[Probenfotos im Text: Wolfgang Silveri.
Aus dem Saal: ANH/iPhone.]
Aus dem Saal: ANH/iPhone.]
Um es erstens vorwegzusagen: Nein, das ist n i c h t werktreu. Wenn Calixto Bieito eingeladen wird, ein Musiktheater zu interpretieren, dann weiß man das. Wer in eine seiner Interpretationen hineingeht, weiß es ebenfalls. Denn darum handelt es sich bei ihm prinzipiell: um Auseinandersetzung sowohl, was eine der Bedeutungen des Wortes Interpretation ist, als auch um Deutung, was eine andere ist. Im Fall des Freischützen ist das in keinem Fall mißlich, ich konnte mich sogar manch starken Seufzers einer absoluten Erleichterung nicht enthalten. Ich mag den Freischütz nämlich nicht, mochte ihn noch nie; dennoch kann ich ihm einigen hohen Respekt nicht verweigern. Jemandem, der auf das Brett dieser Ambivalenz gestreckt ist, nimmt >>>> Bieitos Inszenierung nicht nur den Schmerz, sondern sie ist befreiend. Was er etwa aus der berühmten Jungfernkranz-Weise macht, kann ich gar nicht anders, als es genial zu nennen – ein Stück, das an Verlogenheit auch musikalisch nur noch von Wagners Blumenmädchen überboten wird, der eben das, gerade auch die Verlogenheit, von Weber übernommen hat.
Das ist ohrenfällig, aber auch in den Stärken; daß der und wie er von Weber herkommt, mehr als von irgend einem Beethoven, ist im Freischütz geradezu schlagend mitzuhören, manchmal aber eben auch zum Kotzen. Sogar der von v. Weber sicher nicht bewußte, aber decouvrierende Kalauer „Leid oder Freude: beides ruht in deinem Rohr“ nimmt auch musikalisch Wagner vorweg. Schauderhafterweise steckt bereits das >>> Glaubensbekenntnis der US Marines darin: „This is my rifle, this is my gun.“ Ob wohl die kleine Szene, in der Maxens Mutter auftritt – „Mama“ sagt er schlammbedeckt – ebenfalls auf Wagner anspielt?Ich hab‘ eine Mutter;
Herzeleide sie heißt:
im Wald und auf wilder Aue
waren wir heim.
Parsifal, I.
Das ist ohrenfällig, aber auch in den Stärken; daß der und wie er von Weber herkommt, mehr als von irgend einem Beethoven, ist im Freischütz geradezu schlagend mitzuhören, manchmal aber eben auch zum Kotzen. Sogar der von v. Weber sicher nicht bewußte, aber decouvrierende Kalauer „Leid oder Freude: beides ruht in deinem Rohr“ nimmt auch musikalisch Wagner vorweg. Schauderhafterweise steckt bereits das >>> Glaubensbekenntnis der US Marines darin: „This is my rifle, this is my gun.“ Ob wohl die kleine Szene, in der Maxens Mutter auftritt – „Mama“ sagt er schlammbedeckt – ebenfalls auf Wagner anspielt?
Herzeleide sie heißt:
im Wald und auf wilder Aue
waren wir heim.
Parsifal, I.
Im Freischütz: „Durch die Wälder, durch die Auen“.
Indes, ganz unabhängig hiervon, ist das Stück als eine Art Nationaloper der Deutschen hinlänglich bekannt, und wer es bislang noch nicht kannte, wird es spätestens bei der Nachbereitung intensiver kennenlernen, als eine sogenannt traditionelle Aufführung dafür überhaupt die Grundlagen könnte legen. Denn wir werden von Bieito auf eine Weise nicht nur für die Verlogenheit, nämlich eine ideologisch hinter ihm stehende scheinnaive Anthropologie des Librettos sensibilisiert, sondern so sehr auch für die der Musik, daß kein Mensch mehr solcher Naivetät sich erfreuen kann. Vielmehr legt Bieito frei, was hinter ihr tatsächlich wirkt. Das ist kein angenehmer Befund. Man wird sie nicht minder bestialisch finden als das, was auf die Jägerromantik, historisch, folgte: für das, was zu v. Webers Zeit noch „deutsch“ gewesen sein mag. In der Tat wird hier deutsche Geschichte verhandelt, und zwar ihre seelische Motivgeschichte. Das ist, wenn eine Interpretation so etwas leistet, schon einmal viel, vor allem dann, wenn jegliche bloß aufgesetzte, „aufklärende“ Didaktik in der Intensität der, sagen wir, Interpretations-Immanenz nicht nur der Bühne verwiesen wird, sondern dramaturgisch auf ihr verglüht.
Bieito inszeniert keine Lehrstücke; er bleibt am Material. Und wenn ihm etwas daran so wiedersprüchlich ist, daß von Verlogenheit gesprochen werden muß, scheut er sich weder, das kurzerhand zu streichen, noch, durch eigene Einschübe ein anderes, oft grelles, Schlaglicht darauf zu werfen. Wie schon Ferrucio Busoni mit dem Faust, und nach dem Thomas Mann, streicht Bieito Goethes Erlösungsversprechen durch; das entspricht, die Thomas Mann schon kannte, den geschichtlichen Tatsachen. Deshalb wird bei Bieito Der Freischütz zu einem Blut- und Hämespiel – nicht dem seinen, bewahre!, sondern dem der Protagonisten, die hier das deutsche Volk sind. Daß sich das auf andere Länder übertragen läßt, ist dabei nicht von Interesse. Hier wird eine Nationaloper verhandelt. Wobei man selbstverständlich a u c h weiß, daß auf des Katalanen Bühnen mindestens einer immer entkleidet werden wird, oder eine. Sich darüber aufzurüsten, ist bigott, ob seitens des Publikums, ob im Hause selbst. Bigott wäre hier aber schon geödetes „Mußte das denn sein?“ – Ja, es mußte. Einmal abgesehen davon, daß diese Inszenierung in vorauseilender, schon ihrerseits so absurder Correctness-Sorge, daß es ans Bizarre grenzt, erst ab 16 Jahre „empfohlen“ wird – als hätten nicht längst alle erst Dreizehnjährigen auf ganz andere Darstellungen von Brutalität Zugriff, sei es über einschlägige, unmittelbar zugängliche Internetforen, sei es über die übrigen Medien. Die „Empfehlung“ entspricht der Verlogenheit des von Bieito als furchtbaren Gewaltzusammenhang entblößten Biedermeiers. Das wiederum entspricht unserer eigenen unmittelbaren Gegenwart und indiziert, wie nötig solche Bearbeitungen sind, wie Bieito sie jetzt abermals vorgelegt hat. Jedenfalls schriebe man besser „Empfohlen unter 65 Jahren“; man wär der Wahrheit näher dann – dessen, was man befürchtet wie die hier eben gleichfalls wirkende Verlogenheit eines gewollten Naiven.
Allerdings wird Bieitos Modernität bereits in den Texteinschüben klar, die er zusammen mit der Dramaturgin Bettina Auer aus dem Libretto teils um- wie teils auch gänzlich neugeschrieben hat. Das Stück ist ja gelegentlich mehr als eine Oper Singspiel. Der frische Ton fügt sich geradezu atemnehmend randlos in das Stück; nichts ist hier „nur gewollt“, nicht einmal Pablo Nerudas Gedicht „Der Jäger im Wald“, das Bieito zu Beginn der eigentlichen Oper, nach der Ouvertüre, im Wald herumstolpernd sprechen läßt. Dann erscheint, exakt zum Einsatz der Hörner, ein schnüffelndes wirkliches Wildschwein, das ziemlich lässig von einem – wie zu erfahren war, Leipziger – Wollschwein gespielt wird. Bieito kalkuliert da selbstverständlich bereits ein, sein Publikum mit solchem Zoo erst einmal zu amüsieren, so daß er solchem Pavlov den Reflex gleich zweifach kann im Magen herumdrehn: zum einen, wenn johlend und ballernd die Jäger erscheinen, indem das dann geschossene Schwarzwild nicht länger noch vom Wollschwein, sondern nun von einem Menschen dargestellt wird, den man sprichwörtlich, um es im Jägerdeutsch zu sagen, aus der Decke schlägt – und die Frauen des volksfidelen Chors rühren dazu in den Eimern, die ihnen an den Armen hängen, Blut. Damit es nicht gerinnt – doch unsers: Wenn wir denn aufmerksam sind und nicht in die Abwehr verfallen, zu der Gelächter eben a u c h gehört. Und während man sich viehisch am Blutrühr vergnügt und das nunmehr Menschenschwein zerlegt wird, geht die Musi lustig ab. Jäh kann das unterbrochen werden und wird es auch: „Max, du Versager“ schreien sie im Massenchor und zeigen auf ihn, ihn nicht verspottend, nein, sie kotzen über ihn die ganze Häme aus, deren Menschen irgend fähig, wenn sie so zusammen Volk sind.
Indes, ganz unabhängig hiervon, ist das Stück als eine Art Nationaloper der Deutschen hinlänglich bekannt, und wer es bislang noch nicht kannte, wird es spätestens bei der Nachbereitung intensiver kennenlernen, als eine sogenannt traditionelle Aufführung dafür überhaupt die Grundlagen könnte legen. Denn wir werden von Bieito auf eine Weise nicht nur für die Verlogenheit, nämlich eine ideologisch hinter ihm stehende scheinnaive Anthropologie des Librettos sensibilisiert, sondern so sehr auch für die der Musik, daß kein Mensch mehr solcher Naivetät sich erfreuen kann. Vielmehr legt Bieito frei, was hinter ihr tatsächlich wirkt. Das ist kein angenehmer Befund. Man wird sie nicht minder bestialisch finden als das, was auf die Jägerromantik, historisch, folgte: für das, was zu v. Webers Zeit noch „deutsch“ gewesen sein mag. In der Tat wird hier deutsche Geschichte verhandelt, und zwar ihre seelische Motivgeschichte. Das ist, wenn eine Interpretation so etwas leistet, schon einmal viel, vor allem dann, wenn jegliche bloß aufgesetzte, „aufklärende“ Didaktik in der Intensität der, sagen wir, Interpretations-Immanenz nicht nur der Bühne verwiesen wird, sondern dramaturgisch auf ihr verglüht.
Bieito inszeniert keine Lehrstücke; er bleibt am Material. Und wenn ihm etwas daran so wiedersprüchlich ist, daß von Verlogenheit gesprochen werden muß, scheut er sich weder, das kurzerhand zu streichen, noch, durch eigene Einschübe ein anderes, oft grelles, Schlaglicht darauf zu werfen. Wie schon Ferrucio Busoni mit dem Faust, und nach dem Thomas Mann, streicht Bieito Goethes Erlösungsversprechen durch; das entspricht, die Thomas Mann schon kannte, den geschichtlichen Tatsachen. Deshalb wird bei Bieito Der Freischütz zu einem Blut- und Hämespiel – nicht dem seinen, bewahre!, sondern dem der Protagonisten, die hier das deutsche Volk sind. Daß sich das auf andere Länder übertragen läßt, ist dabei nicht von Interesse. Hier wird eine Nationaloper verhandelt. Wobei man selbstverständlich a u c h weiß, daß auf des Katalanen Bühnen mindestens einer immer entkleidet werden wird, oder eine. Sich darüber aufzurüsten, ist bigott, ob seitens des Publikums, ob im Hause selbst. Bigott wäre hier aber schon geödetes „Mußte das denn sein?“ – Ja, es mußte. Einmal abgesehen davon, daß diese Inszenierung in vorauseilender, schon ihrerseits so absurder Correctness-Sorge, daß es ans Bizarre grenzt, erst ab 16 Jahre „empfohlen“ wird – als hätten nicht längst alle erst Dreizehnjährigen auf ganz andere Darstellungen von Brutalität Zugriff, sei es über einschlägige, unmittelbar zugängliche Internetforen, sei es über die übrigen Medien. Die „Empfehlung“ entspricht der Verlogenheit des von Bieito als furchtbaren Gewaltzusammenhang entblößten Biedermeiers. Das wiederum entspricht unserer eigenen unmittelbaren Gegenwart und indiziert, wie nötig solche Bearbeitungen sind, wie Bieito sie jetzt abermals vorgelegt hat. Jedenfalls schriebe man besser „Empfohlen unter 65 Jahren“; man wär der Wahrheit näher dann – dessen, was man befürchtet wie die hier eben gleichfalls wirkende Verlogenheit eines gewollten Naiven.
Allerdings wird Bieitos Modernität bereits in den Texteinschüben klar, die er zusammen mit der Dramaturgin Bettina Auer aus dem Libretto teils um- wie teils auch gänzlich neugeschrieben hat. Das Stück ist ja gelegentlich mehr als eine Oper Singspiel. Der frische Ton fügt sich geradezu atemnehmend randlos in das Stück; nichts ist hier „nur gewollt“, nicht einmal Pablo Nerudas Gedicht „Der Jäger im Wald“, das Bieito zu Beginn der eigentlichen Oper, nach der Ouvertüre, im Wald herumstolpernd sprechen läßt. Dann erscheint, exakt zum Einsatz der Hörner, ein schnüffelndes wirkliches Wildschwein, das ziemlich lässig von einem – wie zu erfahren war, Leipziger – Wollschwein gespielt wird. Bieito kalkuliert da selbstverständlich bereits ein, sein Publikum mit solchem Zoo erst einmal zu amüsieren, so daß er solchem Pavlov den Reflex gleich zweifach kann im Magen herumdrehn: zum einen, wenn johlend und ballernd die Jäger erscheinen, indem das dann geschossene Schwarzwild nicht länger noch vom Wollschwein, sondern nun von einem Menschen dargestellt wird, den man sprichwörtlich, um es im Jägerdeutsch zu sagen, aus der Decke schlägt – und die Frauen des volksfidelen Chors rühren dazu in den Eimern, die ihnen an den Armen hängen, Blut. Damit es nicht gerinnt – doch unsers: Wenn wir denn aufmerksam sind und nicht in die Abwehr verfallen, zu der Gelächter eben a u c h gehört. Und während man sich viehisch am Blutrühr vergnügt und das nunmehr Menschenschwein zerlegt wird, geht die Musi lustig ab. Jäh kann das unterbrochen werden und wird es auch: „Max, du Versager“ schreien sie im Massenchor und zeigen auf ihn, ihn nicht verspottend, nein, sie kotzen über ihn die ganze Häme aus, deren Menschen irgend fähig, wenn sie so zusammen Volk sind.
Das ist nicht bewußt gerichtet, sondern es geht um Häme-selbst. Eine der größten Momente dieser Inszenierung führt das so dringlich vor, daß einem das Herz stehenbleibt. Mitten im launischen, hier ins beklemmend Karne(‚carne‘!)valeske hochgetriebenen Brautfernlied kriegt plötzlich eine von denen den Blues, und leise klagt sie, nun 43 zu sein und keinen Mann mehr abzukriegen. Woraufhin sich die gesamte Häme von Agathe, die ihr die Stirn zeigt, abwendet und auf diese neue Schwache stürzt: kreischend mitleidlos. Und sogleich ertönt der berühmte Jägerchor.
Mit solchen Konfrontationen macht Bieito immer wieder, hartnäckig, den eigentlichen Gewaltzusammenhang klar und – wo das Böse denn e i g e n t l i c h steckt: eben nicht im Teufel, den er deswegen aus v. Webers Oper zur Gänze hinausstreicht. Sie braucht ihn nicht getrennt, nicht als von sich weggedrängtes Phänomen, sondern es ist in den Menschen selbst, sowie sie Masse sind. D e shalb kommt Samiel nicht gesondert vor. Bieito bindet die Einzelfiguren an ihre Entscheidungen zurück; wenn Kaspar von Menschenopfern spricht, die er dem Teufel präsentiert, wird das bei Bieito faktisch: Kaspar mordet und gießt die Freikugeln direkt aus dem Leib seiner Opfer.
Mit solchen Konfrontationen macht Bieito immer wieder, hartnäckig, den eigentlichen Gewaltzusammenhang klar und – wo das Böse denn e i g e n t l i c h steckt: eben nicht im Teufel, den er deswegen aus v. Webers Oper zur Gänze hinausstreicht. Sie braucht ihn nicht getrennt, nicht als von sich weggedrängtes Phänomen, sondern es ist in den Menschen selbst, sowie sie Masse sind. D e shalb kommt Samiel nicht gesondert vor. Bieito bindet die Einzelfiguren an ihre Entscheidungen zurück; wenn Kaspar von Menschenopfern spricht, die er dem Teufel präsentiert, wird das bei Bieito faktisch: Kaspar mordet und gießt die Freikugeln direkt aus dem Leib seiner Opfer.
Als nun auch Max mittut und seinerseits ein Opfer „bringt“, ist das jetzt nicht mehr die Handlung eines, der aus Not seine Seele verkauft, sondern vielmehr Initiation. Erst durch diesen Akt macht sich Max würdig, in die Jägergemeinschaft mitzugehören, die bei v. Weber für die bürgerliche Gesellschaft steht. Den Teufel da noch, geschweige als treibende Kraft, auftreten zu lassen, bedeutete, ihrer Ideologie auf den brutalen Leim zu gehen. Und wer Samiel ist, nun, wer das im Publikum nicht weiß – schon der Alterswarnung wegen sitzen da nicht Schüler -, hat sowieso die eigene Kultur schon längst verloren und ist dem, Adorno, universellen Verblendungszusammenhang entblößter ausgeliefert, als es Max im ganzen Dritten Akt gewesen.
Das ist eine ungeheure und ungeheuer wahre Interpretation. Zu der sich ungeheure Bildideen addieren, etwa wie die Jägermeute der Agathe einen toten Hasen, quasi als Geburtshohn, in die Arme legt. Sowie dieser „Realisierung“ von „echter“ Natur auf einer Bühne und die Umsetzung des Verviehens eines jungen Mannes, der eigentlich unschuldig liebte. Das darf er nicht bleiben, unschuldig. Die Schwäche daran ist in der Gemeinschaft nicht überlebensfähig; doch mit dem Gießen der Freikugeln, also dem Pakt mit dem eigenen inneren Teufel, vertiert der Mensch.
Das ist eine ungeheure und ungeheuer wahre Interpretation. Zu der sich ungeheure Bildideen addieren, etwa wie die Jägermeute der Agathe einen toten Hasen, quasi als Geburtshohn, in die Arme legt. Sowie dieser „Realisierung“ von „echter“ Natur auf einer Bühne und die Umsetzung des Verviehens eines jungen Mannes, der eigentlich unschuldig liebte. Das darf er nicht bleiben, unschuldig. Die Schwäche daran ist in der Gemeinschaft nicht überlebensfähig; doch mit dem Gießen der Freikugeln, also dem Pakt mit dem eigenen inneren Teufel, vertiert der Mensch.
Was man bei Bieito eben bildlich sieht. Die ganze Rolle wird jetzt nackt gespielt, nur verschmiert mit einem Schlamm, der einerseits nicht ungefähr an Kot erinnert und damit für den >>>> autoritären Character steht, der einer jeden Zwangsgesellschaft notwendige Voraussetzung ist. Andererseits liegt in Maxens nackter Erscheinung auch ein Stück Utopie: insofern sie enorm an die des Wollschweins erinnert, das zu Anfang das Wildschwein gespielt hat. Das geht bis in die Körperhaltung, worin Kraft und Unmittelbarkeit und eben auch ein schuldloser Trieb sind. Vincent Wolfsteiner spielt das derart überzeugend, daß die einzige Stelle der Oper, worin Sexualität zugelassen sein kann, zumal einer Frau, unendlich anrührend wird: nämlich in Agathes Traum.
Dort nimmt Wolfsteiner bisweilen sogar die Form eines Fauns an, wie wir sie von klassischen Abbildungen, vor allem aber Statuetten kennen; es ist lediglich ein bißchen zu bedauern, daß sich eine Erektion nicht auf Geheiß erreichen läßt, sonst wäre der Eindruck perfekt gewesen. Die Utopie aber ist die, sein zu dürfen, wie man ist, der Geschlechtstrieb als Geist über den Wassern, dann nämlich – Liebe. Daß dies unmöglich ist und Traumbild bleiben muß, führt diese Inszenierung, gleichsam im Nebenbei, zusätzlich vor.
Angesichts einer solchen Größe kann ich nur meinen Hut ziehen. Man mache sich nur einmal klar, aus welchem S c h m o c k der Regisseur das herausholt.
Zu dem gehört das vermittelte Frauenbild, das auch bei Schiller schon unerträglich war. Drinnen waltet die züchtige (!) Hausfrau. Alle internalisierte Zwangsphobie wird darin als den Männern bequemes ObjektIdeal verklärt, die Frau zum kleinen Mädchen degradiert, das sein Geschlecht nicht kennt und, wo sie etwas davon spürt, sich schuldig und beschmutzt fühlt. Dem entspricht das unerträgliche, ja widerliche Herumgetändel der entsprechenden Musikstücke, dieses scheinkindliche Geschlenker mit dem kompositorischen Handtäschchen am melodischen Handgelenk, und in den Harmonien zipfelt das von Rührtränen betunkte Spitzentaschentuch. Es ist dieselbe Brutalität, aber duftgepudert. Das durchzieht den gesamten Freischütz. Bieito – und hier wirklich kongenial der Dirigent, Patrick Lange, der neuerdings exakt wie der junge Wagner aussieht – konterkarieren das mit dem immer wieder sehr laut ausbrechenden Gelächter, dem Gefeixe, dem Rumgeschieße, dieser ganzen entbundenen, aber einer in der Volksgemeinheit aufgehobenen ewigen Vorpubertät losgelassenster Vandalen: primitiv, ordinär, haßerfüllt, zerfressen von der sich am Zertreten Schwacher einen runterholenden hypostasierten Minderwertigkeit. Daß das die Textur der Oper nicht stört, sondern sie, collagierend, im Gegenteil kompositorisch aufwertet, ist eine der herausstechendsten Leistungen der musikalischen Interpretation. Man kann von einer musikalischen Choreografie sprechen. In sie gehört auch die lautsprachliche Darstellung der meisten Frauencharactere; etwa wirkt Ännchens albern dauerfieses Lachen wie tatsächlich hineinkomponiert. Hier haben, spürt man, Dirigent und Regisseur dasselbe Ziel vor Augen.
Es ist ja nicht leicht, ein schlüssiges Dirigat des Freischützen vorzuführen, weil – ungerechterweise, doch es ist so – jede Interpretation an >>>> Carlos Kleibers Referenzaufnahme von 1979 gemessen werden muß. Patrick Lange wird sie mit Sicherheit kennen. Entsprechend zupackend legt er seine Vorstellung auch an, in den Rahmen des Gegebenen selbstverständlich; er muß das Szenische stärker als Kleiber, der mit anderem „Material“ umging, in die musikalische Durchformung holen. Was ihm bewundernswert gelingt, ihm und, selbstverständlich, seinen Musikern. Der bei Kleiber intendierten Reinheit stellt Lange einen Gegenentwurf gleichberechtigt zur Seite; es ist höchst fraglich, ob unter Kleiber solch eine Gegenwart der Darstellung möglich gewesen wäre, auch wenn er gewiß als reines Klangerlebnis, also eben ohne Szene, das der Komischen Oper übertrifft.
Das gilt auch für die Sänger. Wolfsteiners stupende Darstellung ist schon erwähnt; stimmlich ist aber er so wenig Peter Schreier wie Ina Kringelborns Agathe die der Gundula Janowitz. Ja, es ist bitter, Mandarinen mit Orangen zu vergleichen, doch mediale Wirklichkeit, daß man es tut, will man nicht pädagogisch loben. Was nämlich herablassend wäre. Wohl aber hat Frau Kringelborn unter anderem das Gebet atemraubend klanggestaltet, und die Orchesterbegleitung nahm sich dafür alle Zeit der Welt. Immer präsent, klangvoll wie szenisch völlig glaubhaft, Carsten Sabrowskis Kaspar. Ein gutes Ännchen singt Julia Giebel, die auch noch den Vorteil hat, das Bieito sie gegenüber v. Weber emanzipiert, wenn auch meist in fehllaufenden Aktionen, die ihr Gemeintes, die Emanzipation, dauerveralbern – was durch das Rebellische in ihr eine Reaktionsform eben i s t, oder sagen wir: in der durch sie vibrierenden Aggressivität. Als sie die fahrenläßt, beim Jungfernkranzgesang, wird die Frau zum Opfer sofort selbst. Rein stimmlich derart tadellos allerdings, daß ich beinah aufschrak: Günter Papendell in der kleinen, aber feinen Partie des Fürsten Ottokar.
Carl Maria v. Weber
DER FREISCHÜTZ
Romantische Oper in drei Aufzügen.
Libretto von Friedrich Kind.
Angesichts einer solchen Größe kann ich nur meinen Hut ziehen. Man mache sich nur einmal klar, aus welchem S c h m o c k der Regisseur das herausholt.
Zu dem gehört das vermittelte Frauenbild, das auch bei Schiller schon unerträglich war. Drinnen waltet die züchtige (!) Hausfrau. Alle internalisierte Zwangsphobie wird darin als den Männern bequemes ObjektIdeal verklärt, die Frau zum kleinen Mädchen degradiert, das sein Geschlecht nicht kennt und, wo sie etwas davon spürt, sich schuldig und beschmutzt fühlt. Dem entspricht das unerträgliche, ja widerliche Herumgetändel der entsprechenden Musikstücke, dieses scheinkindliche Geschlenker mit dem kompositorischen Handtäschchen am melodischen Handgelenk, und in den Harmonien zipfelt das von Rührtränen betunkte Spitzentaschentuch. Es ist dieselbe Brutalität, aber duftgepudert. Das durchzieht den gesamten Freischütz. Bieito – und hier wirklich kongenial der Dirigent, Patrick Lange, der neuerdings exakt wie der junge Wagner aussieht – konterkarieren das mit dem immer wieder sehr laut ausbrechenden Gelächter, dem Gefeixe, dem Rumgeschieße, dieser ganzen entbundenen, aber einer in der Volksgemeinheit aufgehobenen ewigen Vorpubertät losgelassenster Vandalen: primitiv, ordinär, haßerfüllt, zerfressen von der sich am Zertreten Schwacher einen runterholenden hypostasierten Minderwertigkeit. Daß das die Textur der Oper nicht stört, sondern sie, collagierend, im Gegenteil kompositorisch aufwertet, ist eine der herausstechendsten Leistungen der musikalischen Interpretation. Man kann von einer musikalischen Choreografie sprechen. In sie gehört auch die lautsprachliche Darstellung der meisten Frauencharactere; etwa wirkt Ännchens albern dauerfieses Lachen wie tatsächlich hineinkomponiert. Hier haben, spürt man, Dirigent und Regisseur dasselbe Ziel vor Augen.
Es ist ja nicht leicht, ein schlüssiges Dirigat des Freischützen vorzuführen, weil – ungerechterweise, doch es ist so – jede Interpretation an >>>> Carlos Kleibers Referenzaufnahme von 1979 gemessen werden muß. Patrick Lange wird sie mit Sicherheit kennen. Entsprechend zupackend legt er seine Vorstellung auch an, in den Rahmen des Gegebenen selbstverständlich; er muß das Szenische stärker als Kleiber, der mit anderem „Material“ umging, in die musikalische Durchformung holen. Was ihm bewundernswert gelingt, ihm und, selbstverständlich, seinen Musikern. Der bei Kleiber intendierten Reinheit stellt Lange einen Gegenentwurf gleichberechtigt zur Seite; es ist höchst fraglich, ob unter Kleiber solch eine Gegenwart der Darstellung möglich gewesen wäre, auch wenn er gewiß als reines Klangerlebnis, also eben ohne Szene, das der Komischen Oper übertrifft.
Das gilt auch für die Sänger. Wolfsteiners stupende Darstellung ist schon erwähnt; stimmlich ist aber er so wenig Peter Schreier wie Ina Kringelborns Agathe die der Gundula Janowitz. Ja, es ist bitter, Mandarinen mit Orangen zu vergleichen, doch mediale Wirklichkeit, daß man es tut, will man nicht pädagogisch loben. Was nämlich herablassend wäre. Wohl aber hat Frau Kringelborn unter anderem das Gebet atemraubend klanggestaltet, und die Orchesterbegleitung nahm sich dafür alle Zeit der Welt. Immer präsent, klangvoll wie szenisch völlig glaubhaft, Carsten Sabrowskis Kaspar. Ein gutes Ännchen singt Julia Giebel, die auch noch den Vorteil hat, das Bieito sie gegenüber v. Weber emanzipiert, wenn auch meist in fehllaufenden Aktionen, die ihr Gemeintes, die Emanzipation, dauerveralbern – was durch das Rebellische in ihr eine Reaktionsform eben i s t, oder sagen wir: in der durch sie vibrierenden Aggressivität. Als sie die fahrenläßt, beim Jungfernkranzgesang, wird die Frau zum Opfer sofort selbst. Rein stimmlich derart tadellos allerdings, daß ich beinah aufschrak: Günter Papendell in der kleinen, aber feinen Partie des Fürsten Ottokar.
Buhs und Jubel gaben dem Applaus einige Farbe. Man wird und kann sich über diesen Freischütz also streiten, vielleicht bald auch >>>> hier drunter. Vergessen aber wird man ihn nie.
Carl Maria v. Weber
DER FREISCHÜTZ
Romantische Oper in drei Aufzügen.
Libretto von Friedrich Kind.
Dmitry Golovnin, Vincent Wolfsteiner, Ina Kringelborn, Carsten Sabrowski,
Julia Giebel, Alexey Tihomirov, Günter Papendell, Christoph Späth,
Hans-Peter Scheidegger.
Chor und Orchester der Komischen Oper Berlin.
Patrick Lange
Die nächsten Vorstellungen:
04., 07., 21., 24. Feb.
04., 09., 29. Mär.
04. Apr.
06. Jul.
Das aus der Decke schlagen … … hatte in alten deutschen Wörterbüchern die um das tödliche Drama der Erkenntnis gebrachte säkulare Bedeutung des Entdeckens
@Hans Hütt: Sogar. D a s läßt sich auf Bieitos Interpretation übertragen. Danke für diesen Hinweis.
Attentat auf Webers Musik Lieber Herr Herbst,
wir haben uns schon einige Mal produktiv mit einander aus einander gesetzt – nicht als Pöbelei, Rechthaberei oder Polemik, sondern im Hegelschen Sinne der Erkenntnisgewinnung: Man reizt sich gegenseitig zu Widerspruch heraus, schärft im Nachdenken über den Anderen eigene Positionen, kommt zu dem Punkt, wo man widersprüchliche Sichtweisen gleichberechtigt neben einander bestehen lassen muss oder eindeutige Sichtweisen differenziert.
In diesem Sinne möchte ich es auch in puncto Freischütz/Bieito halten. Ich halte Bieitos Inszenierung für ein Attentat auf Webers Musik, die deren humane Botschaft in fast jedem Augenblick szenisch durchstreichen und auslöschen möchte. Ich halte das Bühnenbild und vor allem das geniale Licht von Franck Evin für eines der schönsten, stimmungsvollsten, unheimlichsten, das ich überhaupt gesehen habe – es hatte eine Poe-Qualität und war absolut werktreu. Ich habe Patrick Lange dafür bewundert, verehrt, vergöttert, dass er sich von dem Krawall auf der Bühne nicht zu ähnlicher musikalischer Schreierei hat verführen lassen, sondern seinen poetischen, genauen mezzaforte-Ton durchgehalten hat. Er wollte, etwa beim Ländler im 1. Akt, lieber überschrien werden, als sich auf das Niveau des Proletentons dieser Inszenierung herabzulassen und sie zu überschreien.
Dass Bieito handwerklich kein Genie ist, ist bekannt. Sein Pfund, mit dem er wuchert, sind starke, provokante Setzungen. Differenzierte Personenführung war nie sein Ding. So auch hier.
Indem er sämtliche Dialoge im Freischütz strich, hat er aus dem Drama ein kostümiertes Wunschkonzert gemacht. Er hangelt sich von Nummer zu Nummer. Die Nummern bedeuten aber nichts mehr. Damit ist die Avantgarde wie bei den Reaktionären angekommen. Das Publikum wird gebeten, das Hirn an der Garderobe abzugeben und sich ganz dem Schock zu überlassen. Dass man sich auch in der Apokalypse und im siebten Kreis der Hölle selbstzufrieden räkeln kann, ist ja mittlerweile eine Plattitüde. Zur Illustration verweise ich auf Thomas Manns Erzählung vom Kleinen Herrn Friedemann, der seinem Hündchen alle paar Monate den Bauch aufschlitzt und wieder zunähen lässt, damit er sich sein Schopenhauersches Credo bestätigen kann, dass die Welt aus Leid und Grausamkeit besteht.
Das ist meine Meinung, meine Haltung zu diesem Abend. Nun das Interessantere, die Begründung, der Diskurs, der Dialog.
Sie schreiben, dass sie den Freischütz nie mochten. Ich glaube, dass ist der Grund, warum sie den Abend mochten. Diese Inszenierung mochte den Freischütz nämlich auch nicht. Sie strich, wie ich oben schon sagte, die Musik und ihre Botschaft aus. Das ist meines Erachtens der Grund für Ihre positive Reaktion.
Für mich gehört er wie Fidelio zu den erschütterndsten Werken, weil seine Musik utopisches Denken wagt: den Vorschein einer besseren Welt auch in der Hölle nicht aufgibt. Wir wissen, dass KZ- und GULAG-Insassen nur darum überlebten, weil sie das taten. Und es will mir scheinen, dass auch wir Insassen unserer Gegenwart ab und zu Märchen brauchen, um nicht zu verzweifeln. Märchen, notabene, sind nicht dumm. Sie stellen die Grausamkeit der Welt in Rechnung, hegen aber die Hoffnung, dass das Gute, Clevere, Schöne über die rohe Gewalt siegt.
Sie nennen die Utopie, die sich in den Agathe-Cavatinen, im Eremiten, in einigen Chören ausdrückt verlogen. Das sagt mehr über Sie als über den Freischütz aus. Das unsere Zeit Schwierigkeiten mit Utopien hat, ist allgemein verbreitet und angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts (aber auch z.B. der Französischen Revolution, siehe Dantons Tod), kein Wunder. Trotzdem hat doch jedes Ding zwei Seiten. Wenn Utopien missbraucht wurden, heißt das nicht, das Utopien auch notwendig sein können, um nicht zu verzweifeln und sich aus diesem Leben fortzumachen. Das griechische Wort „farmakon“ spricht diese Widersprüchlichkeit sehr schön aus: Es bezeichnet zugleich das Heilmittel und das Gift. Utopie (auch die Webersche des Humanismus, der in unserer Ellenbogengesellschaft leider überhaupt keine Konjunktur hat) kann beides sein: Heilmittel (im GULAG) oder Gift (bei Stalin, Hitler & Konsorten).
Worin besteht die Utopie des Freischütz? Darin, dass Agathe, der Eremit und im Finale auch der Chor in der Hölle an der Menschlichkeit festhalten. Das Libretto bestimmt den Zeitpunkt der Handlung „nach dem dreissigjährigen Krieg“. Komponiert wurde das Werk nach den napoleonischen Kriegen. Beide Kriege waren von unvorstellbarer Grausamkeit geprägt. Nach dem dreissigjährigen waren weite Landstriche Deutschlands entvölkert. Wenn Sie die Schilderungen Ernst Moritz Arndts vom Rückzug der Grande Armee 1813 aus Russland lesen, kommen ihnen angesichts der haushohen Leichenberge auf Straßen und in Hospitälern Assoziationen an den Holocaust. Die Desastres de la guerra von Goya sind bekannt. Auch sie dokumentieren die napoleonischen Kriege. Die preußischen Offiziere, die den Volksaufstand predigten, orientierten sich am spanischen Bürgerkrieg gegen Napoleon. Weber bezieht sich auf diesen napoleonischen Krieg. Der Jägerchor ist eine variierende Paraphrase seines Chores „Lützows wilde Jagd“, die er 1814 für die deutschen Patrioten komponierte und in der die französischen Besatzer – nach der Völkerschlacht, aber vor Waterloo – wie Hasen aus dem Land gejagt werden. Mit dem Jägerchor macht Weber deutlich, dass er sich auf die Befreiungskriege bezieht, die 7 Jahre danach noch allen Europäern in den Knochen steckten. Mittlerweile hatte Metternich 1819 jede politische Betätigung verboten. Europa wurde ein Friedhof, auf dem nur noch geflüstert wurde. Jede politische Regung endete im Kerker, wo die Gefangenen vermoderten. Lesen sie Schubart oder die Prozessprotokolle rund um die Verfolgung des „Hessischen Landboten“. Und in diesem Moment erinnert der Freischütz mit seinem Jägerchor an einem Moment, wo die Herren Metternichs & co das Bürgertum, „das Volk“ zum politischen Handeln aufriefen, um ihre Macht zu sichern. Chapeau! Das nenne ich Mut vor Königsthronen.
Weiter: Europa ist 1822 ein Schlachthaus. 700.000 Menschen sind allein auf dem Russlandfeldzug Napoleons auf seiner Seite erfroren, zerhackt, verhungert. Die ganze Periode von 1789 bis 1815 hatte ein Vielfaches an Opfern gefordert. Napoleon war der Hitler des 19. Jahrhunderts (obwohl er im Codex Napoleon den Juden erstmals volle bürgerliche Rechte zugestand, weswegen Heine ihn liebte; dass er es nur tat, um Sympathien für Frankreich in den besetzten Gebieten zu generieren und dass Napoleon mit seinem Allmachtswahn mehr Tote auf dem Gewissen hatte, als jeder andere Politiker zuvor, verschweigt Heine). Tod und Gewalt waren Webers Alltagserfahrung. Und trotzdem singt Agathe: „Und ob die Wolke sie verhülle, / Die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ Und sie fährt fort: „Es waltet dort ein heilger Wille, / Nicht blindem Zufall dient die Welt.“ Wow! Wow! Wow! Agathe lässt sich nicht unterkriegen. Wenn alle brutal sind, sie macht nicht mit. Sie nimmt nicht die Knarre und läuft Amok. Sie beantwortet Gewalt nicht mit Gegengewalt, sondern behauptet mit ihrem Beispiel, dass Humanität möglich ist. Danton sagt bei Büchner: „Ich will lieber guillotiniert werden, als guillotinieren lassen.“ Und an anderer Stelle, dass er es leid sei, immer auf Leichen treten zu müssen, um aus dem Grab herauszuklettern. Agathe verweigert sich der Brutalität der Gesellschaft, des Probeschusses, des Volkes. Sie macht einfach nicht mehr mit und wird dafür bei Weber am Ende erschossen. Weber zeigt damit einen Weg aus dem Gewaltkreislauf. Das ist überhaupt nicht „naiv“ und „biedermeierlich“ – das ist einfach eine Frau, die sich der Gewalt konsequent verweigert und die Konsequenzen auch auf sich nimmt. Das finde ich bewundernswert und wir können das überhaupt nicht oft genug erzählt kriegen in der Oper, um endlich einmal zu kapieren, dass es nicht unser Recht ist, permanent aufeinander loszudreschen, weil „die andern tun’s ja auch“. Agathe ist nicht blöd, sondern weise. Und der Freischütz ist es auch.
Bieito „sensibilisiert“ nicht für das, was „hinter der scheinnaiven Anthropologie des Librettos“ steckt, sondern er streicht es einfach aus. Im Finale lachen sich die Proleten und Brutalos tot über den Eremiten, der bei Weber dafür sorgt, dass das blöde Ritual des Probeschusses abgeschafft wird. Es ist das bittere Lachen Bieitos darüber, dass die Hoffnung auf eine Verbesserung der Welt bloß zynische Heuchelei ist. Aber Agathe gehört nicht zu diesem System. Weil er das nicht unterscheiden kann, ist sein Lachen das Lachen der Proleten, die er tumbe Lach- und Schiessgesellschaft bloßstellt. So wird er selbst, mit welch aufklärerische Absichten auch immer, zum Büttel dieses Systems der Inhumanität, indem er sagt: Ihr könnt euch spreizen wir ihr wollt: Ihr kommt doch nicht aus eurem Kerker, eurer Hölle raus. Also Kinder, lasst es. Das ist reaktionär. Die Aufstände in Syrien oder die des 20. Juli wären mit so einer Haltung nicht möglich. Nein. Das ist die Haltung Eichmanns‘, Rudolf Höss’, Oswald Kaduks und Konsorten. Das ist der Blick Roccos und der Mutter Courage auf die Hölle. Die Welt ist einmal so. Wir können’s nicht ändern. Hauptsache, wir machen unsern Schnitt.
Sie schreiben: „Und wenn [Bieito] etwas daran [am Libretto] so wiedersprüchlich ist, daß von Verlogenheit gesprochen werden muß, scheut er sich weder, das kurzerhand zu streichen, noch, durch eigene Einschübe ein anderes, oft grelles, Schlaglicht darauf zu werfen.“ Das ist der Punkt. Dort wo Weber die Widersprüchlichkeit der Welt aufdeckt, streicht Bieito die zweite Sinnebene und macht das Weltbild platt und geistesschlicht. Der Chor – alles Rambo-Deppen und Miss-Piggy-Fotzen. Agathe und Ännchen – blöde Dschungelcamp-Girlies. Kaspar – ein Satanist. Die harte Nuss, die uns der Freischütz zu knacken gibt, ist doch die: Wie kriegen wir das auf die Reihe, dass das Volk erst diesen hämischsten aller Opernchöre, singt, den Lachchor am Beginn der Oper, und dann gleich darauf in Rührung zu zerfließen: „Oh, lass Hoffnung dich beleben, / Vertraue dem Geschick.“ Sie falten die Zehlein, die Rehlein, komponiert Weber. Weber komponiert, was Büchner den „Fatalismus der Geschichte“ genannt hat („Was ist das, was in uns hurt, mordet, lügt und stiehlt.“, Danton, II, 5, so auch in den Briefen und im Woyzeck) und was der von kritischen Geistern ja auch über alles verachtete Schiller in das Distichon gebracht hat: „Jeder, siehst du ihn einzeln, / ist leidlich klug und verständig. / Doch nimmst Du ihn in corpore, / Gleich wird Dir ein Dummkopf daraus.“ Gustave Le Bon, leider ein Rassist, hat das in seiner brillanten Massenpsychologie versucht, analytisch zu fassen. Bieito streicht es einfach weg. Er macht aus einem vielschichtigen, widersprüchlichen Freischütz ein bequemes Horror-Biedermeier. „Der Mensch ist gar nicht gut, drum hau ihm auf den Hut.“ Herzlich willkommen im Dreschflegel-Verein. Und viel Spaß. Auch Splatter-Fans sind nicht unbedingt die intellektuelle Avantgarde der Gesellschaft. Es ist mindestens ebenso verlogen, es sich in einer Ästhetik nach dem Motto „Utopie und Humanität gehören nicht auf die Bühne“ bequem zu machen, wie in einer Ästhetik bigotter Moral nach dem Motto, Gewalt und Nacktheit gehören nicht auf die Bühne.
Sie, lieber Herr Herbst, verweisen auf die deutsche Geschichte und schreiben: „Das Stück als eine Art Nationaloper der Deutschen [sei] hinlänglich bekannt.“ Aber das ist doch eine Oberflächlichkeit, die dadurch nicht richtiger wird, dass sie millionenmal wiederholt wird. Flaubert hat in seinem Lexikon der „idées reçues“ alles Notwendige über solche Gemeinplätze gesagt. Wer sich ihrer bedient, ist ein Spießer, der die Stallwärme der Masse sucht, um ja nicht persönlich für seine Meinung zur Verantwortung gezogen zu werden. Wenn alle so denken, kann es ja nicht falsch sein. Millionen Fliegen können nicht irren.
Tun sie doch. Nicht das Stück propagiert eine Ideologie sondern diese Meinung über das Stück, die nichts mit dem Stück zu tun hat, ist die Ideologie des Biedermeier, die seine Verächter mit umgekehrten Vorzeichen dann übernommen haben. Dieses Stück ist keine Nationaloper, sondern es versucht eine Volksoper zu sein, indem es alle Stil-Ebenen vom hohen Ton der Agathen-Arien und des Finales bis hinunter zum Volkston des Ländlers, des Jungfernkranzes und des Jägerchors in sich vereint. Sie sagen ganz richtig, dass es eigentlich keine Oper ist, sondern ein Singspiel, als jene Form, die im späten 18., frühen 19. Jahrhundert von Schauspielern in Schauspielhäusern und nicht in der aristokratischen Hofoper gepflegt wurde. Ich würde sogar noch weiter gehen. Stilistisch ist es eine höchst widersprüchliche Collage. Weber versuchte alle Schichten der Bevölkerung mit dieser Stilmischung anzusprechen: für jeden etwas. Für den Bierkutscher und die Stickmamsells ebenso wie für die sentimentale Frau Hofrat und den intellektuellen Herrn Professor („Nein, nicht länger trag ich diese Qualen“ , Ouvertüre usw.). Weber versucht mit dieser Collage als Utopie noch einmal so etwas zu realisieren, was man eine Synthese aller Volksklassen bezeichnen könnte: Ein Werk, in dem sich alle wiederfinden. Das ist völlig unabhängig von deutsch oder nicht deutsch. In jeder Nation könnte es sowas geben. Verdi hat das mit Nabucco genau so versucht wie Berlioz mit den Trojanern (denken Sie an die Volkslieder im 5. Akt) oder Mussorgski mit Boris Godunow oder Chowanschtschina. Der Freischütz hat überhaupt nichts spezifisch Deutsches. Jedes Volk hat seine Abgründe. Und die berühmten Hörner sind, da muss man einfach bei der Wahrheit bleiben, böhmisch. Ich gestehe, dass auch ich als Melancholiker nicht viel mit Ännchens Munterkeit anfangen kann. Aber Weber wollte einfach auch die realen Ännchens mit ins Boot holen, und das berührt mich sehr, dass hier jemand nicht arrogant von der Bildungsbürgertums-Warte auf naivere Gemüter runterguckt, sondern auch sie in seine Umarmung einschließt. Und dann: Hat Ännchen mit ihrer Horrorparodie auf Agathes Schwarzseherei mit Nero, dem Kettenhund nicht recht? Menschenskinder, ihr seid doch verliebt in eure eigene Apokalypse. Hört doch endlich mal mit dem Blödsinn auf. Das muss einfach auch mal gesagt sein. Das trägt nur zu der Weltweite, zum Universalismus des Freischütz bei, das auch diese Stimme im Bachtinschen Sinne eines Kosmos widerstreitender Stimmen Gehör findet. Weber macht es sich nicht einfach wie Bieito und streicht sie nicht einfach raus. Das dient auch der psychischen Hygiene von Melancholikern, dass sie sich im Theater auch mal selbst auf die Schippe nehmen und über sich selbst lassen. So blöd ist dieses Ännchen also gar nicht.
Sie schreiben: „Bieito inszeniert keine Lehrstücke“ und meinen damit Lehrstücke der Aufklärung. Meines Erachtens hat er gerade aus dem Freischütz ein Lehrstück schlichtester Sorte gemacht. Seine Lehre lautet: die Welt ist so schlecht, dass sie nicht zu retten ist. Wenn er die Blumen des Bösen wenigstens zum Schillern gebracht hätte. Aber das hat er leider nicht. Alles, was nach der Pause kam, trat dramaturgisch und inhaltlich völlig auf der Stelle. Bieito hat einfach behauptet: Die Welt ist schlecht. Und dann kam nix mehr. Keine Begründung. Keine Differenzierung. Keine Perspektivierung. Ich finde das enorm langweilig und rechthaberisch. Was passiert unterdes alles bei Weber? Da geht es hin und her. Kämpfen Gut und Böse mit einander. Machen sich Autoritäten wie Erbförster und Kurfürst lächerlich und steigt der Aberglauben in Gestalt des Eremiten vom Himmel, schafft den Probeschuss ab, predigt Aufklärung und die Rehlein fallen auf die Knie und falten die Zehlein. Wie bitte? Sind die Leute wahnsinnig geworden? Dazu muss man sich doch positionieren! Sich mit einer wilden Pulp-Fiction-Ballerei aus der Affäre zu ziehen, ist doch ein bißchen billig. Und –halten zu Gnaden – nicht mal als Plagiator kann Bieito Tarantino das Wasser reichen. Was sind das für Dialoge bei Tarantino! Bei seinen Dialogen könnte man fast glauben, dass das Böse recht hat. Bei Bieito sind die Bösen einfach Trottel. Lieber Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie diese sagt der Pharisäer in der Bibel. Bieito ist so ein Pharisäer, der seine Wunden ausstellt und dafür Bewunderung verlangt. Das ist ungefähr so geistlos, bigott und obszön wie Lea Rosh, die von den Deutschen bedingungslose Unterwerfung verlangt, weil sie so tut, als sei sie selbst im KZ vergast worden. Lieber Herr Herbst, die stilistische Widersprüchlichkeit, die Sie am Freischütz bemängeln, ist gerade der Versuch, die sich der stilistischen Widersprüchlichkeit der Klassengesellschaft in irgendeiner Weise zu stellen und sie abzuspiegeln. Sie ist kein Manko des Werkes sondern Zeichen des Gegenteils von dem, was sie ihm unterstellen: nicht Verlogenheit, sondern der Versuch von Wahrhaftigkeit. Nämlich die Heterogenität der Gesellschaft nicht zu verleugnen, sondern zum Gegenstand einer Oper zu machen, die alle Klassen des Volkes mit ihrer eigenen Stimme und ohne herablassende Bevormundung mit einschließt. Dass es dabei zu Brüchen kommt, liegt in der Natur der Sache. Jede harmonisierende Darstellung wäre nach dem Stand der Dinge verlogen. Und auch wenn sie von der „Verlogenheit des gewollt Naiven“ schreiben, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie die Existenz von naiven Menschen, die sich z.B. Big Brother oder Dschungelcamp anschauen oder was vom Star Appeal von Madonna abhaben wollen, leugnen. Es müssen doch nicht immer alle Heidegger lesen und Schönberg beim Zähneputzen hören. Lassen sie die Leute doch einfach BZ lesen und Bushido hören, ohne daraus gleich ein Menetekel sozialer Verlogenheit zu machen.
Es gab 2 Dinge, die mir neben dem Bühnenbild ausnehmend gut an diesem Freischütz gefallen haben. Das eine war die Sau, die zur Ouvertüre auf die Bühne kam. Dieses friedliche Bild des ganz basalen Lebens und Fressens zu den martialisch-lustigen Jägerklängen hat mich sehr berührt. So ist die Kreatur. Sie will nur leben und tut keinem was zu leide (richtige Säue wurden für richtige Bauern aber zur wirklichen Plage). Aber es gibt andere Kreaturen, die finden ihre Lust nur beim Töten. Das war ein stilles, tiefes Bild, das der Tiefe und Widersprüchlichkeit der Freischütz-Musik in unheimlicher Weise entsprach. Und es exponierte ja auch den Konflikt der folgenden Szene, der bei Bieito dann leider nicht stattfand: den Konflikt zwischen dem siegreichen BAUERN Kilian, der den JÄGER, also den Fachmann des Tötens Max beim Schießen übertrifft. Immer, wenn der Fachmann sich blamiert, ist der Laie umso hämischer: daher dieser bösartigste aller je komponierten Lachchöre der Operngeschichte am Anfang des Freischütze.
Daher auch Maxens „Nein, länger trag ich nicht die Qualen, / die Angst, die jede Hoffnung raubt.“ Ist je Erschreckenderes gedichtet und komponiert worden? „Mich fasst Verzweiflung, foltert Spott.“ Und das ist der zweite Punkt, der mich sehr berührt hat an dieser Inszenierung. Max wird von der Gesellschaft in die Kriminalität, in den Pakt mit dem Bösen (bei Bieito: des Psychopathen) getrieben. Bei Bieito wird er selbst zum Tier. Zum gejagten Tier. Jagdszenen in Niederbayern, hieß das mal bei Sperr. Mit dem nackten Werwolf Max (Kaspar schnitt sich die Adern auf, um Max mit seinem Blut anzustecken), der lustigerweise im realen Leben Vincent Wolfsteiner heisst, hat Bieito das in ein erschreckendes, bleibendes Bild übersetzt. Nur leider folgt nichts daraus. Warum erschießt er Agathe, statt sie zu zerfleischen. Warum wimmert er von Tugend, ohne das als Taktik des umzingelten Tieres zu spielen? Leider kümmert sich Bieito nicht um Logik. Nicht mal um Alptraumlogik. Nicht mal um Logik innerhalb seiner eigenen Setzung. Das Publikum hat seine Behauptungen zu fressen und die Schnautze gefälligst zu halten. Mitdenken verboten. Das Theater als Erziehungsanstalt zur Hervorbringung unmündiger Bürger. Ihr Trottel kapiert das sowieso nicht. Da haben wir ihn wieder: Bieito, den autoritären Reaktionär. Wir Werwölfe haben gefälligst die Zehlein zu falten und den Verkünder des Antievangeliums anzubeten. Und uns ohne zu Muksen im Theater vorspielen zu lassen, wie Menschen ausgeweidet und Bräute erstochen werden.
Ihnen, lieber Herr Herbst, ist das Herz stehen geblieben, als Ännchen im Brautjungfernchor gesteht, dass sie mit 43 immer noch keinen Mann abgekriegt hat. Ja, ist das denn Entschuldigung dafür, dass sie der ohnehin labilen Agathe derartig in die Magengrube tritt, dass sie ihr einen Totenkranz zur Hochzeit überreichen lässt? Diese Art von Missgunst ist widerlich. „Der Unterdrückte träumt vom Unterdrücken“, hat Hans Magnus Enzensberger mal gesagt. Das ist der Grund für die Tragödie des dekolonialisierten Afrikas. Lauter Unterdrückte, die, einmal zur Macht gekommen, ihr Volk ausplündern, morden und Unterdrücken. Der ganze Faschismus funktionierte so: Lauter zu kurz gekommene Spießbürger, die nicht Manns genug waren, für sich selbst zu sprechen, aber im Schutz der Meute (der Gruppe der Brautjungfern) ihre Minderwertigkeitskomplexe an den Juden ausließen. Und Sie haben Mitleid mit so einem Ännchen? Pfui Teufel.
Lieber Herr Herbst, der Freischütz ist kein Schmock. Er mutet uns einfach die Wahrheit über uns zu. Die Wahrheit lautet mit Kleists Marquise von O, dass ihr der Mensch „nicht wie ein Teufel erschienen sein würde, wenn er ihr nicht bei seiner ersten Erscheinung wie ein Engel vorgekommen wäre.“ Webers Musik fleht die Menschen – und zwar alle Klassen, Stichwort: Collage – an, sich für ihre Engelsnatur zu entscheiden, um der Gewalt endlich ein Ende zu machen. Bieito ermuntert sie dazu, ihrer Teufelsnatur zu folgen, da ihnen auf dieser Welt ohnehin nicht zu helfen ist. Ich finde das unverantwortlich.
Herzliche Grüße
Ihr Boris Kehrmann
Lieber Herr Kehrmann, es juckt mich in den Fingern, Ihnen zu entgegenen. Doch bitte gedulden Sie sich dreivier Tage. Ich habe einen ganze >>>> Reihe begonnen und dann auch unterbrechen müssen, um mir für ein Buch die Zeit freizuschaufeln, das ich jetzt Anfang des Monats ins Lektorat geben muß. Näher erklärt habe ich das erst >>>> dort, dann >>>> da; so muß ich hier nichts wiederholen.
Daß ich die Inszenierung und Bieitos Arbeit insgesamt anders einschätze als Sie, geht aus unseren beiden Einlassungen deutlich hervor, so daß sich die Leser Der Dschungel aufgerufen fühlen können, sich ein eigenes Bild zu machen. Nichtsdestoweniger gibt es von Ihnen Argumente, die prinzipiell eine Antwort erheischen. Bitte lassen Sie mir dazu ein paar Tage Zeit, bis ich die Luft wieder habe. Noch muß ich eine ganze Erste Fassung aus dem Rohskript erstellen; das schrieb ich >>>> heute auch schon. Danach führe ich die Prägungsreihe ab der Nr. 8 (sie ist insgesamt ein Countdown) und will dann auch auf Ihre Gegen-Rezension angemessen reagieren.
Nur eines aber vorweg: „Und Sie haben Mitleid mit so einem Ännchen? Pfui Teufel“ schreiben Sie. Ja, habe ich. Das liegt daran, daß Mitleid eben kein Tauschgeschäft und also weder Lohn noch Bestrafung ist, sondern die Kreatur sieht, auch die, die fehlging (d a ß Ännchen fehlging, ja in dieser Inszenierung insgesamt aus – inszenierten – Fehlleistungen besteht, schrieb ich oben bereits). Gerade in den chistlichen Mitleidsbegriff gehört auch das Mitleid mit sogar dem Verbrecher; genau das ist eine der wesentlichen Neuerungen des Chistentums gegenüber dem alten Gott der Thora. Hierauf beruht letztlich unser gesamtes Rechtssystem bis hin zur Ablehnung der Todesstrafe.
Das mußte ich jetzt loswerden, Pardon, bevor ich mich wieder dem Jungenroman und auch ein wenig meinem Cello zuwende, das ich wieder vorgenommen habe, um in der Arbeit nicht zu angespannt zu sein.
Ihr
ANH
Lieber Herr Herbst,
lassen Sie sich nur Zeit.
Die Frage, ob jemand, der sich aus individueller Schwäche in einer Gruppe versteckt und aus dieser Gruppe heraus dann auf andere eindrischt und sie totschlägt, in der Hoffnung seine Schwäche totzuschlagen, unser Mitleid verdient, hatten wir schon mal in unserer Diskussion.
Ich denke, unsere Positionen sind da klar und nicht vermittelbar. Ihre Herleitung aus der Religionsgeschichte ist mir zu theoretisch. Ich hätte Adolf Eichmann ohne Mitleid abgeknallt, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, dadurch die Judendeportation zu verhindern. Und er verdient auch nach 1945 nicht unser Mitleid. Ich verwende Eichmann hier als Platzhalter für alle Typen dieser Art. Hängen Sie sich also nicht an dem Namen auf.
Hier aber geht es aber um Ännchen und die Frage: Darf sie eine Bande bilden (es ist eine Bande, auch wenn sie Brautjungfern heißen) und Agathe terrorisieren, nur weil sie eifersüchtig ist? Natürlich habe ich nichts dagegen, wenn man Mobbing im Theater darstellt. Aber wenn die Leute dann rausgehen und sagen: Ach, die arme Person, die da gemobbt hat. Und insgeheim dann denken: ach, ich bin ja auch eine arme Person, ich hab ja so eine Wut auf die Gesellschaft, die mir meinen Spaß verdirbt und von mir verlangt, dass ich pünktlich zur Arbeit komme und überhaupt: die Gesellschaft ist schuld, dass ich keine Arbeit habe und die Banker verzocken ja sowieso mein Geld und ich muss dafür zahlen, obwohl ich keine Steuern zahle und Hartz IV kriege. Ich bin ja so wütend, also darf ich meinen Frust auch ablassen und, sagen wir Dominik Brunner in der Münchner S-Bahn tottreten. Würde Sie das wirklich wollen? Finden Sie nicht, dass auch das Prinzip Mitleid da abwägen muss?
Herzliche Grüße
Ihr Boris Kehrmann
Ich hoffe, ich hab Sie jetzt nicht aus Ihrer Arbeit rausgerissen.
@Boris Kehrmann. Nein, haben Sie nicht. Es geht bei der Arbeit jetzt nicht mehr um Erfindung, sondern um Klärung, sauberen Aufbau der Strukturen usw. Da hinein finde ich immer schnell.
Ihr Einlassung ist wichtig, sie betrifft Grundfragen der Ethik und bestimmt sie auch.
Wenn ich durch eine gezielte Tötung eines Einzelnen viele Menschen rette, ist sie gerechtfertigt, das denke auch ich und würde handeln wie Sie. Das gehört aber unter die Rubrik Notwehr. Ein anderes ist nachherige Verurteilung. Wir wissen mit zunehmender Sicherheit, daß es mit der Idee der Freiheit und also freien Entscheidungen nicht sehr weit her ist; sie ist ein regulatives Prinzip wie etwa Gott bei Kant. Als solche notwendig, sagt sie aber nichts über tatsächliche Freiheit aus, nicht einmal über die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Aus gutem Grund werden deshalb Betroffene von der Aufklärung eines Falles abgezogen, und rechtsstaatlichereise dürfen sie auch das Urteil nicht mitfällen. Das ist ein Gebot der Vernunft.
Man kann die Genese von Verbrechern unterdessen ziemlich genau nachvollziehen. Sie haben sich das n i e ausgesucht, einer zu werden. Daß eine Gesellschaft oder einzelne Menschen vor ihnen geschützt werden müssen, ist desunerachtet klar. Dennoch macht sich jeder, der straft, auch schuldig. Dieses Bewußsein gehört zu den zivilisiertesten, die wir überhaupt haben, und ich kann es in keiner Weise als theoretisch empfinden. Der Verbrecher ist immer a u c h Opfer. Daß man sich in einer spontanen Aktion an ihm rächt, steht dabei ebenfalls im Buch der Verständlichkeiten, nicht aber mehr, wenn Distanz hergestellt worden ist.
Auf das, was Sie jetzt im Einzelfall zu der Szene bei Bieito sagen, also die für mich nach wie vor unerträglich kitschige Jungfernkranzsingerei – unerträglich wegen der dahinterstehenden Anthropologie einer brutal-antisexuellen Gewalt, die solch ein Kitsch nämlich immer ist, hier besonders gegen Frauen – also darauf antworte ich dann, sowie ich die Zeit gefunden haben werde.
Ja, das haben Sie wunderbar ausdifferenziert. In der Volksbühne wird jetzt gerade ein Stück über den Hitler-Attentäter Georg Elser vorgestellt, wo es um das gleiche Problem geht.
Jetzt bin ich gespannt, was Sie zum Thema Jungfernkranz schreiben. Mir ist das Stück auch ein bißchen peinlich. Aber „brutal-antisexuelle Gewalt“? Es geht doch gerade um das Ende sexueller Enthaltsamkeit, die hier gefeiert wird. Ein Mädchen wird von ihren Leidensgenossinnen in die Ehe entlassen.
Sie meinen wahrscheinlich das historische Denkschema der geforderten vorehelichen Virginität. Ironischerweise nehme ich da nun Ihre Haltung ein, die „Verbrecher an den Frauen“ erst einmal verstehen zu wollen, ehe ich sie verurteile. Ich verstehe die kulturellen oder sozialgeschichtlichen Hintergründe des Virginitätsdogmas nicht so richtig. Wahrscheinlich steht dahinter wirklich so eine Art männlichen Besitzdenkens, nach dem Motto: Meine Frau gehört nur mir. Aber das war ja nicht die einzige Haltung: Einerseits gab es diese unglaubliche Libertinage Ende des 18. Jahrhunderts, von der sich das Bürgertum – z.B. in Lessings Emilia Galotti oder Schillers Kabale und Liebe – als eines Symptoms adeliger Unmoral absetzte, um sich so eine Art Identitätsstiftenden, exkludierenden Klassenstolzes zu erschaffen. Andererseits gab es bei z.B. königlichen und Adels-Hochzeiten diese für unsere Begriffe unglaublich rohen und vulgären Virginitätsprüfungen mit dem Blutfleck auf dem Laken und Schlimmerem. Ich stecke hie nicht so in der Erkenntnis des Prozesses der Zivilisation drin, um da den Durchblick zu haben. Für mich ist diese ganze Jungfernkranzsingerei einfach ein bürgerliches Ritual, durch das sich die noch junge und vom Adel gefährdete Klasse des Bürgertums ihrer selbst versichert. Es hat auch im Freischütz für mich etwas Anrührendes, denn emanzipiert sind die Bürger im Freischütz ja noch lange nicht. Noch entscheidet Fürst Ottokar über das Wohl und Wehe der Menschen, z.B. ob und wann Max Agathe heiraten darf. Noch spielt Ottokar die Rolle des lieben Gottes, der ein böser Gott ist, wie uns der Freischütz vorführt. Ich finde, die Repression kommt im Freischütz nicht vom Bürgertum, sondern vom Fürsten Ottokar dessen williger Helfer Webers Rocco, der Erbförster Kuno ist. Und das am Anfang mal Gute, der Probeschuss, der bei seiner Erscheinung dazu diente, den armen Wilderer aus seiner Folter, an den Hirschen gebunden zu sein, zu befreien, ist zum Bösen pervertiert. Wie alles Gute im Freischütz sich in Böses verwandelt zu haben scheint. – Seltsamerweise führt auch mein Nachdenken über den Jungfernkranz, über dessen Banalisierung und Sentimentalisierung sich ja schon Heine ein Jahr später zu Recht lustig gemacht hat, führt mich verblüffenderweise wieder auf den utopischen Überschuss über die Realität, das offenbar das alles durchdringende, verborgene Strukturprinzip des Freischütz zu sein scheint: Es geht hier um das Prinzip einer solidarischen Klasse, die sich versöhnt, statt auf einander einzudreschen und sich auszubeuten (wie in der Französischen Revolution). Man darf nicht vergessen, dass es bei Weber der Zufall war, der Ännchen nach der Kiste mit der Totenkrone greifen ließ: Zufall – das ist der liebe Gott, der die Welt so schlecht eingerichtet hat, dass die Menschen ihm ein Schnippchen schlagen müssen und sie besser machen müssen.
Ich kann nur immer wieder auf Georg Büchner verweisen, der diesem negativen Deus den Kampf angesagt hat: „Ist denn der Äther mit seinen Goldaugen eine Schüssel mit Goldkarpfen, die am Tisch der seligen Götter steht und die seligen Götter lachen ewig und die Fische sterben ewig und die Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes.“ (Dantons Tod, IV, 5) Oder auf Goethes so oft verlästerte Iphigenie: „Oh rettet, ihr Götter, euer Bild in meiner Brust.“ Ich glaube wirklich, dass der Freischütz einen unerhörten Kraftakt unternimmt, diese Welt zu humanisieren.
Herzlichst
Ihr Boris Kehrmann
Nunmehr, Herr Kehrmann, meine Antwort:
Lieber Herr Kehrmann,
Bevor ich aber die >>>> Prägungen auch textlich komplettiere – ich war an der Nummer 8 aus nicht Überlastungsgründen gescheitert, sondern weil sonst mein Roman nicht rechtzeitig fertig geworden wäre -, möchte ich Ihre ausführliche Replik auf meinen Text zu Bieitos Freischütz-Inszenierung beantworten.
Sie nahmen sich viel Zeit, ich werde es genauso halten.
Über Bild, Licht und vor allem das Dirigat sind wir beide einig; Patrick Lange ist ein wirklicher Gewinn für das Haus. auch und gerade dann, wenn ich seine Haltung zum Ländler Akt I anders interpretiere als Sie, nämlich f ü r die Inszenierung. Es hätte sie nicht nur gestört, hätte die Musik den Pegel hinaufgesetzt, sondern das Klangereignis selbst, das ich für mitinszeniert halte, hätte gelitten. Gerade die johlende Szene ergibt zum Mezzoforte diesen enormen Reiz. Ich kann das ganz gut beurteilen, weil ich, wenn ich über Oper schreibe, nahezu prinzipiell mitschneide, um vor Verfassen meiner Kritik das Stück noch mindestens zweimal zu hören. In diesem Fall gibt es Berio-Sensationen, die dem Freischütz für mein Stilempfinden eine Modernität verleihen, die er auch bei Carlos Kleider nicht hat, meinem dirigentischen, mag ich sagen, Hausgott (neben vor allem Barbirolli und Tennstedt und ein bißchen auch Nagano, etwa bei dessen Faust von Busoni).
So etwas nimmt mich sofort ein.
Aber zu Bieito.
„Dass Bieito handwerklich kein Genie ist, ist bekannt“, schreiben Sie. Das finde ich eine suggestive Äußerung, die den Beweis vorenthält. Mir jedenfalls war das nicht bekannt. Wer soll es denn – so normativ – bekannt gemacht haben? Das finde ich eine deshalb interessante Frage, weil sich aus der Antwort möglicherweise Richtungen ablesen lassen. Daß Bieito mit provokanten Setzungen arbeitet, darüber würde ich freilich nicht streiten wollen. Ich halte das in der Tat für eine Stärke – vorausgesetzt, er tut das nicht bei Uraufführungen, bzw. unbekannten Stücken. Dem Repertoire allerdings wird damit Leben zugeführt, um so mehr, als die Sockel zerbröckeln, die eh nur aus Gips. Wenn einer dann einen neuen herstellt, i s t er immerhin neu.
Daß Bieito die Dialoge nicht strich, wie Sie schreiben, sondern quasi neue schrieb, zeigt bereits, worauf es ihm ankam: die Übertragung eines, wenn überhaupt psychologisch, dann sehr planen Seelentextes auf die unmittelbare Gegenwart. Übrigens sind, wie Sie wissen, Streichungen völlig normal; das betrifft auch „heilige“ Stücke wie besonders den Fidelio mit seinen redseligen Quartetten. Ein großer Streicher war Klemperer, zum Beispiel bei Mahler und Bruckner, in dessen Achter etwa – und da geht es nicht mal um Text.
Ich finde, Bieito hat recht. Dann v. Weberns Figuren sind ja nicht wirklich, anders als bei dem vor allem im Späteren so großen Verdi, Charactere, die da auf der Bühne stehen, sondern vielmehr Typen, und zwar von holzschnittartigster Einfachheit; man stellt sich vor, wie so die Magd ist, man stellt sich vor, wie so der Jäger ist, man stellt sich vor, wie so der „reine Tor“ ist. Wirkliche, also innere, Konflikte gibt es nicht, also eigentlich auch keine Entwicklung. Die Erlösung, die der Eremit einleitet, ist eine dea ex machina von fast so uhrwerkhafter Art, wie es der erlösende Sonnenkönig bei Molière ist, nur daß es keinen Witz gibt bei der weberschen Sache. Diesen aufgepropften Happy-endler hat Bieito sehr folgerichtig von der Bühne gescheucht – wobei ich, das gebe ich zu, doch froh war, daß er ihn nicht er-, sondern bloß die Meute in die Luft schießen ließ. Zuzutrauen wäre ihm auch die Exekution gewesen.
Wenn Sie jetzt aber schreiben, das Publikum werde gebeten, das Hirn an der Garderobe abzugeben und sich ganz dem Schock zu überlassen, dann frage ich mich, wo der denn gewesen ist, dieser Schock, in dieser Inszenierung? Schockierend konnte ich überhaupt nichts an ihr finden. Das konnte auch mein Hirn nicht, das, ich versichere Sie, an der Garderobe gar nicht bleiben mochte, sondern flugs ebenso zu mir zurückgehupft kam wie zu meinem besten Freund, der mich begleitete und auch nicht für Hirnlosigkeit bekannt ist, sondern fürs Gegenteil eher berüchtigt. Einem Schock hätte man allenfalls in den Sechziger Jahren erwarten können, aber doch nicht mehr nach den Regietheater-Erfahrungen der letzten drei Dekaden, schon gar nicht, wenn man etwa an Hermann Nitsch denkt. Im Vergleich dazu war die Aufführung geradezu auf jede bei diesem Ansatz nur mögliche Correctness bedacht. Ich finde das nach „Stand des Materials“ (Adorno), nämlich unseren Kunsterfahrungen, durchaus albern – ähnlich wie die bizarre Jugendschutzbemerkung des Hauses selbst. Da ist schon wieder ganz viel neues Biedermeier drin, das meine Fingerkuppen erst, versehentlich, um das ‚der‘ expropriierten, so nämlich, daß ein „Biermeier“ blieb. Auf das tatsächlich noch viel, viel mehr Bieito gehört. Denn d a s ist reaktionär, nicht er.
Wobei ich gerade die von Ihnen formulierte politische Zuschreibung, wendet man sie auf eine historische Dynamik der Bewertungen an, psychodynamisch höchst interessant finde. Reaktionär sei, daß jemand die Welt für schlecht erkäre. Das, nichts anderes, legt Ihre ausgeführte Anspielung auf den Herrn Friedemann nahe. Und Bieito habe die gute Welt, so muß ich nun folgern, mutwillig wie zwanghaft zu einer schlechten gemacht, weil er, ich zitiere Sie, „seinem Hündchen alle paar Monate den Bauch aufschlitzt und wieder zunähen lässt, damit er sich sein Schopenhauersches Credo bestätigen kann, dass die Welt aus Leid und Grausamkeit besteht“.
Nun teile ich dieses Credo, wenn auch nur bedingt, weil ich die vitalistische Neigung habe, vor das ‚aus‘ ein auch zu stellen, und je nach persönlicher Lebenssituation hat es einen sehr starken oder auch schwachen Akzent. Später werfen Sie Bieito in Ihrer Replik vor, er habe das Utopische des Freischützen durchgestrichen und nur ein Viehisches daraus gemacht.
In der Tat vermittelt die Inszenierung nicht viel Hoffnung, sie ist durchaus nicht optimistisch. Leider hat das die Realität auf seiner Seite. Woran v. Weber keine Schuld trifft, er hat Auschwitz nicht mehr kennen müssen. Aber wir, und alle unsere Kunsterfahrungen werden darüber vermittelt sein – bis es vergessen ist wie die napoleonischen Kriege. Dann haben wir aber die ethnischen Säuberungen im Sudan, die Folterzellen der USA, überhaupt deren völkerrechtswidrige Kriege mitsamt ihren schweren Völkerrechtsverbrechen, die für dieses, von uns geradezu angebetete Land vollkommen folgenlos waren und weiterhin sind, – aber wir müssen nicht einmal aus Europa weg, um zu wissen, wie nah uns die – die Tiere mögen‘s mir verzeihen – Bestialität auf der Haut sitzt. Der Balkan hat das gezeigt. So daß ich nicht anstehe zu behaupten: auch in uns selbst, den Heutigen aus Jetzt und Hier.
Aber schon Adorno ist der gelungene Moment in der Kunst immer falsch, weil immer ein Kitsch. Davon zehrt auch, und besonders, der Freischütz. Genau das hat Bieito ihm ausgetrieben. Die Utopie, die Hoffnung, bleibt im Ungesagten, aber bleibt da, ja da erst ersteht sie: in der inneren Auseinandersetzung mit dem, was wir an einem solchen Abend sahen und hörten. Dazwischen. Aber nie auf der Bühne selbst. Will sagen: es ist eine i n d i r e k t e Verlautbarung der Hoffnung, die eben nicht vorgibt, daß die Erlösung schon sei. Dieses nämlich als bereits Erreichtes zu tun, d a s ist reaktionär – weshalb 7/8 Hollywood und 6/7 Babelsberg genau davon leben. Nicht aber Bieito. Sie können, Herr Kehrmann, gewiß sein, daß sich fast die vollen 100 % unserer Berliner Reaktionäre, die bekanntlich auch Genossen sein können (wer gab das jetzt bekannt?), sich in einem traditionellen Freischütz hätten bedeutend wohler gefühlt, wobei sie sich jetzt sehr wahrscheinlich nicht einmal wohlgefühlt haben, ohne den Komparativ. Den ich ja semantisch irgendwie rechtfertigen muß.
Aber dieses entgegne ich vor allem Ihrem mir vollkommen verständlichen „dass auch wir Insassen unserer Gegenwart ab und zu Märchen brauchen, um nicht zu verzweifeln“. Auch ich liebe Happy ends, und wenn ihr Scheincharcter noch so auf der Hand liegt. Auch ich bin verführbar. Aber ich bin in erster Linie Künstler selbst, was bedeutet, daß mir in meiner eigenen Arbeit ein Happyend nur dann unterläuft, wenn ich es formal rechtfertigen kann, und selbst da ist es immer nur bedingt, immer nur Stufe; denn wäre es das nicht, würde es verdinglicht und damit zur Ware. Also handelbar, ein Wort, das ‚käuflich‘ bedeutet. Das heißt aber nicht, daß Utopien nicht dennoch wären: nur müssen wie sie schützen, insbesondere vor ihrer Inszenierung. Im Sterben Mimis ist mehr Utopie der erfüllten Liebe als in der erfüllten Liebe schließlich Cosìs; im selben Sinn hält Isoldes Liebestod die erfüllte Liebe rein von ihrer Profanierung durch die Gewalt allein des täglichen Haushalts; Isolde stirbt, damit Liebe überhaupt möglich bleibt und nicht in Eheverträgen erstickt.Worin besteht die Utopie des Freischütz? Darin, dass Agathe, der Eremit und im Finale auch der Chor in der Hölle an der Menschlichkeit festhalten.Es ist derselbe Chor, der aber die Verviehung einleitet. Das ist tatsächlich nicht Kaspar und schon gar nicht der Teufel. Und die historische Ableitung, die Sie vornehmen, ist zwar mehr als nur einleuchtend, aber wir hören nicht mit diesen Befreiungskriegen, sondern unsere Referenzpunkte sind andere, kurz, wir hören nicht historisch; denselben Einwand habe ich gegenüber der, wenn ideologisch vertreten, historischen Aufführungspraxis; vielmehr ist da das Historische für uns, als Klang, exotisch, nicht historisch, und eben daher bezieht sich der enorme Reiz. Wobei Sie ja ein Gleiches tun, indem Bonaparte zum Hitler des 19. Jahrhunderts wird. Das war er schlichtweg deshalb nicht, weil die Tötung bei ihm nicht nach industriellem Kalkül erfolgte, nämlich dem, was am sogenannten Dritten Reich (welch eine Anmaßung der Namensgebung! welch Lästerung eines erwarteten Messias‘! welch eine zur Bestialisierung benutzte Profanierung der Eschatologie! – Bloch bereits hat auf den Zusammengang verwiesen) tatsächlich der Kulturbruch war, auf den dann wiederum die USA ihre militärischen und auch zivile Forschungen stützte – , und was den Code Napoléon angeht, müssen wir ungetrost davon ausgehen, daß nahezu alle späteren wirklichen Errungenschaften auf einer Barbarei beruhen (Benjamin: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, Sie werden das mit Gewißheit kennen). Das gilt eben für das Bürgerliche Gesetzbuch ganz genau so, dessen Grundlage der Code ist.
Aber in Ihrer Argumentation weiterbetrachtet:Und trotzdem singt Agathe: „Und ob die Wolke sie verhülle, / Die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ Und sie fährt fort: „Es waltet dort ein heilger Wille, / Nicht blindem Zufall dient die Welt.“ Wie interessant, sage ich, wo Sie „Wow! Wow! Wow!“ ausrufen. So waren denn die Gemeuchelten der von Ihnen angeführten Kriege ebenso gewollt, ja vorherbestimmt wie das Auschwitz, danach die zu Bob-Dylan-Songs mit Handgranaten gestopften Frauen von My Lai und wie dann, ganz nah schon bei uns, die 500.000 verhungernden Kinders des Iraks, die wir, so Madelein Albright, als Westen müßten als Opfer bringen? Schon bei eigenen Kindern des Westens wäre der Satz infam gewesen. So etwas k a n n nicht v. Webers, bzw. seines Librettisten Kinds wirkliche Meinung gewesen sein. Anderenfalls wäre das eine extreme Ketzerei, mal vom Vatikan aus betrachtet.
Insofern aber ist Agathe eben d o c h naiv – ein Weibchen, dessen Waffenscheu genau in das Bild paßt, das uns der Biedermeier von den Weibchen vermittelt. Man will ja auch die männlichen Domänen ungern von einer >>>> Gesellschaft der Freundinnen der Wahrheit bedroht, geschweige denn durchsetzt sehen – „unterminiert“, wie ein Militär sagen würde. Aber auch sie, die Weibchen, essen Fleisch. Ich empfehle, in Kenia hinauszufahren und zuzuschauen, wie die Löwin eine geschlagene Antilope zwischen zwei Baumstümpfe, von denen starke Äste ragen, an eben diesen aufspannt, damit die Löwenkätzchen besser ans Innere kommen.
Nein, Herr Kehrmann, die durch den Freischütz vermittelte Geschlechteranthropologie kann ich nicht der Utopie zuschlagen. Aber selbstverständlich läßt er sich so auslegen, und mit allem gleichen Recht, das Bieito hatte. Die Aussage, je, gerät mit unseren Ansichten und Mentalitäten in Konflikt. Das aber ist einer der notwendigen Prozesse, die Kunst auslöst.
Ebenso interpretieren Sie, etwa, daß die Hoffnung auf eine Verbesserung der Welt für Bieito bloß zynische Heuchelei sei. Nein! Sondern in diesem Stück wäre sie es, ließe man sie zu. Denn der Pakt ist geschehen – Bieito macht das eindringlich daran klar, daß der Pakt schon der Mord ist: das ist nicht mehr nur Absichtserklärung – wobei eine solche im vorschreitenden Kapitalismus unbedingt bindet. Da gibt es kein Zurück, wie uns ein Jahrhundert später Klaus Mann an Mefisto ziemlich deutlich macht, sondern das Zurück wäre des lügenden Goethes am Ende von Faust II, desselben, der für den großen Kleist ein wirkliches Verhängnis war und, nebenbei bemerkt, auch für Schubert, weil er statt dessen, man faßt es einfach nicht, Zelter vorzog, – Zelter! Und des weiteren, was Sie Bieito zuschreiben und weshalb er ein „Büttel dieses Systems der Inhumanität“ sei, indem er sage: „Ihr könnt euch spreizen wir ihr wollt: Ihr kommt doch nicht aus eurem Kerker, eurer Hölle raus.“ Aber Pardon! Das ist doch viel weniger Bieito als Jean-Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft etwa, darin auch ein Teufel indirekt vorkommt, und auch Camus. Über die sagen Sie nun a u c h: „Das ist reaktionär“? Und auch die hätten „die Haltung Eichmanns‘, Rudolf Höss’, Oswald Kaduks und Konsorten“? Ah ja? Vielleicht auch Gauthama Buddhas, der ebenso den Zustand der Welt für einen unerstrebenswerten hielt?
Herr Kehrmann, ich finde, daß Sie übertreiben.
Auch ich bin übrigens Optimist, und ein entschiedener, leidenschaftlich. Aber ich ziehe eine enorme Kraft aus den künstlerischen Leistungen der kämpferischen Pessimisten – solcher, wie Bieito einer ist, möglicherweise. Reaktionär aber ist er nicht und schon gar nicht mit Eichmann vergleichbar, eine Nahelegung, die ich, mit Verlaub, ziemlich ungeheuerlich finde. Sie dürfte sogar, und mit recht, justiziabel sein. Das, schon aus Menschlichkeit, möchte ich Sie doch bitten, wieder aus dem Wasser zu rudern.
Ja, ich beziehe Kraft, viel Kraft, von den Pessimisten; nicht allerdings von den Depressiven, die meiner Seele gefährlich sind, weil sie sie verdunkeln, die so viel Licht braucht.
Was Sie nun aber als „unsere Aufgabe“ formulieren:Wie kriegen wir das auf die Reihe, dass das Volk erst diesen hämischsten aller Opernchöre, singt, den Lachchor am Beginn der Oper, und dann gleich darauf in Rührung zu zerfließen,je nun, da ist leider zu konstatieren, daß eben das das Lenkbarste von allem ist und offen jedem, wirklich jedem Faschismus, wie ebenfalls offen jeder, wirklich jeder guten Begeisterung. Die Leute sind als Masse schlicht, egal, ob in der Demonstration, beim Fußballspiel oder im Club. Das ist es, was Bieito zeigt: daß die Rührseligkeit, eben weil sie Massenrührung ist, mit schließlicher Menschlichkeit gar nichts zu tun hat. Es schmiegt sich immer in die opportuneste Form.
Was schließlich das Stück selbst und die Meinung über es anbelangt, so ist es schlichtweg naiv, ein Eigentliches Wahres gegen das zu supponieren, was wirkungsgeschichtlich geworden ist. Es könnte mich aber sehr fesseln, wenn jemand Ihre Sicht des Freischützen schlüssig und gegen seine Wirkgeschichte inszenieren würde. Nur wäre das ein anderer Ansatz als Bieitos, nicht angemessener, aber auch nicht weniger unangemessen. Die Frage, die ich mir bei dem Erlebnis von Inszenierungen stelle, lautet immer: was ist sie immanent, funktioniert sie und, vielleicht, springt etwas davon auf mich herüber, was wir im Philosophikum Frankfurtmain, meist Raum 309, gern als Evidenz bezeichnet haben. Dazu mache ich mich von meinen inneren Vorgaben möglichst frei. Denn ich werde ungerecht, wenn ich erwarte – wobei man auch dann überrascht und die Erwartung verdrängt werden kann. Indes, mir einen Rosenkavalier vorzusetzen, zum Beispiel, ist heikel. Andererseits wird für mich eine Aufführung dann wirklich groß, wenn ich an irgend welche Vorgaben gar nicht mehr denke. Dieses ist mir bei diesem Bieito-Freischütz geschehen.
Eine Volksoper allerdings ist der Freischütz wenigstens nicht mehr, seit Oper selbst mit dem „einfachen Volk“ aber auch gar nichts zu tun hat, weil dieses sich allein noch am fast durchweg US-amerikanisch-sprachigen Pop orientiert und in den „unteren“ Schichten an seinem deutschen Äquivalent, das nach wie vor der Schlager ist. Es ist sehr belehrend, mal durch die Eckkneipen zu ziehen und auch Haufrauennachmittage mit Kuchen und Schwof zu besuchen, wobei die Haus„herr“en an ihren Stammtischen durchaus schlimmer noch sind. Als solch ein Schlager würde jedenfalls manche Nummer der Freischützen, und mit Recht, nach wie vor genommen, strahlte Radio FFH sie aus oder sänge das Ännchen eine neue Wencke Myhre bei einem nächsten Dieter Thomas Heck
Nun erinnert die Unterscheidung freilich, die Sie für Meinung gegen das Stück-selbst formulieren, fatal an die Unterscheidungsnot zwischen Kirche und Christentum; beides ist aber nicht voneinander zu trennen, nicht mehr nach derart viel geschehener Geschichte. Wenn ich also die Unterscheidung akzentuieren will, muß das verfremdend eininszeniert werden, in theologischen Diskussionen wie auf den Bühnen. Nur hat Bieito nicht dies, sondern etwas ganz anderes ins Auge genommen, worüber ich allerdings, nach den schon >>>> als Stück unsäglichen Karmeliterinnen, heil(!)froh bin. Wobei der Teufel ja schon im „reinen Toren“ Max steckt, dessen Tal-und-Auen-Arie das schöne Tier gleich als ein zu Schießendes vorstellt. Das ist ja kein Töten, weil man essen will. Sondern die Tötungslust ist lange schon angelegt, der Text wirklich unerträglich. Auch kann ich Agathes von Ihnen als hoch gerühmten Ton hoch nicht empfinden, sondern Zeilen wie die über den „dort“ waltenden heilgen Willen ist schlichtweg christlicher Erbauungskitsch. Ich habe das oben schon angedeutet. Und es geht auch nicht um Virginität – deren Erfordernis auch ich historisch lese, was die dahinterstehende Moral nun aber nicht viel besser macht -, sondern darum, daß Agathe keineswegs, wenn sie in die Ehe geht, in eine freie Sexualität geführt wird; die nämlich wird so gebunden bleiben, wie sie schon vorher war: rein auf die Frucht konzentriert, die dann mit Schmerz zu empfangen. Gehörte sie, Agathe, auch nur irgendwie auf die Seite der Freiheit, wäre es ihr wurscht, ob der Geliebte d a gut schießt; er schösse besser anders und anderswohin, um das im Kalauer zu sagen. Eine Utopie davon hat Bieito in dem Traum inszeniert. Und nur die Vorstufe steht ja in Rede, das Probeschießen, nicht aber das Schießen selbst. Doch auch in Sachen Probeschuß bleibt Agathe letztlich der permanent gewaltbereiten Gesellschaft verbunden, ja als Max um ihretwillen zur gefährlichen Wolfsschlucht aufbricht, versagt sie ihm sogar den Beistand, so daß er ihn sich bei Bieito, nämlich in Form eines Kusses, von dem Ännchen holt. Kurz, sie läßt ihn allein, anstelle gegen den furchtbaren Vater aufzubegehren. Sie ist, in ihrer „Reinheit“ – eines der schlimmsten Wörter, die wir kennen, so schrieb ich das in >>>> Meere schon -, das Alibi der Gewaltgesellschaft.
Ja, es stimmt, anderes hätte auch nicht in der Zeit gelegen. Aber in unserer liegt es. Und mit der unseren lesen wir eine solche Partitur. Wenn wir sie dann retten wollen, weil eben etwas, und einiges sogar, in ihr ist, das die Rettung mehr als verlohnt, dann ändern wir – zum Beispiel, wie Bieito tat.
Lieber Herr Kehrmann, das wäre nicht alles, aber es ist schon sehr viel. Ich möchte unsere Leser nicht überfordern, sondern das Gespräch weiterführen, wenn vielleicht wieder Sie reagiert haben werden. Möglicherweise kommen noch weitere Stimmen hinzu.
Unter einem ersten, noch nicht durchgezogenen Strich aber sei noch erwähnt, was bezüglich meiner Kritik und Ihrer Erwiderung mir vor dreivier Tagen >>>> Phyllis Kiehl am Telefon sagte: „Das ist eben das Spannende daran, daß es keine eindeutige Wahrheit gibt. Weil es eben um Kunst geht.“
Seien Sie sehr herzlich gegrüßt
von Ihrem
ANH
Bitte Adornos „Bildwelt des Freischütz“ und „Huldigung an Zerlina“ lesen Lieber Herr Herbst,
vielen Dank für Ihren langen Text.
Ich habe natürlich genau so lang geantwortet, aber ich glaube, ich behalte meine Antworten lieber für mich.
Unsere Standpunkte sind, glaube ich, klar (auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle finde, dass sie den Sinn meiner Worte mehr oder weniger schalkhaft verdrehen; aber das kann ja jeder selbst in meinem Beitrag nachprüfen, wenn es ihn interessiert).
Bei mir stellte sich durch Bieitos Inszenierung keine kathartische Wirkung im von Ihnen beschriebenen Sinne ein: als Aufscheinen des Utopischen ex negativo im Betrachter.
Aber ich denke wie Sie, dass jetzt andere Diskutand(inn)en und Positionen zu Wort kommen sollten.
Herzliche Grüße
Ihr Boris Kehrmann
P.S.: Wenn ich eine Kopie ihrer Band-Aufnahme bekommen könnte, würde ich mich riesig darüber freuen. Adresse finden Sie im www.
P.P.S: Da Sie sich auf Adorno berufen: Bitte lesen in den Moments musicaux seinen Aufsatz zum Freischütz. Er war nicht Ihrer Meinung. Und dort bitte auch noch gleich die „Huldigung an Zerlina“ genießen. Dort finden Sie auf 2 Seiten die Begründung, warum und wie Naivität, Utopie und Freiheit im Reich des Schönen zusammen hängen.
P.P.P.S: Sie schreiben, dass Sie eine Inszenierung, die die historischen Prämissen in meinem Sinne aufscheinen lässt und aktualisiert, interessieren würde. Barbara Beyer berichtet in ihrem Interview-Buch „Warum Oper“ von einer Aachener Inszenierung von Paul Esterhazy, die – angeblich – ausschließlich mit Kerzen beleuchtet wurde (und in Biedermeier-Interieurs spielte). Ich kenne sie nicht. Meine Phantasie malt sich aber die riesigen und diffusen Schatten, die die Menschen in diesen halbdunklen Räumen werfen aus. Dazu das flackernde Licht. Da stellt sich das Spukhafte von selbst ein und weckt Assoziationen, bringt die Phantasie der Zuschauer zum Rotieren. Ein solches Verkehren des Fokus von gesellschaftlichen Bedingungen ins Innere ist natürlich, der marxistischen Kritik an der Psychoanalyse entsprechend, nicht gesellschaftskritisch. Ich stelle es mir trotzdem ziemlich aufregend vor.
Schauen Sie sich unbedingt Alvis Hermanns‘ „Eugen Onegin“ an der Schaubühne an, falls Sie ihn nicht schon gesehen haben. Das ist eine unglaubliche Erfahrung, wie er die Figuren immer weiter weg von uns in historische Ferne rückt. Sie ziehen sich immer neue Schichten von Kostümen an und am Ende sind es nur noch Puppen, bei denen man sich wundert, dass sie überhaupt noch irgendwelcher natürlichen Regungen fähig sind. Und dann kommt der Umschlag, wo man denkt: Könnte das nicht auch eine Metapher für unsere Situation sein, die wir so stark verdrängen, dass wir sie erst in der Verfremdung als das ganz „Andere“ erkennen.
Man hat mich für diese meine Meinung schon unhistorischen Denkens geziehen. Ich könne nicht zwischen einem Girlie von 1830 und einem von 2010 unterscheiden. Kunst arbeitet aber mit Metaphern und Concetti (in der manieristischen Theorie). Die von Ihnen zitierte Evidenzerfahrung der Kunst kommt daher. Kunst argumentiert nicht, sondern verblüfft durch unerwartete Brücken, die sie schlägt. Auch durch Verfremdung. Auch durch historische Verfremdung. Verfremdung heisst, uns Dinge fremd zu machen, um uns auf unbegangene Wege zu locken, die dem Zeitgeist, den Selbstverständlichkeiten unseres Denkens widersprechen. Warum spielt denn Mutter Courage im 30jährigen Krieg, obwohl sie den Zweiten Weltkrieg meint? Weil die Leute die Botschaft, hätte sie im Zweiten Weltkrieg gespielt, nie geschluckt hätten.
In den 60er Jahren war die Aktualisierung, kritische Befragung und Zerstückelung von Klassikern (Zadeks Maß für Maß z.B.) ein frischer Wind, der den Mief aus der Interpretations- und Darstellungsroutine blies. Heute ist die Dekonstruktion miefig, weil uns immer wieder dieselben Botschaften und Selbstverständlichkeiten unserer Zeit um die Ohren knallt. Ein 1000 mal erzählter Witz ödet aber an. Oder Gottfried Benn: „Der Erste, der Liebe auf Triebe reimte, war ein Genie; der Millionste war ein Trottel.“ Was wir heute brauchen, ist nicht ein Heranführen der Klassiker an unsere Weltwahrnehmung, sondern eine Entfremdung und Verfremdung. Wir müssen die Klassiker wieder nutzen, um das ganz Andere zu suchen, das Unverständliche, das, was wir nicht ohnehin schon wissen. Im Moment ist die historische Verfremdung im Theater skandalös und revolutionär, wie die Reaktionen auf Hermanis‘ Eugen Onegin oder Steins „Zerbrochenen Krug“ zeigen. Wir ärgern uns an ihnen, weil sie nicht in unser Weltbild passen. Aber gerade diese Differenz ist ihr Dynamo. Sie schickt uns auf eine Reise, deren Ziel wir noch nicht kennen. Ich kann nur immer wieder auf Hegels Definition des Wissens in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes verweisen. Es geht nicht um das Besitzen von Wahrheiten, sondern um das Suchen von Wahrheiten. Auch im Theater. Das ändert nichts an der Tatsache, dass es zu jeder Zeit sowohl in der dekonstruierenden Form des Theaters als auch in der historisch verfremdenden sensationelle Aufführungen gab und konventionelle Brause. Im Moment ist leider nur die Dekonstruktion Alltag. Es fehlt die Gegenkraft, die das System unter Spannung hält. Wir haben es uns bequem eingerichtet in der gedeuteten Welt.
@Boris Kehrmann. Könnten Sie mir über meine öffentliche Emailadresse fiktionaere AT gmx DOT de Ihre Emailadresse mitteilen. Näheres dann.
Grazie,
ANH