ANH, Schöne Literatur muß grausam sein. Schriften und Reden zur Literatur. Überarbeitung des Typoskripts (1): Dieser phantastische Raum (der Anfang).

Die Seele der Fantastischen Literatur ist anders als ihre Manier konservativ, ihr kaltes Herz glaubt nicht an Entwicklung. „Die Alten waren, die Alten sind und die Alten werden sein.“1 Das hat sie anfällig gemacht für die politische Rechte, auch für Rassismus, und diese Ferse wird ihr, wie Achilles, bleiben. Es beschreibt aber auch ihre Wahrheit. Denn ihr heißes Herz beharrt auf Widerstand. Sie gehorcht nicht, – nicht einmal ihren eigenen Bewegungsgesetzen, geschweige denn Konventionen. Darum eignet sie sich besser als jede andere Dichtung zum Instrument poetischer Er­kenntnis. Sie ist die „geworfenste“ aller belletristischen Künste und schon ihrer Su­jets wegen stets in Gefahr, daß sie scheitert. Da gibt es kaum eine Absicherung, nur sinnliche Bildkraft, Sprachklang und intellektuelle Spekulation. Die Fantasie schweift scheinbar ungebunden, die Gesetze des logischen Handelns scheinen aufgehoben zu sein und die des Sozialen nun überhaupt. Aber alles ist sich-einlassen-Müssen. Der offene Raum fordert ja mehr als der zwischen Wänden. Man segelt übers Meer, ohne die Küsten zu kennen, ohne sie oft sogar wissen zu können. Nach unten geht es zu Gräben hinab. Gräben der Seele, die die Rückseiten der fliegenden Fantasien sind. Wehe, wenn da ein Sturm kommt. Der uns dann packt… „damit steige ich in die Re­gionen des Eisgebirges und verliere mich auf Nimmerwiedersehen.“2
Die Fantastische Literatur
ruft den Sturm, der Realismus möchte sich vor ihm schützen. Deshalb seine Liaison mit der Arbeitswelt und dem sogenannten einfachen Leser. Auch der zieht es vor zu ankern und die Elemente abzuwarten, indes Phantas­tik mitten hineinsteuern, sich ihnen aussetzen will… und uns dabei ihnen aussetzt. Denn sie sind ja nicht draußen, sondern in uns. Nach draußen werden sie „nur“ pro­jeziert. Es sind unsere eigenen Dämonen, die von der Phantastik aus den Kategori­en des normalen Alltags, unserem euklidischen Raum, entbunden werden.
Wohl wahr, der Realismus kommt öfter heil im Heimathafen an. Aber er blieb ja imgrunde immer darin oder hielt sich ans Fahrtwasser, weshalb er nichts anderes zu berichten weiß, als daß die Ware sich mit Mehrwert erwartungsgemäß absetzen ließ oder daß er unter die Matrosen nicht so ungerecht verteilt werden solle. Schafft es hingegen die andere, segelt phantastische Kunst in den Hafen, da rennen die Leute aber was an den Kai! Denn
die war weit draußen. Selbst Daland gibt da die Tochter daran.

1) Lovecraft, Das Grauen von Dunwich, in: Ctulhu,
Geistergeschichten, dtsch. von H.C.Artmann,
Frankfurt am Main 1972, S. 148.

2) Kafka, Der Kübelreiter, in:
Sämtliche Erzählungen, hrsg. von Paul Raabe,
Frankfurt am Main 1971, S. 196.

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