Bild im Saal: ANH/iPhone.]
Loy beginnt retrospektiv: aus dem Gefängnis heraus, in das die Küsterin verurteilt ist.
Loys Konzept funktioniert deshalb so ungemein zwingend, weil die Küsterin – seelisch, nämlich so gemäß den engen Moralen ihres Dorfes wie wir alle unseren eigenen Herkünften – auch vorher schon gefangen war. Genau das erkennt sie in ihrer nun anderen – eben konkreten – Gefangenschaft. Das ergreift einen so, weil der Küsterin ihre späte Einsicht, die bei Janáček unvermittelt geschieht und operndynamisch geschehen auch muß, denn für lange Erkenntnisstrecken ist dramaturgisch nicht Zeit, – eben diese Zeit vom Regisseur zugestanden bekommt. Freilich hätte solche Erkenntnis selbst in einem früheren Moment an der Moral gar nichts ändern können.
Eine nicht maßstabsetzende, weil aufbrausende, umstürzlerische und wie auch immer genialisch provozierende Inszenierung also, vielmehr eine, die schon mit dem ersten Bild zurecht Klassizität behauptet, weil sie zugleich das besonders für jeden Neuling wichtige Werktreue repräsentiert, wie dennoch nicht in die Ausstattungsfalle des Historisierens tappt, die hier Affirmation dörflicher Volkstümelei wäre. Zum Dritten öffnet das fehlende Provokante auch jedem, der nur hören will, die Tür. Aus diesen Gründen wird sich Loys Inszenierung noch Jahrzehnte auf dem Spielplan halten; das scheint mir schon heute gewiß zu sein.
Wen dürfen wir zu nennen vergessen? Gewiß nicht Hanna Schwarz, eine stimmliche Berühmtheit für sich, die aber gar keine Sorgen haben mußte, sie sänge, sänge sie ganz frei, irgendwen an die Wand. Also tat sie‘s, s a n g sie frei. Oder Michaela Kaune, in der Titelrolle, die mit gewaltiger Herrlichkeit die gesamte Spanne von der losgelassensten Lebenslust einer jungen losen Frau, die ihren Lebensspaß haben möchte, aber doch auch der großen Liebe glaubt,
Dazu noch Donald Runncles, des Dirigenten, heißblütige Interpretation, die dennoch nicht die Sänger überwölbt, sondern sie auf den Wogen h e b t, mit Ausnahme eben, doch selten, Jennifer Larmores. Es gelingt ihm atemnehmend stringent, den slawischen Melos in sein Orchester zu bekommen, wie zugleich den höchst eigenwillig italienischen Schmelz der berührendsten Puccini-Nähe herauszuformen – diese besonders spürbar an dem der Oper hinten draufgesetzten Epilog, dem Liebesduo Jenůfa/Laca nämlich, von dem ich meine, daß das Stück seiner vollkommenen Aufhebung in einer Inszenierung, also seiner Erlösung, weiterhin unerfüllt harrt. Doch wie wunderschön folgt das Orchester der Deutschen Oper seinem Dirigenten, der die Usancen eines Kapellmeisters im Frack erst gar nicht mitmacht, sondern zum Empfang der Ovationen in einem vielleicht der schottischen Freiheitsliebe eigenen Temperament mit offenem Hemdkragen auf die Bühne eilte, sportlich, doch nobel, in Hose und Jackett – nein, das ist keiner, der bereit ist, seine Kunst in Repräsentanzverpflichtung einzukleiden. Kaum etwas ist in der mißlichen Situation der Deutschen Oper so wichtig wie, neben der künstlerischen Leistung, eben dies: es stellt der Zukunft des Hauses die Weichen, also wofür es genutzt oder benutzt werden wird. In keinem Fall bleibt jenen, die erleben wollen, wie Weltniveau klingt, und zugleich nicht auf eine zeitgenössische Regie verzichten möchten, die mit ihm gleichzieht, etwas anderes übrig, als >>>> diese Jenůfa zu besuchen. Jedenfalls in Berlin.
Leoš Janáček
Jenůfa
[Její Pastorkyna]
Oper in drei Akten
Libretto von Leos Janacek nach dem Drama von Gabriela Preissová.
Inszenierung Christof Loy – Bühne Dirk Becker – Kostüme Judith Weihrauch – Licht Bernd Purkrabek – Choreographische Mitarbeit Thomas Wilhelm – Dramaturgie Christian Arseni – Chöre William Spaulding
Hanna Schwarz – Michaela Kaune – Will Hartmann – Jennifer Larmore – Joseph Kaiser – Simon Pauly – Stephen Bronk – Nadine Secunde – Martina Welschenbach – Fionnuala McCarthy – Jana Kurucová – Hila Fahima
Chor der Deutschen Oper Berlin. Orchester der Deutschen Oper Berlin
Donald Runnicles
Die nächsten Vorstellungen:
04., 08., 10., 16. März 2012
20., 24. April 2012
>>>> Karten.
Hui… wie erfrischend war das jetzt zu lesen. Sie haben eine ganz eigene Sprache für die Opernkritiken gefunden. Es ist alles sicht- und hörbar, wovon sie sprechen, das ist wunderschön, und so facettenreich, einfach selbst ein kleines Stück Musik. Danke Ihnen dafür!
Fragen über Fragen Hallo Herr Herbst, machen Sie sich während der Aufführung Notizen oder können Sie sich die Details alle merken? Haben Sie dann überhaupt noch Gelegenheit die Aufführung im vollen Umfang zu genießen? Ich bin nach einer Opernaufführung jedesmal ziemlich erschlagen und brauche schon eine Weile eh ich alle Eindrücke richtig verarbeitet habe. Das Bühnenbild, die Inszenierung, die Sänger. Eben alles. So oft wie Sie in die Oper gehen, muss das ja richtiger Stress sein, oder? Bereiten Sie sich auf die Oper vor? Ich meine im Vorfeld? Bekommen Sie die Karten für die Aufführungen geschenkt? Ich sitze grundsätzlich in der ersten Reihe um die Sänger und die Musiker im Orchestergraben so nah wie möglich zu haben (bei manchen Aufführugen ist das natürlich falsch, weil man so nah nicht alles mitbekommt) Warum sitzen Sie so weit hinten?
@Freni. Antworten. 1. In aller Regel schreibe ich im Dunklen einiges mit – das ist nachher aber oft nicht lesbar. Überm Grübel über den seltsamen, einander teils überlagernden Schriftzeichen fällt dann sehr vieles wieder ein, was aber nicht das sein muß, was ich da aufschreiben wollte. Schließlich ersteht die Inszenierung wieder vor meinen Augen.
2. Was ist für Sie Genuß? Im Berauschtsein fortgesetzt zu denken, ist es für mich.
3. Stress durch Arbeit ist eine mir unbekannte Empfindung – unter der Voraussetzung, daß es eine Arbeit ist, die ich mir selbst ausgesucht habe und deshalb auch leisten will.
4. Zur Vorbereitung: Oper ist Wiederholungskunst, so auch ihre Rezeption. Je mehr Sie gesehen und gehört haben, desto organischer gelingt der Zugang und auch ein kritisches und/oder liebendes Verhältnis. Irgendwann können Sie dann sogar in einer – nach eigener Meinung – danebengegangenen Inszenierung gleichzeitig mitsehen, wie es sein müßte – das gilt besonders für den Klang.
Aber in aller Regel höre ich mir vor dem Operngang wenigstens einmal eine andere Aufnahme an, um dann, im Saal, aufgrund der Differenzen Details zu hören. Andere Musikschriftsteller lesen zuvor oder sogar während der Aufführung die Partitur mit. Dafür bin ich selbst (noch) nicht sattelfest genug, also ich kann leider nicht, wie manch anderer, eine Partiturseite sehen und automatisch den Klang hören, der in ihr notiert ist. Es kann aber durchaus sein, wegen meines Cellos, daß sich das in den nächsten Jahren ändert. Wenn man bewußt nie aufhört, Neues zu lernen, bleibt das Gehirn auch jenseits der Fünfzig wunderbar geschmeidig.
5. Wenn ich über eine Aufführung schreiben will, erhalte ich in aller Regel Pressekarten. Für Die Dschungel gilt das unterdessen in fast allen Städten des deutschsprachigen Raums, sofern dort Mitarbeiter für Die Dschungel schreiben.
6. In den ersten Reihen zu sitzen, halte ich vor allem aus akustischen Gründen für einen Fehler. Aber auch szenisch kann das die nötige Illusion, die ein Regisseur aufbaut, völlig zerstören, etwa, wenn man mitbekommt, wie die Schminke wegplatzt oder die Sänger immer wieder mal spucken. Dafür können sie nichts, aber ich empfinde es schon als einen Übergriff, ihnen in den Hals zu gucken.
Übrigens ist „weit hinten“ eine höchst relative Bestimmung, zumal in einem so großen Saal wie dem der Deutschen Oper. Für den Klang ist, wie gestern ich saß, die achtzehnte Reihe genau Mitte ideal. Im übrigen wird der Platz vom Opernhaus zugewiesen.
Hmm, Respekt. Sie machen das also ohne Notizen. Mir fällt es nicht immer leicht, mich auf Musik und Schauspiel, sowie Bühnenbild zu konzentrieren. Ich muss da noch üben. Vll mache ich auch einen Fehler. Ich höre die Opern zu Hause voll konzentriert mit Kopfhörer. In der Aufführung selber prasseln noch andere Eindrücke auf mich ein. Hätte ich die Oper vorher nicht zu Hause schon mehr als 1x angehört, wäre ich vermutlich überfordert. Was ist ein Musikschriftsteller? Die lesen wirklich die Partitur mit? Wie genial ist das denn? Ehrlich gesagt, möchte ich viel lieber nur die Musik ganz bewußt wahrnehmen und wenn ich dabei alles um mich herum vergesse, dann ist es Genuss pur. Nur ich und die Musik. Sie schreiben—- im Berauschtsein fortgesetz zu denken. Hmmm? Wenn die Musik mit Ihnen eins ist, können (wollen) sie noch denken?
Für Sie ist also eine Opernaufführung anzuhören mehr Arbeit als Leidenschaft? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Seit wann hören Sie Opern? Sie schreiben „Wenn man bewußt nie aufhört, Neues zu lernen, bleibt das Gehirn auch jenseits der Fünfzig wunderbar geschmeidig.“ Das würde ich sogar unterschreiben. Ich glaube auch, das sind Ihrer herausragenden Eigenschaften. Neugier und Wissensdurst.
Waren Sie schon mal am Cottbuser Staatstheater oder in Stuttgart zu einer Opernaufführung?
Wenn ich nicht in der 1. Reihe sitze habe ich nichts von den Musikern. Ich schaue gerne in den Orchestergraben und applaudiere den Musikern zum Ende gerne zu. Aber ansich haben Sie schon recht. Die Akustik nehme ich glaub‘ mehr wahr, wenn ich die Musik über Kopfhörer höre. Eine Aufführung ist eben nicht nur Musikgenuß, sondern auch Schauspiel und Inszenierung.
„mehr Arbeit als Leidenschaft“. Sie mißverstehen. Arbeit und Leidenschaft sind keine Gegensätze, sondern gehören aufs engste zueinander. Das eine ist ohne das andere nicht zu erleben und schon gar nicht zu erschaffen.
Musikschriftsteller sind Menschen, die leidenschaftlich über Musik schreiben, egal, in welchem Metier. Es können, müssen aber nicht Kritiker sein, können, müssen aber nicht Romanciers sein, können, müssen aber nicht Dichter sein. Sie können auch, müssen aber nicht alles dieses zugleich sein. Und manchmal sind sie Musiker-selbst.
Das menschliche Gehirn stirbt mit dem achtzehnten Lebensjahr irreversibel ab. Daher hat sogar Beuys recht, wenn er sagt, das Gehirn ist Scheiße. Aber es geht um etwas ganz anderes als um das Gehirn.
@tom zur Irreversibilität. Da wir auch nach dem achtzehnten Lebensjahr noch lernen können, bedeutet das, daß sich weiterhin neue Nervenbahnen aufbauen. Das wiederum bedeutet, daß Ihr Begriff vom Absterben ausgesprochen relativ ist. Aber in der Tat hätte eine Diskussion darüber unter diesem Beitrag nur sehr bedingte Relevanz – etwa in Hinsicht darauf, was moralische Prägungen bedeuten und ob man sie und inwieweit umprägen kann.
„Aber in der Tat hätte eine Diskussion darüber unter diesem Beitrag nur sehr bedingte Relevanz…“, so hatte ich es gemeint.
…interessanter finde ich. Daß es andernwärts ausgerechnet für diese „reine“ Inszenierung so viele Verrisse gehagelt hat – als gäbe es ein Intellektuellenkritiker-Unbehagen, wenn ein Stück allzu euphorisch aufgenommen wird. Etwa >>>> dort und >>>> da. >>>> Bieito aber geht den Kritikern dann wieder zu weit. Anstatt daß nach der Immanenz künstlerischer Ansätze gefragt wird. Zumal ist ein Erfolg wie der am Sonntag gerade für die angeschlagene Deutsche Oper Berlin von enormer Bedeutung. Sehr klug dagegen >>>> Matthias Nöther, dessen Netzpräsenz ich vorhin erst entdeckt habe, und sehr gerne verlinke ich darauf.