Abschied und Intensität. Des verstorbenen Mauricio Kagels letzte CD.

[Geschrieben für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Dort unter dem Titel „Einbruch in den Stall der elitären Hühner“
am 2. 6. 2012 erschienen.]


Mauricio Kagel, der vor vier Jahren verstarb, zählt mit Hans Werner Henze, Helmut Lachenmann und Karlheinz Stockhausen zu den wichtigsten Komponisten der Neuen Musik vor der Generation Wolfgang Rihms. Er war zugleich einer der vielseitigsten, auch und gerade Musikdenker, dabei durchaus nicht immer geliebt, denn er hing dem Materialfetischismus nicht auf eine Weise an, wie es die mächtige Darmstädter Schule unbedingt wollte und deshalb jede Nichtbeachtung mit Verstoßung bestrafte. Zudem war er immer ein bißchen Clown, clownesk oft seine Aufführungspraxis, so daß er sich im Nachhinein nicht recht zur Heiligsprechung eignet. Daß die meisten seiner Kompositionen von ihren Ausführenden Aktionen fordern, verweigert sich allerdings den Verdinglichungsprozessen der Kulturindustrie sehr viel mehr und löst damit eine der Forderungen Theodor Adornos grundlegender ein, des Philosophen der Neuen Musik, als eine pur reproduzierbare Partitur das leisten könnte. Immer gibt es einen bei Kagel meist eminenten Unterschied zwischen dem aufgeführten Werk und seiner hergestellten Aufnahme, selbst dann, wenn sie ein Mitschnitt ist. Es ist ein bißchen so, als wollte Kagels Musik – in beiderlei Sinn – der Ergreifung wiederstehen, indem das Auge zur Ergriffenheit des Ohrs in spöttische, bisweilen auch alberne Distanz gerückt wird. Ohne daß aber Ergriffenheit vermieden würde, wie es kompositorisch besonders der seriellen Schule angelegen war, der schon der Wohlklang an sich für reaktionär galt. Es gibt bei Kagel durchaus, neben ausgedehnten meditativen Phasen, ein Pathos des großen tief hinab- und weit hinaufgreifenden Raums – zu denken besonders an seine herzschnürend beklemmende Sankt-Bach-Passion, an die Lieder-Oper „Aus Deutschland“ sowie an das „Chorbuch“, das in diesen Tagen bei Winter & Winter herausgekommen ist. Das kleine feine Münchener Label hat sich mit seinen die Genregrenzen nicht nur überschreitenden, sondern die Genres in sich amalgamierenden Produktionen unterdessen einen ausgesprochen exklusiven Namen gemacht.
Mauricio Kagels Chorbuch besteht eigentlich aus 53 Stücken, von denen leider nur sechzehn auf dieser Scheibe zu hören sind; das ist ein wenig schade. Denn die, wie Kagel sie nennt, nicht-linearen Transpositionen, eine seiner speziellen Formen der Variation, sind von ziemlich unmittelbarer Kraft, die hier allerdings vor allem eine der Trauer ist und des Abschiednehmens. Wenn da gebrochen ein „Es ist genug“ ertönt, geht einem das freilich auch deshalb ans Herz, weil diese CD Mauricio Kagels letzte ist. So klingt vieles wie eine sehr viel resignativere Lebensbilanz als angemessen, zumal der Komponist selbst mitsingt. Tatsächlich aber wurden die Stücke dreißig Jahre vor Kagels Tod geschrieben und können als allerdings je eigenständige Vorarbeiten zu seiner Sankt-Bach-Passion verstanden werden. Anders indessen als Bach wurden Kagel bis zu seinem Tod gleichermaßen Ehrungen wie eine ständige öffentliche Aufmerksamkeit zuteil; sein Leben ist gewiß keines in Verschwundenheit gewesen, auch wenn er den elitären, bisweilen sich selbst sakralisierenden Betrieb vermittels burlesker Blasphemien immer wieder aufgescheucht hat, so einbrach in den kleinen Stall der elitären Hühner, die anbetungshalber in ihrem materialfixierten Yoga erstarrten, das man heute ein Tai Chi der Neuen Musik nennen könnte.
Doch wie Kagel dieses Scheinsakrale immer wieder profanierte und dem Sakralen zugleich sein bewegendes Klangrecht ließ, so umgekehrt erhob er Geschehen des Alltags und der Biographie. Davon zeugt die zweite Komposition auf dieser CD, die „Inventions d‘Adolphe Sax“, dem Erfinder nicht nur des nach ihm benannten Instruments, sondern auch Veränderers vieler anderer Instrumente wie insgesamt einem der rührigsten technischen Bastler und Neuerer des vorvergangenen Jahrhunderts. Dabei ist Kagels Begriff der Invention hier in doppeltem Sinn zu verstehen: sowohl als semantisches Sprachspiel („Die Erfindungen des Adolph Sax“), wie musikformal. Auch das kommt nicht ohne Komik daher, etwa wenn gleich zu Anfang über einer aufsteigenden Saxophonlinie ausgerufen, ausgehaucht wird: „Ah/oh! Les Saxophones!“ Eingebaut sind hier – atmosphärische, nicht tatsächliche – Zitate, wobei Kagel in Saxens Biographie immer wieder Elemente des ihm so angelegenen Situationstheaters findet. Das gibt der Musik ein ausgesprochen Erzählerisches, ja Dramatisches, das obendrein von einem ironischen Swing durchzogen wird. So tänzeln wir von Lebensbild zu Lebensbild weiter.
Kagel komponierte das Stück drei Jahre vor seinem Tod; es dürfte sein letztes vollendetes sein. Die Inventionen wurden für den Nederlands Kamerkoor und das Rascher Saxophone Quartett geschrieben, die sie auch in aller nur denkbaren Leichtfüßigkeit und mit jenem Scharlatanhaften („Bravo!“Flüstern, „Bravissimo!“Hauchen – überm quarrend ratschenden Schlagwerk) interpretieren, von dem Helmut Krausser einmal schrieb, es g e h ö r e zu einem jeden Genie.
Mauricio Kagel
Chorbuch
Les Inventions d‘Adolphe Sax

Nederlands Kamerkoor, Rascher Saxophone Quartett
Music Edition Winter & Winter CD Nr. 910 191-2
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