Er ist ja kein Missionar; und wenn er endlich vom Frieden singt, meint Owen Wingrave seinen eigenen, der ihm als Lebendem versagt bleibt. Dennoch ist er der Pazifist in der Oper, die seinen Namen trägt, weil er es ablehnt, Soldat zu sein. So etwas war zwar bis in die späten 60er Jahre des letzten Jahrhunderts immer strafwürdig. In einer Familie aber, die ihre Daseinsberechtigung bis zurück zu ihren mythischen Vorfahren darin sah, ihre Söhne in Kriegen zu opfern, um sich selbst in deren Heldenruhm zu sonnen, muß ein Kriegsverweigerer zur Unperson werden. Wenn das Schlachtfeld so unmittelbar zur Schlachtbank wird, dann ist die Familie pervers und nicht deren Aussteiger, der die heroische Mechanik der Menschenopfer beenden will. Henry James, der die Erzählung „Owen Wingrave“ schrieb, hatte indessen darin schon Tradition und familiäre Verwurzelung als gleichgewichtige Güter in die Waagschale geworfen. Und auch Myfanwy Piper, die für Benjamin Britten zuvor „The Turn of the Screw“ von Henry James dramatisiert hatte, bewahrte in ihrem Libretto die Ambivalenz von Auflehnung, ererbtem Mut und Ehrgeiz, – die perfekte Falle.
Der Kriegsdienstverweigerer Britten nutzte 1969 einen Auftrag der BBC, um den Stoff – mitten im TV-übermittelten Vietnamkrieg – zur Fernsehoper zu verarbeiten. Während der Aufzeichnung schon bemerkte der Komponist, wie die Produktionsbedingungen das Stück veränderten; und spätestens nach der Sendung im Mai 1971 mußte ihm bewußt geworden sein, daß die Oper auf der Bühne besser wirken würde. Als zwei Jahre später die Bühnenfassung am Royal Opera House Covent Garden herauskam, lag er nach einer Herzoperation im Krankenhaus.
Die Oper in der von David Matthews bearbeiteten, reduzierten Ensemblefassung bekam nun >>>> ihre Frankfurter Erstaufführung im Bockenheimer Depot. Dort wurden auch andere Werke des Britten-Zyklus’ vorgestellt, an die man sich hier gerne erinnert.
„Owen Wingrave“ wurde nicht für Kenner und Liebhaber komponiert, sondern war, zuallererst des Inhalts wegen, auf Breitenwirkung angelegt. So sind die Sängerpartien zwar anspruchsvoll, doch immer textbezogen gestaltet, das Ensemble kann sparsam und mit wenigen Mitteln arbeiten, die bedacht und zurückhaltend eingesetzt sind. Alles wirkt einfach und klar. Der schlank und agil agierende Dirigent Yuval Zorn weist mich auf die verminderten Akkorde hin, in deren Kreislauf die Wingrave-Familie harmonisch unaufgelöst gefangen sei und wovon sich Owen Wingrave schon mit einem anfänglichen, einfachen d-Moll-Akkord abhebe. Andererseits habe Britten nicht nur alle Charaktere, sondern auch die Instrumentalpartien mit musikalischen Inver-sionen bedacht, also die Auflösung schon ins Unaufgelöste gepackt, die Vorwärtsbewegung zur Rückführung, den Dominantakkord zur Tonika: Aussage und Gegenrede in Einem. Wieder also führt die psychologische Deutung musikalisch in die aufgeklärte Sackgasse, was mich mit Heiterkeit erfüllt.
Es gefällt mir, wie schön in dieser Aufführung gesungen wird; wie die Hornrufe das Werk durch-ziehen; wie die Schnarrtrommel zu marschieren beginnt, wenn das ruhmreichen Sterben der Soldatenfamilie verhandelt wird; wie Britten die Generalpause setzt, wenn Owen (Michael Nagy) diese Familientradition ein Verbrechen nennt; wie die Instrumente ihre magischen Klang-strahlen aussenden, wenn Owens Verlobte Kate (Jenny Carlstedt) ihn einen Feigling nennt und damit zum Beweis des Gegenteils provoziert; das Terzett der Frauen – neben Kate Owens Tante, Miss Wingrave (Anja Fidelia Ulrich) und Kates Mutter, Mrs. Julian (Anna Ryberg) – bleibt mir im Gedächtnis, die vor dem dunkelgelben Rautenfenster machtbewusst beschließen, Owens Weigerung nicht zu akzeptieren. „Er darf keine Ideen haben.“, und : „Ich verbiete ihm seine Gedanken!“ So einfach ist das. Und das ist nicht nur eben Oper. Auch wie am Familienwohnsitz Paramore Owens Großvater, der Haudrauf-General Sir Philip Wingrave (Hans Schöpflin), der in der roten, betreßten Uniformjacke (Bühne und Kostüme: Kaspar Glarner) zum Dinner kommt und lautstark jeden Einwand niedermacht; wie aber bei Tische plötzlich die Konversation suspendiert ist und einige, von Streicherakkorden begleitet, ihre abweichenden Gedanken, Ängste und Hoffnungen ins Publikum singen; und wie sie dann doch Owens Argumente in einer chorischen Sequenz mit dem Etikett „Skrupel“ abqualifizieren, ist das alles sehr sinnfällig gemacht, wie überhaupt die Inszenierung (Walter Sutcliffe) so schlüssig gelang, daß jeder Aspekt dieser Konstellation als notwendiger und wirksamer Baustein des musikalischen Dramas wahrge-nommen werden konnte. Das betrifft die Personenführung, etwa des Leiters einer Militäraka-demie, Spencer Coyle (Dietrich Volle), der im Konflikt zwischen seinem Amt und seiner Neigung zu seinem Lieblingszögling Owen allmählich zu einer warmherzigen Figur wird, oder seiner Frau (Barbara Zechmeister), die mit mütterlicher Chuzpe dem Letzten der Wingraves das Recht auf eigene Gedanken erstreiten will; das betrifft aber auch das ganze Konzept: Kein Vorhang trennt die Szenen, sondern Schiebeblenden (wie eine lange Streichholzschachtel mit mehreren Schachtelhüllen) geben Ausschnitte der sich verwandelnden Bühne frei, zuweilen auch verschiedene Schauplätze simultaner Szenen.
Wenn zu Anfang die Fotos gefallener britischer Soldaten, beginnend mit dem Todesdatum 2010 und zurückschreitend bis ins Fin de siècle, dem Zeitpunkt des Dramas, projiziert werden, dann wird die Reihe mit der Ahnengalerie der Wingraves bruchlos in die Vergangenheit fortgesetzt. Zu den anderen Interludien flattert die britische Flagge, wird an die Kriegspropaganda erinnert: „Die britische Mutter sagt: Geh!“ (nämlich zur Armee), kurz: Da wird nebenbei der historische Wirklichkeitsbezug hergestellt und unaufdringlich auf die Gegenwart verwiesen. Wenn wir heute von „Waffengang“ und „Blutzoll“ schwätzen hören, wenn Bomben aus Drohnen fallen, müssen wir uns ohnehin fragen, ob sich unser Denkvermögen nicht rasant zurückentwickelt hat – in eine Zeit hinein, in der die mythische Verklärung noch das Unsägliche ertragen half. In „Owen Wingrave“ ist das die mehrfach zitierte Geschichte von den zwei Wingrave-Geistern, die im Hause Paramore spuken. Es handelt sich um Vater und Sohn. Der Sohn hatte sich der Provo-kation eines Gleichaltrigen verweigert und war deswegen vom Vater in einem Zimmer des Hauses erschlagen worden. Kurz darauf aber fand man den Vater im selben Raume ebenfalls entseelt. Das Abschlachten an der Front schrumpft zur geisterhaften Familienangelegenheit im Zimmerformat. Das Zimmer wird also wegen Lebensgefahr verschlossen. Zu Anfang des zweiten Aktes tritt würdevoll der Erzähler (Richard Cox) auf und singt mit unsichtbarem Kinderchor („Paramore wird Leid empfangen“) diese Gespensterballade anrührend im Volkston. Zum Schluß, nachdem Owen, von Kate provoziert, die Nacht mutig im Geisterzimmer verbracht und prompt dort tot aufgefunden wurde, wird die Ballade kurz noch einmal nachgesungen. Sie nimmt man im Kopf mit nach Hause.
Weitere Vorstellungen:
28., 31.Januar, 03., 04., 07. Februar 2010
>>>> Karten.
Lieber Bernd, sehr schön geschrieben! So ausführlich und mit einem so starken Anwesenheitsgefühl, daß man kaum mehr braucht, die Aufführung selbst zu besuchen.
… Wir haben es doch vor.
Olga, Oleg
@Olga & Oleg. Und wie so sehr gerne ginge auch ich hin..! Aber das Stück wird zu früh abgesetzt… für mich zu früh (: mit bittrem Lächeln nachgesetzt).