Seminartag I. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 5. November 2011.

6.22 Uhr:
[Best Western in der Hüchte. Dallapiccola, Tartiniana seconda.]
Sollte ich >>>> in Leipzig weibliche Fans haben: ich bewohne das Zimmer 508, jedenfalls übernachte ich drin. Das Seminar selbst findet im Comundo statt, das am Rand der Innenstadt liegt. Wir Trainer werden von Shuttles hin- und hergefahren oder müssen Taxen nehmen, falls es uns in die Stadt der Nacht verschlägt. Aber es gibt hier ein Raucherzimmer, so daß das gar nicht nötig ist, und gleich nebenan, hörte ich, einen Swingerclub, worin sich allerdings, erzählte Ricarda Junge, die überhaupt viel erzählte, wir hingen gefesselt an ihren Lippen, die die Stricke immer enger zogen, ein Schloß in Aquitanien, eine Greisin, die sich nie bewegt, Gesinde und Jäger, die sich Tauben schießen, schroffe Abhänge, kaum eine Fluchtmöglichkeit, vollständig erhaltene Kleider in Truhen, alledie aus der vorletzten Jahrhundertwende, den Wein vom Faß in Karaffen, knapp achtzig Kilometer entfernt von der spanischen Grenze, pazifistische Basken, gewundene Straßen, die man durchjagt, um plötzlich vor Kühen bremsen zu müssen, und über dem allen kreisen die Adler — worin sich allerdings dauernd gestritten werde, also in diesem Swingerclub. Ob ich das noch schaffen werde, da meinerseits Zeuge zu sein, weiß ich noch nicht. Man höre es aber, dieses Gestreite, bis in die Zimmer des Hotels: Eifersuchtsanfälle voller Wut und Schaum. Meine eigene Erfahrung mit Swingerclubs, die nicht nur akustisch war, erinnert sich an unfaßbar dicke Frauen, die von links und rechts mir immer näher rückten, sich sitzschiebend, ich wußte nicht, ob sie deshalb schwitzten oder wegen der Sauna, in der wir saßen und ich immer schmaler, immer kleiner wurde, als verkröch sich mein Leib in sich selbst. Lustiger war‘s vom Whirlpool aus, in den meiner Freundin und ich dann geflüchtet, Whirlpoll, mit zwei ‚l‘, schrieb ich gerade, was die Ontologie dieses blubbernden Dings nicht ganz so ungenau erfaßt. Aber d arin war man einigermaßen sicher.
Lange her, fast schon nicht mehr wahr.
Die Kaffeetasse scheppert auf der Untertasse, während ich tippe. War die fünf Stockwerke (508, Mädchen, 508!) hinunter und hatte die enorm flinke Kellnerin schon vor Öffnung des Frühstücksraum um den Kaffee gebeten; geradezu wahnsinnig schnell bereitete sie mir weißgedecktes Tablett, Kännchen, Tasse auf der Untertasse, Milchbehältnis, und ich schlich wieder hinauf, um zu arbeiten. Will meine Disziplin ja nicht verlieren. Da ich ein Raucherzimmer bekam, fällt mir das leicht, auch wenn es nach eins war, daß ich in das (riesige, Mädchen, riesige!) Bett kam. (Nein, ich bin n i c h t vereinsamt – und damit, jedenfalls hiervon, genug).

Leipzig empfing uns >>>> s o. Wir hatten uns am Bahnsteig getroffen; Ricarda Junge kam, orkaneshalber, nach einer fast eintägigen Reise, von aus den Pyrenäen an. Sind das eigentlich Feuerberge, und in den Pyrenäen leben Pyromanen? Für die spanische Baskenseite stimmt das wohl. „Ihr seid die ersten Menschen, mit denen ich seit drei Wochen spreche“, sagte Frau Junge. Aber sie wirkte mehr als nur erholt, ja das Feuer der Berge entstrahlte ihrer ganzen Erscheinung. Und war nun, sozusagen, heimgekommen. Nach Leipzig, wo sie studiert hat.
Ich mag diese Stadt. Ihr, sowie man den sanierten Kern verläßt, Marodes erinnert noch immer ans Prag der achtziger Jahre, bevor es eine US-amerikanische Kolonie Walt Disneys geworden ist. Die Häuser, gerade im Dunklen, bzw. dem Halbdunklen der auch ihrerseits fahlen Straßenfunzeln, strahlen Geheimnisse aus – nicht unbedingt gute, aber auch böse sind gut zur Fantasie. Schatten spielen eine Rolle, Ungefährheiten, Unluzides wie die brüchigen Bürgersteige, die noch nicht das rote Glitzern von falschem normierten Diamantenstaub haben. Überhaupt ist Norm, nein, nicht gleich der Tod, aber doch das Siechtum jeder ungebundenen Schöpfung. Wie >>>> Marcus Braun einmal sagte: „Ich werde Berlin wieder verlassen, wenn der letzte Baukran abmontiert worden ist.“

[Dallapiccola, Volo di notte.]
Das Seminar bedeutet eine >>>> Kausserpause; aber vielleicht komm ich ja abends zum Lesen. Nein, eher unwahrscheinlich.
Die Gruppen sind diesmal klein, da kann das Gehirnjoggen durchaus anstrengend werden, aber auch mehr bringen, als wenn man in größeren arbeitet. Um halb neun werden wir Trainer hier abgeholt und ins Comundo gefahren. Bis 19 Uhr wird gearbeitet werden. Dicker Rauch steigt aus den Schornsteinen der villenartigen Häuser auf, über die ich dahinseh; die Sonne geht winterrot in meiner Kopfhöhe auf. Bäume sehen aus wie Büsche: wollig aus dem Nebel, in den sie getunkt sind.

2 thoughts on “Seminartag I. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 5. November 2011.

  1. Wäre für Sie das Zimmer „2046“ (siehe den gleichnamigen Film) nicht viel angemessener? Und natürlich haben Sie ganz sicher weibliche Fans in Leipzig, hören Sie nicht das Gekreische von draußen? Aber im Ernst: Ich mag Leipzig auch, dort wuselt ein Alter ego von mir durch die Gassen aller Zeiten und erlebt Abenteuer, die ich hier, weit weg in Berlin, wo die Baukräne langsam rar werden, zu Papier bringe. Stellen Sie sich mal auf den Peterskirchhof und hüpfen in die bereitstehende Zeitmaschine, dann können wir zusammen ein Tässchen Sassafras trinken. Gruß an die Trainerinnen!

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