9.53 Uhr:
[ICE Mannheim-Frankfurtmain.]
S e h r schönes Seminar gestern abend in Heidelberg; nur drei Studenten, aber „meine” intensivsten; jeder brachte einen Gedichttext mit, die wir alle drei sehr schön genau durchsprachen. Wir überzogen ein wenig, dann stand schon Kühlmann in der Tür, die Pfeife in der Hand, und ab ging’s gemeinsam zu Michail, dem Betongriechen, der für jeden von uns seine Spitznamen parat hat, „Herr Kandidat”, „Fünfstern”, „Herr Fernsehstar”, auch „Madamchen” ist schon vorgekommen, sowie – aber sie war gestern nicht dabei – „Frau Verlobte”; das alles in einem leicht gehässigen, jedenfalls jovialen, halb freundschaftlichen Ton vorgebracht; um das genießen zu können, braucht’s ein gewisses sagen wir rauhes Naturell; Madamchen jedenfalls hat es immer gehaßt.
Wir saßen und tranken bis halb zwölf; Kühlmann war verärgert bis außer sich über die Modularisierung des Universitätsbetriebs, Verbetrieblung, kann man sagen, Verformularung, „wenn ich nicht Beamter wäre, ginge ich mit den Studenten auf die Straße und hinge mir ein Schild um die Brust: Leistung ja, aber nicht verwaltete Leere”. Dann nachts, mit E., der morgen abend seine Dissertation verteidigt, nach Seckenheim hinüber und mit Kühlmann bis etwa zwei Uhr Schnäpse ausprobiert; eine Vorlesungsreihe planten wir, Große Solitäre der deutschen Literaturgeschicht, „deutsch” bitte kulturell, nicht national verstanden, also so, wie „deutsch” halt ist; Nationalismus ist eh Quatsch, literarästhetisch besonders, aber auch politisch.
Frühmorgens, ich schlief bis sieben, gemeinsames Frühstück, dann brachte mich Kühlmann zu diesem Bahnhof: Mannheim/Seckenheim International, schaun Sie sich’s an:Meine Computer-Malaise hat zu etwas Eigensamem geführt, einem wirklich seltsam inneren Prozeß, der mich gestern denken ließ: Na und, dann geht es halt auch ohne Computer und Internet, weshalb eigentlich nicht? Hat etwas ziemlich Befreiendes, ein ganzer (Leistungs-? Darstellungs-?) Druck fällt ab; es ist schon erstaunlich, wie tief sich etwas in einen einschleifen kann, das dann plötzlich, meist aufgrund >>>> solch eines „Unfalls”, als etwas empfunden wird, das s o nötig gar nicht ist… aber insgesamt spüre ich an mir eine Form von, ja: (selbst)gewisser Locker-, besser: Gelöstheit, etwas wie innere Ruhe, die unter den nach wie vor kräftigen Aktivitäten liegt. Sehr angenehm, das. „Dann hört man halt mal nix von mir”, sagte ich Kühlmann gestern nacht nach dem, ich glaube, fünften Williams Christ, „dann kommt halt einfach mal wieder „nur” ein Buch, oder zwei kommen, oder drei.” Jedenfalls ist die allmorgendliche Hasterei vorbei, mit der ich über die letzten paar Jahre das frühmorgendliche Aufstehen unbedingt „dokumentieren” mußte, was mir jetzt wie die ziemlich bizarre Art eines protestantischen Pflichtbeweises vorkommen will.
DAS kommt mir bekannt vor.