Außerhalb der katholischen Kirche gibt es kein Heil, behauptet die katholische Kirche, und so ist die Entfernung aus dieser Kirche gleichbedeutend mit der Verdammnis. Die Verdammnis kann indessen von der stärksten performativen Kirchenkonkurrenz aufgehoben werden, – von der Oper. Und das geht so:
Die menschliche Untat, die Faust begeht, ist der Verrat an der reinen Liebe Margaretes. In Harry Kupfers Inszenierung aber ist diese unschuldige Jungmädchenliebe auf ähnliche Weise (hier mit fesselnden Galgenstricken, die der Armen von teuflischen Angestellten angelegt werden) von Mephisto inszeniert, wie die Verliebtheit und der Betrug Fausts. Beide sind also nicht ganz verantwortlich für ihr Tun. Sie folgen naiv dem halbseidenen Regisseur Mephisto, ohne den das christliche Verhängnis von Sünde und Verdammnis gar nicht existent wäre. Und, um die Verwirrung zu vollenden, wird das Theater im Theater noch einmal im Theater inszeniert. Denn Faust betritt zu Anfang dieses alte Theater auf der Opernbühne durch die Flügeltüren, dahinter fallen dicht die Schneeflocken, woraufhin Faust singt: „Die Natur ist neu erstanden.“ Man weiß also recht schnell: Der Mann hat eine andere Wahrnehmung. Und wenn er dann nach all den Abenteuern, dem schriftlichen Teufelspakt, dem wilden Ritt auf den metallenen Zauberrossen, dem Absturz nach Gretchens Hinrichtung und seiner Verdammnis eben in diesem Theater wieder erwacht und einen Paravent vor einem alten Trichtergrammophon wegzieht, wobei er die medialisierte, aber verstummte Stimme seines Herrn belächelt und dann – scheinbar – eigenhändig den Vorhang der Frankfurter Oper schließt, dann wissen wir, daß dort die Verdammnis der Wirklichkeit nicht angehört.Freilich ist die ganze prachtvolle Oper „La Damnation de Faust“ von Hector Berlioz auf doppeltem Boden schon errichtet und wird von Harry Kupfer in vielen Details einfallsreich durchgespielt. Da verwandelt sich der Giftbecher, mit dem Faust sich plötzlich vergiften will, schwebend in einen Abendmahlskelch, da bekommt der Tiara tragende Papst inmitten der osterhymnisch singenden Kardinäle und Kardinälinnen im Kopfumdrehen sein satanisches Antlitz; die Farbe blättert von einer Wand ab, man erkennt Hieronymus Boschs Triptychon „Der Garten der Lüste“, das sich auf den zweiten Blick als dessen zeitgenössisches Remake herausstellt, „Le jugement dernier“ nämlich von Jacques Brissot; die Studenten in Auerbachs Keller singen vom Wein und halten dabei Bierflaschen in den Händen; Frauen entpuppen sich als Männer, und Männer, na ja, wie gewöhnlich, als teuflische Irrlichter.
Berlioz hat, als er 1845 begann, auf einer Konzertreise durch Österreich, Ungarn, Böhmen und Schlesien den musikalischen Einfällen zu seiner Faustlegende der Goetheschen Faustadaption von Gérard de Nerval nachzugeben, das Trügerische und Grenzüberschreitende des Stoffes komponierend ausgesprochen genutzt. Mit äußerster Raffinesse sind die Motive der Antagonisten miteinander verflochten. Wirken die Szenen, die sich mit sinnebetörendem theatralen Aufwand zur Geltung brachten, tektonisch zuweilen zusammengeschraubt, so fügt diese fein und grob gesponnene Musik alles so intelligent wie durchtrieben ineinander. Und dann die Chöre! Welche Oper sonst beruht auf so vielen und üppigen Chornummern, in denen so ausgiebig agiert wird, wobei auch die ursprünglich als Balletteinlagen gedachten und gar nicht beiläufigen Orchesterstücke von diesem Chor gestaltet werden können?
1846, als Berlioz das Werk in konzertanter Fassung in der Salle Favart zum ersten Mal aufführte, war es zweifellos eine mit seinen der Sache und nicht der Tradition verpflichteten Innovationen neue Musik. Bis ins Detail durchgearbeitet ist die Oper, bedacht ist jede Wendung und jeder instrumentale Effekt. Daß deswegen das Publikum, das die Musik des romantischen Komponisten noch 15 Jahre vorher gefeiert hatte, zur Uraufführung nur in beschämender Menge erschien, ist sicher ein Trugschluß. Wie soll das Publikum etwas ablehnen, was es gar nicht kennt? Nun, man könnte behaupten, ja gerade deshalb! Eine solche Haltung ist uns ja nicht gerade fremd, und in Paris reichte für eine Ablehnung weniger als ein Gerücht… Dagegen wurde die Verdammnis in Frankfurt gerne und von vielen Besuchern entgegengenommen. Der in hier debütierende, amerikanische Tenor Russell Thomas wurde als Faust für seine geschmeidige und in den Liebesarien anrührend geführte Stimme gefeiert; Simon Bailey, der als zynischer Méphistophélès den solistischen Löwenanteil der Oper zu bestreiten hatte, ist in dieser Rolle schwer zu übertreffen; Dietrich Volle schlug sich wacker in der undankbaren Partie des Brander, der gerade mal in Auerbachs Keller „Die Ratt’ im Kellernest“ zu singen hat, worin dem Bariton unfreundliche Ausweitungen in den Baß abverlangt sind, die ihm gewöhnlich nicht zur Verfügung stehen. Claudia Mahnke, in Frankfurt eine feste und beliebte Größe, überzeugte mit ihrer nuancierten Ausgestaltung der Marguerite nicht nur die rührseligen Besucher.
Blitz, Donner, Feuer, güldenes Interieur und vermülltes Elend (Bühnenbild: Hans Schavernoch), Verwandlung eines lebensmüden Greises in ein junggeglühtes Männlein und umgekehrt, wundersame Effekte mit Spiegeln und Projektionen, Zauberei und Hexerei, – die Bühnentechnik hatte gut zu tun. Die phantastischen Kostüme von Yan Tax prunken mit Strenge und Luxus. Friedemann Layer gab dem Orchester nicht nur für die wilden Ritte gehörig die Sporen; die Galopps ließen wahrhaftig keine Wünsche offen. Mit anderen Worten: Oper, wie sie das Herz begehrt, der Geist sie aber haben muß.
FAUSTS VERDAMMNIS (La Damnation de Faust)
Légende-dramatique in vier Teilen von Hector Berlioz.
Text von Hector Berlioz und Almire Gandonnière nach Faust. Der Tragödie erster Teil (1806) von Johann Wolfgang von Goethe in der französischen Übersetzung (Gérard de Nervals.
Regie Harry Kupfer, Bühnenbild Hans Schavernoch, Kostüme Yan Tax
Dramaturgie Norbert Abels, Licht Joachim Klein,
Video Peer Engelbracht/impulskontrolle.
Marguerite Alice Coote / Katherine Rohrer, Faust Matthew Polenzani,
Méphistophélès Simon Bailey, Brander Thorsten Grümbel.
Chor und Extrachor der Oper Frankfurt, Leitung Matthias Köhler.
Frankfurter Opern- und Museumsorchester,
Musikalische Leitung Friedemann Layer.
Derzeit keine weiteren Vorstellungstermine bekannt.
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