Keine Spur mehr von Blitz, Donner und Sturm, wenn >>>> die Zauberoper beginnt. Aber mit Bühnenzauber wird man sonst gut unterhalten in der Frankfurter Oper. In einem weißen Kubus, dessen Wände seitlich und hinten kreisrund ausgeschnitten sind und dessen Frontseite glücklicherweise ganz fehlt, weilt Prospero und wirkt mit weißer Magie. Im weiten Zaubermantel bewegt er sich im engen Raum, hebt priesterlich beschwörend die Arme und verwandelt sich, indem er zur „Ideal“-Schreibmaschine greift, zum Autor, der schreibend eben das erfindet, was zeitgleich um ihn herum geschieht. Seltsame Vorkommnisse beleben die Szene, fleischgewordene Geister fahren kopfüber aus dem Bühnenhimmel herab und nehmen des weisen Denkers verworfene Weltentwürfe in Empfang. Dann aber erscheint sie, denn Ariel ist eine Frau, gewandet wie eine Sekretärin der Gründerzeit und gibt die höchsten Töne von sich, die man von einer menschlichen Stimme je vernommen hat. Die Koloratursopranistin Cyndia Sieden ist mit ihrem hochvirtuosen Zwitschern von Anbeginn der Star des Abends, und man gewinnt den Eindruck, daß die Oper für sie geschrieben wurde.
Der englische Komponist Thomas Adès, der lange die Bürde des zu sehr gelobten Wunderkindes ertragen mußte, hat mit seiner zweiten Oper, „The Tempest“, ein Sujet gewählt, das, weil von Shakespeare, zu den britischen Nationalheiligtümern zählt, also unanfechtbar ist. Mit seiner ersten Kammeroper „Powder Her Face“(1995), die das sexuell freizügige Leben der Margaret Campbell, Duchess of Argyll, musikalisierte, hatte er die Untertanen des Königreiches wohl nicht genügend amüsiert. „Der Sturm“ nun garantiert nicht nur Keuschheit, sondern vor allem alle Freiheiten, die eine ausgreifende Klangphantasie provozieren. Aber Adès läßt sich nicht provozieren. Oder anders gesagt: Die Erwartungen sind falsch. Die uns bekannte Musik dieses Komponisten ließ von Anfang an ein altmeisterliches Programm erkennen: handwerkliche Gründlichkeit und Präzision, Bildung, dekorative Eleganz und Leichtigkeit. Mit „The Tempest“ setzt er das Programm fort. Die vielen Zitate, die er beziehungsreich und pointiert in den agogischen Fluß einarbeitet, sind sehr diskret behandelt, wie wenn man mit seiner Wortwahl sich auf eine literarische Ikone bezieht, ohne mit Gänsefüßen die Grundgestalt des Satzes zu stören. Auch die einem Orchester zur Verfügung stehenden dramatischen Effekte sind mit Noblesse eingesetzt, wirken selbst wie Zitate. Oft wird die Orchesterstimme nach italienischer Tradition parallel zum Gesang geführt, dabei aber emsig umgefärbt. Und zuweilen, besonders in den Liebesszenen und dem Disput Prospero-Ariel, steigert sich diese instrumentale Differenzierung zu einer dramatisch aufgeladenen, syllabischen Klangfarbensprache, wie sie einst Jon Leifs kultiviert hatte. Überhaupt hebt Adès seine Gesangssoli, die an die Stelle von Arien getreten sind, jeweils durch eine raffinierte Orchesterbehandlung wie geschliffene Edelsteine hervor. Aber auch Ensembles hat er zu klingenden Kostbarkeiten ausgearbeitet, gipfelnd in einem herrlichen, kanonisch geführten Quintett gegen Ende der Oper.
Indem er die Kalamitäten, die bei der Umarbeitung des Shakespeare-Textes in ein operntaugliches Gerüst entstehen, übersprang und die Librettistin Meredith Oaks mit einer neuen Fassung der alten Inhalte beauftragte, konnte Thomas Adès eine gereimte, schlank-funktionale und von britischem Understatement zusammengehaltene Vorlage komponieren. Prospero (Adrian Eröd), ehemaliger Herzog von Mailand, der von seinem machtgierigen Bruder Antonio (Michael McCown) mit Hilfe des Königs von Neapel(Richard Cox) vertrieben wurde und mit seiner kleinen Tochter Miranda (Claudia Mahnke) und seiner riesigen Bibliothek (!) auf einer fernen Insel landete, rächt sich an den Usurpatoren, indem er mit seinen magischen Fähigkeiten das Schiff, auf dem der gesamte feindliche Hofstaat reist, in einem selbsterzeugten Sturm havarieren läßt. Das bekennt er anfangs seiner inzwischen mannbaren Tochter, die vom eingeborenen Inselherrscher und von Prospero versklavten Caliban (Peter Marsh) belästigt wird. „Alle Teufel sind hier. Ist das deine Kunst?“ fragt Miranda ihren Vater. Der will seine Rache weitertreiben, weist Ariel an, die Schiffbrüchigen labyrinthisch über die Insel irren zu lassen und den Königsohn Ferdinand (Carsten Süß) von ihnen abzuspalten, damit sie ihn für tot halten. Diese Idee läßt Miranda auf Ferdinand treffen; sie verlieben sich auf der Stelle, was zu verhindern nicht in der Macht Prosperos steht. So kommt es zu der paradoxen Situation, daß der schöpferische Magier, der alles Geschehen inszeniert (und sich selbst mit), darüber in maßlose Wut gerät und die Möbel seiner Würfelresidenz umstürzt (Inszenierung: Keith Warner). Ob er diesen unmöglichen Ausraster auch selbst inszenieren konnte, ist eine philosophische Frage. Nach manchen Zaubertricks, durch die etwa ein frugales Mahl aufgetischt erscheint, das ebenso flink wieder verschwindet, burlesken Einlagen mit betrunkenen Bootsleuten (Magnus Baldvinsson, Christopher Robson) und Caliban, nach Auffinden des verlorenen Sohns und – außer mit Antonio – Versöhnung verzichtet Prospero auf seine Zaubermacht und kehrt heim, in die Zivilisation. Caliban, der schon mit einer Samurai-Rüstung Zivilisation eingeübt hatte, bemächtigt sich nun der Schreibmaschine, bleibt allein auf der Insel zurück und hat das letzte Wort. Die freigelassene Ariel aber hat die letzten Töne, gesungen mit den Vokalen ihres Namens: A-i-e.
Es fällt auf, daß sich unter den intensiven, lebhaften Personen der Oper zwei relativ blasse Figuren befinden, nämlich die beiden feindlichen Brüder Prospero und Antonio. Der erste, weil er als spiritus rector des Geschehens (bis auf den Wutausbruch) nicht Teil desselben ist, sondern sich im Auge des Orkans befindet, der zweite, weil er – auch das paradox – als gnadenloser Ökonom und Machtmensch nur mit der Pistole herumfuchteln kann, aber außer stimmlichen Ausrutschern in den Höhen keinen ausgeprägten Rollencharakter zugedacht bekam. Aber Mickey Mouse ist ja auch eine blasse Figur. Dafür ist das Sichtbare in „The Tempest“ farbig angefüllt, phantasievoll (Kostüme: Jorge Jara) und reich an üppigen Bildeinfällen (Bühnenbild: Boris Kudlička). In Erinnerung bleiben das in der Luft gepaddelte Boot mit den Schiffbrüchigen oder das steinerne Urvieh , das im dritten Akt durch die Bühnenwand bricht und zugleich als Landzunge dient. Johannes Debus hielt souverän Opernorchester, Chor und Sänger zusammen. Die sängerischen Leistungen sind sehr überzeugend, was seit der Intendanz Loebe nicht überrascht, und man ist nicht unglücklich darüber. Wer eine schöne, märchenhafte Oper genießen will, muß in den „Sturm“ hinein. Wenn er auf die Ingredienzien ‚herzzerreißende Leidenschaft’ und ‚Tod’ verzichten kann, bekommt er alles geboten, was das englische Musiktheater im Gepäck hat.
Gäbe es noch die Kategorie einer emphatisch-zeitgenössische Oper, gehörte ihr „The Tempest“ von Thomas Adès sicher nicht an. Diese Oper ist zweifellos nur in unserer Epoche zu verorten. Und insofern ist sie goldrichtig im enormen Spektrum der Möglichkeiten, heute künstlerisch zu bestehen. Und doch fährt einem der Schreck in die Glieder, wenn man Miranda singen hört: „Schöne neue Welt, die solche Menschen hat.“
Nächste Aufführungen:
Freitag, 15. 1. 2010. 19.30 Uhr.
Sonnabend, 23. 1. 2009. 19.30 Uhr.
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Gern gelesen. Danke!