4.40 Uhr:
[Arbeitswohnung. Dallapiccola, Ulisse.]
Der Vorwurf war absurd, ich war auch gar nicht ärgerlich. Meine, sagte ich, Perversionen lägen woanders, sicher nicht da. Erzählte von dem Zwillingsmädchen, aber, das macht mich im nachhinein stutzig, gab das Alter der Kleinen mit Sieben statt mit Fünf an. Was eine völlig blödsinnige Lüge war, da der Mensch – ich habe im Wachen überhaupt kein Bild mehr von ihm – meine Angabe aufs leichteste überprüfen konnte. Jedenfalls hätte ich, seit das Kind ein Säugling gewesen, bis heute sehr oft bei ihm gelegen, nachts, und nicht auch nur die entfernteste Anwallung verspürt. Was stimmt. Dennoch bleibt diese Lüge, deren Tragweite mir auch im Traum allmählich klarwurde. Jetzt ärgerte ich mich d o c h. Das gibt es tatsächlich, daß ich manchmal, nicht oft, aber doch, rein aus Mutwille etwas Falsches sage und dann, klopft man mich fest, darauf beharre, ja geradezu virtuos für dieses Falsche Wahrheitsbegründungen finde. Das hat auch etwas Sportliches.
Dummerweise wurde unser Gespräch nun sogar vertraulich, und der Mensch traf alle Anstalten, sich wirklich Bücher von mir zu besorgen; also hatte er offenbar doch noch keines gelesen. Er wolle sich später mit mir über seine Lektüre unterhalten, vielleicht in einer, schlug er vor, Korrepondenz. Ich ärgerte mich immer mehr über meine Lüge, aber bekam es nicht hin, sie jetzt noch richtigzustellen: zu sehr hätte ich, meinte ich, dazu ausholen müssen. Weshalb ich das wahrscheinlich hier nachhole. Man kann sich die Idee machen – sie hat etwas Geschlossenes, etwas, psychotischen Welten gleich, Wahres-für-sich -, daß es in unseren Träumen tatsächlich Lebewesen gibt, die ganz neben uns leben, alle Zeit, in deren Häuser wir aber nur, wenn wir schlafen, eintreten können; so sie in die unseren, die dennoch eigene komplette Schicksale haben, von denen wir vielleicht so wenig erfahren, wie sie von den unseren, sondern man trifft sich eben immer nur gelegentlich und teilt sich dann mit.
Mit einer gegenseitig wirklich herzlichen Versicherung unserer beginnenden Freundschaft trennten wir uns, und ich verließ die Party, ging zu meinem Fahrrad und – aus dem Traum und damit aus dem Schlaf hinaus. Sah auf die Uhr: Es war 4.28 Uhr. Noch vor dem Weckerklingeln stand ich auf, fuhr die Computer hoch, ging in die Küche, schaltete die Pavoni ein, kehrte zum Schreibtisch zurück und öffnete die Maske dieses Arbeitsjournal-Eintrages. Dann erst zog ich mich an.
Latte macchiato, Morgenpfeife. Seit gestern nacht, seit nach der straußschen Arabella war mir nach Luigi Dallapiccolas Ulisse, den ich jetzt höre, während ich tippe und über den Traum, gleichzeitig, nachdenke. Gleichzeitig ließ ich die Milch unter der Aufschäumdüse schäumen, rechts das schwere Glas in der Hand, links die elektrische Espressomühle, den Finger auf dem Stromschalter; je verschiedene Bewegungen der Hände, und im Kopf noch mal den Traum. Die Hände tun je was anderes und als das Hirn, das zugleich all diese Vorgänge überwacht: Multitasking, quasi instrumental. Es hilft sehr, wenn sie automatisiert sind, also das Körpergedächtnis mitarbeitet.
Ich frage mich, weshalb ich auch das gleichzeitig dachte: daß Pädophilie nun wirklich nicht meine Neigung ist, ich aber trotzdem log, wie um das zu beweisen; und daß ich wie ein Instrumentalist links und rechts Verschiednes tat und, auf der Metaebene, daß alles dies gleichzeitig geschah; was wiederum das zu bedeuten habe. Ich spürte diese Sehnsucht nach der Musik, wußte aber, daß sie für die nächsten Tage müßte eigentlich ausgeschlossen werden: weil ich jetzt Argo noch einmal, am Stück, ganz lesen und mir die Satzklänge vergegenwärtigen will, die von Musik nicht überlagert werden dürfen, damit ich nicht diese statt jener höre und deshalb etwas für gut befinde, das es womöglich nicht ist. Reinheit der Konzentration. Meine Konzentrationskraft besteht aber nicht im Fokussieren, sondern gerade im Erfassen von Simulatanitäten – so, wie ich auch, mit auf dem Screen oft mehreren geöffneten Fenstern zugleich, simultan am Schreibtisch arbeite und in den Texten jeweils selbst gleichzeitig mit mehreren Ebenen, direkt aus der Erfindung heraus, operiere.
Vielleicht wird dieses Arbeitsjournal heute früh so lang, allein, weil ich den Dallapiccola weiterhören, ihn nicht unterbrechen will, auch nicht für Argo. Allerhand immerhin, daß ich gestern tatsächlich über einhundert Seiten bearbeitet habe, erstaunlich, fast nicht zu fassen. Es war ein Gefühl aus Berauschtsein und Triumph, das mich spätnachmittags ergriff, darin aber auch Spuren der leichten Depression, die ich seit der Buchmesse in mir herumtrage. Eigentlich hätte ich mit mir selbst anstoßen wollen auf den Arbeitserfolg, aber ich trinke ja zur Zeit keinen Alkohol, und es war auch kein Mensch da, mit dem ich‘s hätte tun können. So rief ich schließlich den Profi an und lud ihn zum Essen ein. Da war es Viertel vor sieben. Er sagte sofort zu: „Um acht, halb neun?“ Typischerweise erschien er erst kurz vor zehn, was mir aber die Zeit gab, auch noch die Arbeitsnoten zu bearbeiten, die als Fußnoten im Text stehen, und auch die Kapitelnummern über alle 927 Seiten hinweg auf korrekte Zählung zu kontrollieren.
Wir gingen zu der aparten Vietnamesin, die der Profi, der gestern sehr auf Spott gebügelt war, eine „ältere Dame“ nannte. „Du hast von ihr als einer hübchen jungen Asiatin erzählt, die immer mit dir flirte, und nun seh ich, es ist eine ältere Dame.“ Was mich ärgerlich machte. Ältere Dame – also wirklich! Wenn es hochkommt, ist sie vierzig. Der Profi spielte unsere gemeinsame Erfahrung gegen mich aus, daß wir ‚Westeners‘ das tatsächliche Alter asiatischer Frauen so gut wie nie richtig einschätzen können. In meiner Tokyoter Zeit hatte ich Studentinnen, von denen ich annahm, sie seien noch keine zwanzig; später stellte sich heraus, daß sie quasi alle Doktorantinnen waren und munter auf die Dreißig zugingen oder sie schon überschritten hatten. – Dann ließ er sich von Argo und den nun anstehenden Arbeitsabläufen erzählen: noch einmal ganz durchlesen, dabei hie und dort umformulieren, vor allem aber: sich die Geschehen völlig zu vergegenwärtigen und damit dann in die Lektüre der ersten beiden Bände der Trilogie gehen, auf die hin die letzte Durchwalkung von Argo erfolgt, die zur Lektoratsfassung führen wird. Auf jeden Fall muß noch gestrichen werden; ich weiß nur nicht, wo. Druckte man das Buch in der vorliegenden Form, hätte es 1400 Seiten, vielleicht sogar mehr. Was entschieden zu viel ist, auch für die Gesamtbalance der Trologie als eines Triptychons.
Das Essen indes fand auch der Profi vorzüglich. Ich strich in Gedanken den Körperkonturen der schönen Vietnamesin nach: zärtlich: wie man ein schlankes, glattes Ebenholz durch die Hand gleiten läßt: bewundernd aber, nicht sexuell überwältigend. Nicht, wie Kant meint, interesseloses, sondern triebloses Wohlgefallen. Wobei, begreife ich jetzt, die für viele asiatische Frauen typische Mädchenhaftigkeit es sein wird, was mir in meinem Traum die Unterstellung, ich sei pädophil, eingetragen hat – nur daß eben diese Vietnamesin aus dem Muster insofern herausfällt, als sie eben nicht mädchenhafte, sondern, bei aller Gertenschlanke, ausgeprägt weibliche Formen hat. Darauf wies ich den Profi auch hin. Aber er mochte nicht sehen. Wenn hingegen ich diese Frau betrachte, überkommt mich ein, aber inniges, Staunen.
Gut, ich mach mich mal daran, ans Lesen. Erst freilich noch das DTs für gestern, dann aber die Argo-Lektüre. Ohne Dallapiccola. Mal sehen, wie viele Seiten ich bis zum Abend schaffen werde. Termine habe ich keine. – Allerdings will ich vorher noch einen Brief schreiben. Und muß meiner Redakteurin schreiben, daß ich das verabredete neue Hörstück erst im Dezember werde anfangen können, so daß wir die Sendung aufs nächste Jahr verschieben müssen. Denn es liegt auch noch der >>>> Giacomo Joyce an – nein, >>>> Parallalie, das ist nicht vergessen -, sowie die Neue Fröhliche Wissenschaft, deren Erscheinen >>>> Abendschein und ich nun, zum Erscheinen Argos parallel, auf den Herbst 2013 verschoben haben.
Guten Morgen, insieme.
12.54 Uhr:
Bis TS 104 gelesen, einiges korrigiert. Läuft aber insgesamt wie geölt. Die Personen schmilzen bisweilen nahtlos ineinander, die Perspektiven drehen sich, aber die Szene jeweils selbst ist scharf konturiert. So, wie ich das gewollt habe.
Mittagsschlaf jetzt. Dann wird weitergelesen. Mit etwas Disziplin schaffe ich heute 200 Seiten. Dieses so täglich, und ich werde noch im November damit durch sein und zu den ersten beiden Büchern hinüberlesen können.
20.35 Uhr:
So, bis eben durchgelesen seit halb drei und jetzt bei TS 201 haltgemacht; zwischendurch nur eine Kleinigkeit einkaufen gewesen, schon, um für den morgendlichen Latte machiato genügend Milch im Haus zu haben – da fielen mir Rosenköhlchen ins Auge,; dazu, dachte ich, Putengeschnetzel, indisch gewürzt: Garam masala, Turmerik, etwas Nelke und Zimt, ein Spur Curry aus Tanger, vor allem Kreuzkümmel. Mit Knoblauch eingelegt und ziehen lassen. Jetzt in der Pfanne. Die Rosenködel à la nature, nur in Butter mit einem Filmchen Wasser gezogen, das den Pfannenboden bedeckt. Das wird mein Abendessen sein.
Der Roman läuft, finde ich, extre, schnell; das ist spannend. Man muß sich aber drauf einlassen, nicht immer sofort zu wissen, wer spricht; das ergibt sich mitunter erst am Ende einer der betreffenden, oft flashbackhaften Szenen, ergibt sich in jedem Fall aus der Szene selbst und der Haltung, jeweils, zu ihr. Von einigen Formulierungen war ich selbst baff, andere mußte ich richtigrücken. Zwei Motive hingen, wirklich nur zwei; das war sehr schnell zurechtzukonstruieren.
Morgen will ich bis TS 400 kommen – ah, muß in die Küche, damit da nichts anbrennt – (Mist, schon passiert. Aber gerade noch gerettet).
Und Dr. Nos. Thetis-Gespräche, mit einer, finde ich, >>>> entscheidenden Frage.