Furor, Tanz und Nacht: Mahlers Siebte. Das Konzerthausorchester Berlin unter Lothar Zagrosek. Konzerthaus Berlin. 10. und 11. September 2010.

In einem gar nicht ungewissen Sinn hat Alban Berg die Arbeit Gustav Mahlers fortgesetzt, das war gestern abend deutlichst zu hören: wie die Klänge selbst in der 12tönigkeit verrutschen, wie von ferne Soldaten marschieren, aber ein tiefer Wald ist dazwischen, bei Mahler: bei Berg hingegen ein Kinderohr, das die „Drei Bruchstücke aus der Oper Wozzeck” ins „Hopphopp” des kleinen Jungen der gerade getöteten Mama verlegt; noch weiß der Junge davon nichts. Es ist ein so naheliegender wie beklemmender Einfall, die für ein Konzert von 1924 zusammengestellten halbsinfonischen Gesangsszenen der ein gutes Jahr später uraufgeführten Oper vor einer Aufführung von Mahlers zwanzig Jahre zuvor entstandenen Siebenten Sinfonie aufzuspielen – ich verwende dieses Wort bewußt, weil das bei Mahler brechende Humorige, das bei Berg dann zerbrochen i s t, >>>> diesen ganzen Konzertabend prägt, und bei beiden, Berg wie Mahler, ist Rückschau, Erinnerung an Verlornes; Berg aber erzählt über Büchner, daß das Verlorne nur glänzte, nicht Gold war. Phänomenal dabei, wie es der Sängerin des Abends, Christiane Iven, gelingt, den Kinderton ganz nah an den Ton der verlorenen Marie zu bringen: es wird dieselbe Klage geführt. Durchsichtig wird das vom Konzerthausorchester interpretiert, feinsinnig: Berg lächelt in dieser Musik wie ein Leidender, der es gelernt hat, dem es Haltung wurde, sich „zusammenzunehmen”: keiner fährt hier mehr auf mit jugendlicher Energie – wie Mahler es, als wollte er zurückreißen, was verlorengeht, noch tut; als packte er es um die Hüften und walzerte mit ihm in wildem Reigen herum: die Zentrifugalkräfte aber seiner Musik schleudern es unaufhaltsam, schließlich, davon. Die auftrumpfende Triumphalgeste des Finales, die Mahler von Tschaikowski hat – nicht wenig erinnert hier an dessen Fünfte – kann nicht täuschen, ja macht den Verlust nur um so schmerzhafter. „Vorwiegend heiteren, humoristischen Inhalts” sei, hat Gustav Mahler an seinen Verleger geschrieben, diese Sinfonie. Aber bereits die Kuhglocken, in Wiederaufnahme des Verklärungsmotivs aus der Sechsten, sind hier nur noch flüchtige Beschwörung, Echo des schon Zerstörten, und wirken, anders als in der Sechsten, wie Fremdkörper, wenn man dem Orchester nur zuschaut: das Beschworene ist längst so falsch geworden wie das „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen” Franz Léhars, das Mahler in den Endsatz, von acht auf zwei Takte zusammengezogen, immer wieder hineinzitiert: dem Hörensagen nach sei es der Lieblingswalzer des Ehepaars Mahler gewesen, hier nun mit wuchtigen Bläsersätzen konfrontiert, die ihrerseits, so massiv sie aufdröhnen, in den Endtanz gerissen werden. Hinreißend, wie das Konzerthausorchester das brüllen, säuseln, wirbeln läßt. Ich habe diesen letzten Satz ein einziges Mal bereits in dieser Geschwindigkeit, diesem Dahinrasen, gehört, nämlich von der Jungen Deutschen Philharmonie unter Gary Bertiny. Das liegt fünfundzwanzig Jahre zurück und ist mir unvergessen. Ja, dachte ich gestern da wieder, genau so muß das sein, und besser, man riskiert für Kurzes, daß sich ein Anschluß quer durchs Orchester verpaßt, besser, daß man dann mit dem Taktstock die Leute, die schon von den Zentrifugalkräften, fast notwendigerweise, voneinander weggerissen werden – noch sind die Arme ausgestreckt, noch sind wir nicht hilflos, eine Hand h ä l t noch -, besser, man reißt sie in den Tanz also wieder zurück, denn die Hand, noch, läßt nicht los, als daß die Musik auf funktionale Perfektion noch achten dürfte und dabei Geschleppe riskiert. „Nicht schleppen!”: das steht sehr sehr oft in den Partituren Mahlers über den Zeilen; er wußte genau, worum es hier geht: w a s das ist, das ausgedrückt werden soll. Zagrosek befolgt es bis in die schärfste Gefährdung, dem Werk und nicht einem Ruhm des dirigentischen Virtuosen verpflichtet. Nicht zuletzt das hat den Abend derart lebendig gemacht, auch verzweifelt: Spiegel der Sinfonik wie des interpretierenden Selbstverständnisses Zagroseks.
Das Konzerthausorchester Berlin ist mahlergeschult, nicht zuletzt seines ehemaligen Chefs Eliahu Inbals wegen, der in den Achtzigern mit dem RSO des Hessischen Rundfunks eine d e r Referenzaufnahmen des mahlerschen Gesamtwerks erarbeitet hat. Seinerzeit war sie sensationell, und auch bei ihm war die Siebte, ich erinnere mich, ein Glanzstück. >>>> Denon hat sie auf CD publiziert. Möglicherweise ist sie überhaupt d i e Sinfonie, in der Mahlers Kunst am wenigsten verstellt zum Ausdruck kommt – weder von romantisch auftrumpfender Energie pathetisch geführt, noch von der Ironie des Praktikers, geschweige durch die Erkrankung seiner letzten Jahre und der gescheiterten Ehe; einer Melancholie, die den brüchigen Abschied im „Lied von der Erde” und dem streichersatten Finalsatz der Neunten komponierend verklärt. Jens Schubbe, in einem kleinen ausgezeichneten Aufsatz des Programmhefts (das sich diesmal leider nicht als pdf herunterladen läßt) interpretiert die Siebte als „surrealistische Musik”; das mag für die scherzesken drei Binnensätze gelten, obwohl auch in ihnen das eigentlich „Unheimliche” der Romantik so durchschlägt wie in den frühen Wunderhorn-Sinfonien; dieses aber, im Gefolge des Symbolismus, hat auf den Surrealismus stark gewirkt. Doch die Ecksätze des Stücks nehmen tatsächlich „La Valse” von Ravel fast fünfzehn Jahre mächtig voraus; spannenderweise hatte Ravel die musikalische Idee quasi in derselben Zeit (1906), da Mahler die VII. komponierte (1904/05), die dann 1908 uraufgeführt worden ist. Von künstlerischen Identitäten, die voneinander aber kein Wissen haben, ist die Geschichte aller Künste bis in die Gegenwart voll.

Wer die Zeit hat und der Musik ein leidenschaftlich Verschworener ist, gehe heute abend hin; und wenn er gestern da war, oder sie, dann noch ein zweites Mal, auch wenn, nebenan, das >>>> Berliner Musikfest mit Berio lockt.

Konzerthausorchester Berlin.
Christiane Iven. Lothar Zagrosek.
Alban Berg, Drei Bruchstücke.
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 7

Fr, 10.9.2010, 20 Uhr.
Sa, 11.9.2010, 20 Uhr.
>>>> Karten

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2 thoughts on “Furor, Tanz und Nacht: Mahlers Siebte. Das Konzerthausorchester Berlin unter Lothar Zagrosek. Konzerthaus Berlin. 10. und 11. September 2010.

  1. Das ist eine eindrucksvolle Kritik insbesondere über die 7. von Mahler. Die Zerrissenheit innerhalb einer grandiosen Form, die dieses Werk zwischen Unheimlichkeit und Triumph spannt, kommt zum Ausdruck. Danke.

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