mir das Leben-selbst aber nicht vermiest, es hat innige, auch lange obsessive Phasen, an denen Αναδυομένη nicht ganz „unschuldig“ ist, aber auch meine Netzgespielinnen halten meine amouröse Organik chemisch recht in Gang; dazu kommt die Musik, kommen Überlegungen zu einer Art neuer sinfonischer Dramaturgie der Aufführungspraxis von Konzerten, über die ich jetzt mit Zagrosek zu sprechen begonnen habe – eine Weiterung seines Reformkonzepts zu szenischen Opernaufführungen. Er wartet jetzt auf ein Konzept von mir. Das ist dann natürlich auch wieder ohne ökonomische Folgen, schon weil Zag in zwei Jahren fortgehen wird und ich an Berlin gebunden bleiben werde und ja auch bleiben will.

8.10 Uhr:
Wunderschön! Ich bring meinen Buben hinab für seinen von hier aus 2-Minuten-Schulweg, und da steht vor der Haustür ein Klassenkamerad, um ihn zu erwarten… In solchen Momenten denk ich, das haben wir Eltern gut gemacht, daß er so schnell Freunde hat, so schnell „dazu“gehört; das ist ganz sicher nicht mir, sondern ausschließlich लक zu verdanken; durch mich hätte sich nur meine Asozialität fortgepflanzt, meine nicht selten aggressive Feindschaft gegen jede Form von Gruppe; die genetische und soziale Mischung ist also gut, egal, was gewesen ist. Das zu beobachten, macht milde, macht einverstanden und ist ein permanenter Quell von Glück. Kinder schützen einen davor zu verbittern; Bitternis ist einfach keine Option, ganz ebenso wie Selbstmord, den man einem Kind a u c h nicht antut. Man darf fallen, ja, im Kampf, drin untergehen, das ist in Ordnung, wenn man den Kopf nicht gebeugt hat: das ist etwas, was sich auch posthum weitergeben läßt. Über einen Selbstmord läßt sich nur Depression weitergeben, die ja etwas anderes als Trauer ist.

(Im übrigen, wenn eines Tages bekannt und allgemein akzeptiert sein wird, was ich literarisch insgesamt in die Erde gepflockt habe, wird >>>> das Arbeitsjournal-als-Tagebuch eine andere Bedeutung erlangen, >>>> als sie jetzt angemosert wird. Dazu gehören auch die Linksetzungen aufs Selbe aus verschiedenen Perspektiven.)

Erstaunlich und auffällig bleibt allerdings die Kraft, mit der Weblogs wie Die Dschungel direkte Emotionen auslösen können. Schon in den Erotikchats fiel mir das immer – auch an mir selber – auf. Nicht nur an den oft stundenlang anhaltenden Erektionen, die sie auch ohne jedes Bild bewirken können, sondern gerade auch an Verletzungen, die ein fehllaufender Chat zufügen kann, an der Wut, bis hin zu Eifersuchtsanfällen. Ich habe den Instinkt, daß einer solchen Psychomechanik auch all jene ausgeliefert sind, die Die Dschungel, vor allem aber mich, auf den Tod nicht riechen können, und doch zieht es sie mit einer geradezu Urgewalt immer wieder hierher zurück. Darüber wäre ein nächstes Segment der >>>> Kleinen Blogtheorie zu schreiben.

20.29 Uhr:
Ich zitier einfach mal aus einem Brief, den ich grad schrieb:Chaos. Ich komm zu nix, mein Junge hat alles durcheinandergebracht; wenn seine Freundin und er ab mittags hiersind, funktioniert nichts mehr. Und er hat so viel Scheiße gebaut heute, daß ich einen Wutanfall bekommen und ihn jetzt ohne Abendbrot und, seit er zwei war, zum ersten Mal ohne Vorlesen, das bei uns abends ein fast heiliges Ritual ist, ins Bett geschickt habe. Jetzt liegt er völlig stumm auf dem Vulkanlager und sagt kein Wort, war nur kreideblaß, als ich ihn anschrie (und ich k a n n schreien); so blaß schlich er dann auch aufs Lager. Und ich fühl mich grad sauscheiße, habe Mitleid, muß aber auch wieder konsequent bleiben. Sollte ich hören, daß er zu weinen beginnt, leg ich mich, bis er eingeschlafen ist, zu ihm….
Seine Pizza wird jetzt in der Küche kalt, mein Essen auch, weil ich keinen Appetit mehr habe; meins wird verderben, seins kann er morgen früh als Frühstück essen. Scheißescheißescheiße.
Aber hielt die Konsequenz dann nicht durch, einfach, weil es zwischen uns ein unbedingtes Gesetz gibt: Man schläft nicht ein, ohne sich vertragen zu haben. Das ist mir im Blut, und auch er, später einmal, soll das achten. Also wartete ich bis vor zehn Minuten ab, Du lagst weiterhin völlig stumm da. „Schläfst du?“ „Nicht richtig.“ Ich legte mich zu Dir. Wir sprachen. Dann Dein Lächeln.

Es war heute aber wirklich scheiße, mir fällt einfach kein anderes Wort ein.

Über dem Tag, wegen der dauernd rein- und rausrennenden Kinder, nur an den Brüsten der Béart gesessen; in sich geschlossenes, gereimtes Erzählgedicht. Finden Sie mal ein deutsches Reimwort auf „biglietti“; man spielt sogar, was nun wirklich nicht paßt, mit Konfetti herum, Sprachkonfetti. Ich sitz jetzt noch immer an dem Gedicht. Die Kinder haben im zweiten Hinterhof eine Schlacht mit roten Beeren veranstaltet, dummerweise die Hauswand beschmiert, auch die Fensterscheiben der Nachbarn; dann kamen sie hier hoch, die Arme bis zu den Schulterkugeln rot verschlickt. Das Bad sieht aus wie Sau. Das war nur eines, nicht mal das Schlimmste, das war ja allenfalls ein Kinderstreich, der freilich teuer werden könnte. Eine Nachbarin, kurz vorm Abendessen, klingelte… ob das mein Sohn sei… an sich müsse man die Gebäudereinigung usw. Zwei Tage vorher hatten sie die Wände schon mit Straßenkreide vollgraffito’t; da gab’s eine Drohung der Hausverwaltung. Ich kriegte die Frau aber milde. Den Schlagzeugunterricht hat mein Bub vergessen, er hat wieder sein Pausenbrot nicht gegessen, dieses „Spiel“ geht seit zwei Jahren, dauernd wirft man Essen weg; er hält sich nicht an Zeiten, aus halb sieben macht er Viertel n a c h sieben, das hat schon Routine. Also konnte auch Cello nicht mehr geübt werden. Und und und.
Sauschwer, bei all dem auch nur irgend einen Arbeitsprozeß konsequent zu verfolgen.

23.13 Uhr:
So, der Gedichtentwurf steht. Einstellen werd ich ihn aber erst morgen, ich will in der Frühe noch mal drübergehen. Perfekt ist er noch nicht. Aber stimmt.

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 9. September 2009. Mit Sex & Blog.

  1. Wer jemals mit Ihnen auf eine Bank vor dem Haus saß, die Sommerwärem fühlte, die Fledermaus schaute die den Hof besucht und bemerken konnte wie Sie freundlich jedes sich zu wendende Gesicht grüßten, wird nicht nachvollziehen können was Sie da mit Asozialität meinen.
    Ich verstehe schon, Sie meinen Gruppen. Aber auch das wird Ihr Sohn noch merken, was das bedeuten kann. Die Gruppe.

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