ANH, Sämtliche Erzählungen. Band II, Azreds Buch, Kulturmaschinen Berlin. Überarbeitung (4): Von Gräbern und von Moden, Auszug.

(…)
In Wien ging es los, auf dem Zentralfriedhof nämlich, gleich da, wo Curd Jürgens begraben liegt, als kurz vor dem Totensonntag letzten Jahres eine beauftragte Firma eine Holzwand mit einem Plakat affichierte, worauf verschiedene, indessen wohlgekleidete Skeletts sich an den Fingerknochen hielten. Im Tode sind wir alle gleich. Das stand darüber. Und darunter: United Colors of Benetton. Irgend ein Witzbold, einer von der unge­pflegten Sorte, die mit Sprühflaschen und neuerdings auch über Friedhöfe geistert, hatte rechts unten graffititiert: Ein einziges Europa. Das war, wie sich zeigte, voller Voraussicht.
Es erregte auch keinen Verdruß. Als vielmehr am 22. November die, so André Heller, mit dem Zirkus unter dem Herzen hinauswallfahrteten, um ihre Verwandten in Robert Stolz eingegangen zu finden und gelbe Blümchen auf endlichen Heimstätten niederzulegen, da konnten sie was staunen! Das Drängeln vor der Plakatwand hatte für mich, bei aller spürbaren Freude, etwas Bedrohliches; deshalb hielt ich mich abseits. Doch meine Arg war grundlos: Manche Leute klatschten sogar, der Gebärden gab es vertrackte. Sprechen tat niemand, aber die Augen! Wie zuversichtlich, wie kindlich aufgerissen sie schauten! Irgendwo fiedelten Gei­gen, die Amseln krakeelten, so aßen die Leute den türkischen Honig. Man fühlte sich wohl und an Dante erinnert:
Die Mode, die herabstieg mit der Kunde
Von jenem jahrelang ersehnten Frieden
Der uns erschloß den lang verbo­tenen Himmel,
Die war vor unseren Augen so wahrhaftig,
Dort fotografet und mit sol­cher Milde
Daß es nicht schien, es sei ein Bild, das schweiget

(Göttl. Komödie, II, 10. Gesang,34 ff).

In der Tat ließ sich bei einiger Versenkung die Impression ge­winnen, einem still-naiven, grenzüberschreitenden Tanz zuzuschauen. Selbst ich, ein Skeptiker, konnte mich des Gefühles nicht mehr erwehren, den Gipfel eines werberlichen Läuterungsberges erklommen zu haben. Erstmals sei hier, dachte ich, ein Abbild unserer Welt und Abwelt gelungen, das Anspruch und Wirklich­keit in Deckung bringt. Was nutzt das Lamentieren über die Ungerechtigkeit und Kürze unseres Lebens zu anderem, denn es noch weiter abzukürzen? Hier hatte jemand menschlich verstanden, hier war ein Realist des Product Placings am Werke gewesen, und ich bezweifelte nicht, es werde ihn der Heilige Geist mit steigendem Umsatz besegnen.
Am Montag frühmorgens, so las ich am Dienstag im Hotel in der Zeitung, hätten, v o r den Öffnungszeiten bereits, vor der Wiener Filiale Schlangen gestanden. Man habe den lieben, langen und folgenden Tag mit den Produkten nicht nachkommen können. Ja Nachtschicht sei einzulegen gewesen, zu deren spätester Zeit die abgerissensten Gestalten, und zwar in düsteren Faschingskostümen, die Geschäftsräumlichkeiten erstürmt hätten, um an sich zu raffen, was ging.
Wie wunderlich aber das Bild, das sich nachzüglichen Besuchern, die das Plakat noch nicht zu se­hen bekommen hatten, dann auf dem Zentralfriedhof bot! Nämlich lagen auf den Gräbern statt sterbender Blumen Blusen, Leggins, Tücher, Joppen, vor allem aber Strümpfe, und in den Nekropolen steckten sie, halb in rostige Türen gequetscht, halb aus den Mahnplatten lugend, die Strümpfe und Schals und wiederum Strümpfe. Franz Schreker soll sich ein Bustier heimgeholt, Johann Strauss einen chiffonbesetzten knallroten Rock ergattert haben, Beethoven eine Pudelmütze mit „Greenpeace“-Emblem. Über das Totenhaus des Präsidenten des Verwaltungsrates der k.k. Priv. Lemberg-Czernowitz-Jassy-Eisenbahn seien gestreut gewesen Tutus wie Tütüs. Und das nachlässige, ärmliche Holzschildchen für Alexander Zemlinsky habe sich an einem goldbordierten Büstenhalter erwärmt. Das gesamte riesige Areal des Friedhofs soll ausgesehen haben wie eine vom Monsun verwüstete, doch friedlichst in neuem spätherbstlichen Sonnenlicht trocknende Kleiderfabrik.
Man schickte nach Gendarmen.
Die kamen, starrten, lachten. Sie zuckten die Achseln und fuhren tatütend wie­der davon. „Iis holt kolt, dera Tod,“ sollen sie geäußert haben. (…)




„Azreds Buch“, Geschichten und Fiktionen,
wird im Herbst 2010 erscheinen.

Erster Band, Selzers Singen <<<<

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