Das Arbeitsjournal des Buchmessenmittwochs, dem 10. Oktober 2012. Zu Rezeptionsproblemen im Kybernetischen Realismus.

8.40 Uhr:
[Heinz Winbeck, Zweite Sinfonie.]
Zweiter Latte macchiato, erste Morgenpfeife. Die Schlagwerkbetonung der frühen Sinfonien Winbecks: das läuft zu ungefähren Clusters immer unten durch.
Lange saßen wir gestern beisammen, Kiehl, Stang, Gogolin und ich, sprachen und sprachen, schließlich mußte Stang davon zu einem nächsten Termin, und ich kochte. Dann aßen wir bis spät und sprachen weiter, längst abgelöst vom Anlaß, von den Künsten & Künstlern, den Leidenschaften & Konzepten. So wurde es spät.
Heute früh dann nicht früh hochgekommen und zuerst >>>> Dr. No geantwortet, der die Thetis-Gespräche >>>> fortgesetzt hat und in seinem Kommentar sehr, glaube ich, genau die Probleme formuliert, die ein „klassischer“ Leser mit meiner poetischen Romankonzeption hat und womöglich haben muß; mein >>>> Elfenbein-Verleger, als er mir offenbarte, daß er Argo verlegen wollte, nannte, nach seiner Thetis-Lektüre, den Grund: „So etwas habe ich noch nie gelesen. Das ist völlig neu. So etwas gibt es noch nicht.“ Die Löwin wiederum, zu den Thetis-Gesprächen: „Ihr müßt das veröffentlichen, vielleicht als Begleitheft zu Argo.“ Den Gedanken hatte auch ich schon gehabt, aber das, freilich, muß Dr. No dann auch wollen. Es gibt auch für so etwas Vorgänger, meist in Briefwechseln zwischen den Autoren und ihren Lesern, bisweilen ihren Mäzenen erhalten. Als Kommentarfolge in einem Netzmedium ist auch das aber neu – ebenso, wie es neu ist, daß ich die diesjährige Frankfurter Buchmesse nicht wirklich ernstnehme: Mein erster Termin heute ist für 15 Uhr anberaumt, vor 13 Uhr werde ich sicher nicht rübergehn. Sondern an Argo arbeiten vorher und, wie Sie lesen, an Der Dschungel. Vor allem vergegenwärtigen mir die Thetis-Gespräche, was ich mit dem Romanprojekt eigentlich tue; das ist ausgesprochen hilfreich in dieser Phase meiner Argo-Arbeit, die, wie man es nun dreht und wendet, ihr begonnener Abschluß ist. Da muß man fokussieren, klären, herausfeilen. Als man Michelangelo fragte, wie er es denn fertigbringe, das Tier so aus dem Marmor herauszuschlagen, antwortete er: „Das ist ganz einfach. Ich haue einfach alles weg, was n i c h t Löwe ist.“ Das Rezeptionsproblem besteht darin, daß wir unsere Zeit nicht erkennen, sondern sie immer noch so wahrnehmen, wie es ein Mensch täte, der im 19. Jahrhundert lebt. Unsere Gehirne haben sich auf die Gegenwart noch nicht eingestellt. Unsere Gegenwart ist auch noch ganz jung, ist keine zwanzig, allenfalls dreißig Jahre alt. Aber die Gehirne der Jungen sind dabei, es zu tun. Wir beklagen Pisa, sie aber springen über Pisa hinaus – in eine Welt, die wir gar nicht mehr erfassen, wiewohl wir selbst sie konstruiert haben. Den Jungen mögen einige Fähigkeiten verlorengehen, die uns wichtig sind, aber andere, die wir nur nicht begreifen, kommen neu für den Menschen hinzu. In diese für uns neue, für sie aber längst selbstverständliche Welt die Romandichtung hineinzuretten, sie in ihre Welt zu übersetzen, ist eine meiner Arbeitsvorhaben, die sich dadurch aber ihrerseits verändern – möglicherweise auf eine Weise, die mein eigenes – sehr konservatives – Gehirn nicht völlig überschaut, sondern ich bin genau so darauf angewiesen, mit Modellen zu arbeiten, wie ein Physiker in der Quantenwelt mit Modellen arbeitet oder einer, der mit zahllosen Dimensionen über den uns vertrauten dreien hinaus operiert. Unser Gehirn hat sich auf die Geschwindigkeiten einzustellen gewußt, in kaum dreißig/vierzig Jahren; es wird sich auch auf die Multiperspektivität einzustellen und mit ihr umzugehen wissen. Wir dürfen nicht vergessen, daß die hohen Abstraktionen, mit denen Physiker unterdessen fast täglich umgehen, Beschreibungen wirkender Realtität sind.

So. Argo. Guten Morgen.

6 thoughts on “Das Arbeitsjournal des Buchmessenmittwochs, dem 10. Oktober 2012. Zu Rezeptionsproblemen im Kybernetischen Realismus.

  1. Michelangelo Mein Küche sieht nach Ihrer Kochaktion aus, als hätten die Barbaren drin gewütet. Ich schlage vor, Sie kommen zurück und spülen alles aus ihr heraus, was nicht Küche ist.
    Nur mal so als Anregung : )

    Herzliche Grüße und bis zum nächsten Exzess,
    TT

  2. Korrektur: Stephan Balkenhol. Das trage ich nun schon lange, zu lange mit mir herum: Die Anekdote, die ich hierüber Michaelangelo zuschrieb, ihm und den Löwen, gehört zu denen nicht, sondern zu >>> Stephan Balkenhol. Wo denn hätte bei jenem es Löwen gegeben? Doch andererseits, Herr Balkenhol wird mir den Fehler verzeihen, derart, dieser Mann, für einen s e l b s t genommen –

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