Andersen entmythet. Pierangelo Valtinonis Oper für Kinder „Die Schneekönigin” als Uraufführung an der Komischen Oper Berlin.


[Die Uraufführung, die ich >>>> Siziliens wegen nicht
besuchen konnte, fand am 24. Oktober 2010 statt. Diese Kritik
bezieht sich auf die zweite Aufführung am 31. Oktober. ANH.
Foto ©: Iko Freese
(aus urheberrechtlichen Gründen gelöscht).]


Es ist schon ein wenig schade, wie viel der dunklen, samtigen Magie verloren geht, wenn sich ein Komponist an Andrew Lloyd Webber inspiriert und den Weg nicht mehr weiß oder wissen will, der aus dem Entertainment in jene Nächte führt, worin wir auch als Erwachsene noch von den Märchen träumen: von ambivalenten, im Wortsinn ungeheueren Märchen. Sie haben uns in der Kindersprache von einem Leben Erwachsener berichtet, das sein Geheimnis bewahrte, auch wenn wir selbst erwachsen schon sind. Kein anderer Märchendichter, außer manchmal dem erzählenden Volk, hatte solch mythische Erzählkraft wie Hans Christian Andersen. Nicht grundlos sind ohne manche seiner Texte einige der größten Dichtungen der Moderne überhaupt nicht denkbar, ob wir an Nabokov denken oder an Thomas Mann. Und dennoch sind diese Märchen allezeit Märchen für Kinder gewesen. Sie konfrontieren sie mit dem Ungeheuren.
Davon ist in >>>> Valtinonis Oper nicht mehr sehr viel zu spüren. Das liegt zum einen an Paolo Madrons, des Librettisten, Reduktion der Erzählung Andersens zu einer komponierbaren Vorlage; sie greift nicht nur kürzend, sondern vor allem pragmatisch in das Märchen ein und nimmt ihm jenes Ungewisse, das sich gegen pädagogische Zurichtung sträubt. Man möchte zwar, ist zu spüren, den erhobenen Zeigefinger nicht zeigen, erhebt ihn schließlich aber doch. Andersen, der immer aus den Seelen seiner Figuren spricht, ist das fremd. Er blieb, als er schrieb, Kind immer selbst und war, als ein solches, nicht unbedingt „gut”. Die Vorstellung des „reinen” Kindes ist Kitsch.
Problematischer als das aber ist die Musik Valtinonis, die den Kitsch nicht nur unterstreicht, sondern sich ganz deutlich am Broadway orientiert. So gibt er dem Affen, was der nur will von Walzer über Evergreen, und das Rentier aus Hippie und Davidson’s Harley wippt wie zum Rock mit den Armen. Und weil ein Affe sowas gern hört, fällt ihm nicht ein, seine Kinder zu schützen. Überzeugend sind allenfalls jene rhythmisch schnellen Stücke, die an Katschaturjan-Tänze erinnern. Überhaupt hat sich Valtinoni gern bei andren bedient. Was für eine Kinderoper nicht schlimm ist, sich aber doch um Wahrhaftigkeit drückt. Es sind ja nicht die Evergreens, die unsere Kleinen schon hören. Vielmehr steckt hinter Valtinonis musikalischen Vorstellungen selbst ein verkitschtes und verkitschendes Kinderbild. An die Schneekönigin reicht’s nicht heran, sie bleibt von sowas unberührt. Vielleicht ahnte Valtinoni das, so daß er sie selbst, als Rolle, ganz ausließ. Man hört sie nur, aus dem Off. Aber ihr Gesang ist der einzige mit Tiefe. Was Andersens Märchen dann doch ein wenig näher kommt.
Ansonsten wird er profaniert. Erzählerisch ist das politisch korrekt, aber es ist unpoetisch und musikalisch ein Schmarrn. Indessen nicht inszenatorisch. Denn die Sache hat Schwung und macht Spaß. Anisha Bondy läßt die Szenen derart schnell ineinandergleiten, daß sich nie das Gefühl von Länge einstellt, schon gar nicht bei den Kindern. Im Nu ist schon Pause: man hat überhaupt nicht bemerkt, wie die Zeit verging. Und wieder im Nu ist nach der Pause schon Schluß. Sogar eine Zugabe muß – tutti! – noch gegeben werden. Die Figuren, vor allem die Krähe und das Rentier, sind wundervoll gestaltet und dargestellt, das Aufeinanderspiel gesprochener und gesungener Partien funktioniert, auch die Gestaltung wichtiger Rollen durch Kinder selbst – die freilich mehr Revuestar spielen als daß sie wirkliche Rollen verkörpern. Für eine Ausnahme mag Sophia Duwensees Räubertocher gelten. Ob freilich der Jahrmarkt als märchenhafter Ort so noch funktioniert, vor allem in einer noch elektronikfreien, wunschdörflichen Ausprägung, kann bezweifelt werden. Der mit einfachsten Mitteln gestaltete Wald hat da mehr Faszinosium, und der riesige Schrank, der in die Eiswelt führt. Gänzlich verloren aber geht die Allegorie des Spiegels, aus dessen Splittern der Bub, damit er freikommen kann, das Wort Ewigkeit legen soll und der ein trollischer Zerrspiegel war, der sich in Teilen der wirklichen Welt realisiert hat. Schon daß der Troll ein „Zauberer” wird, zerstört die Parabel. Wie auch die umgeulkte Großmutter weder einem zeitgenössischen Bild noch auch dem einst gemeinten entspricht.
Verloren ist ein Besuch der Aufführung nicht. Verloren ist nur die Musik. Man kann sie getrost durch Vergessen entsorgen. Für alles übrige gilt: Frei die Manege!

Die Schneekönigin



Märchenoper in zwei Akten von Pierangelo Valtinoni.
Libretto von Paolo Madron.
Deutsche Textfassung von Frank Harders-Wuthenow und Werner Hintze 

>>>> Karten 8 – 18 €. Ab 6 Jahre.

Musikalische Leitung – Aurélien  Bello. Inszenierung – Anisha Bondy.
Bühnenbild – Henrik Ahr. Kostüme – Miriam Draxl, Cristina Nyffeler.
Choreographie – Suzann Bolick. Dramaturgie – Werner Hintze.
Kinderchor – Christoph Rosiny, Jane Richter. Licht – Franck Evin.

Gerda – Anna Borchers. Kay – Matthias Siddhartha Otto. Die Großmutter/Frau Rabe – Caren van Oijen. Die Blumenfrau/Die Frau aus Lappland – Elisabeth Starzinger. Herr Rabe – Mirko Janiska. Das Rentier – Carsten Sabrowski. Die Schneekönigin – Anastasia Melnik.
Kinderchor der Komischen Oper Berlin


Die nächsten Vorstellungen:
21., 22. Nov.
02., 03., 04., 07., 15., 21., 25. Dez.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .