[Arbeitswohnung.]
Das hätte ich nicht geglaubt, habe ich nicht geglaubt, wie tief das in mich selbst führen würde. Als in der Schule meines Sohnes zum ersten Mal, das geschah von Elternseite, angeregt wurde, für unsere Kinder eine Jugendweihfeier zu veranstalten, reagierte ich zwar offen, aber stand doch der Idee höchst skeptisch gegenüber; aus politischen Gründen. Sie war mir zu DDR-lastig. Also fragten wir, seine Mama und ich, unsren Jungen. Und er wollte gern. Da war’s dann eine Frage nicht länger, weder für sie noch mich.
Es geht um Rituale. Mich hat schon in Neapel das Ritual der Messe beeindruckt, und hier nun – gestern abend wurde bis fast 23 Uhr darüber gesprochen – gilt es, für den Austritt aus der Kindheit, Eintritt ins junge Erwachsenenwerden eines zu finden. Die mich beeindruckendste Idee ist, daß man die sechzehn nun Jugendlichen, die es betrifft (andere in der Klasse haben Konfirmation oder Kommunion), tief in den Wald fährt, Kartenmaterial und dergleichen bekommen sie in die Hand, und nun müssen sie ganz eigenständig einen Weg zu einem vorgenannten Ziel finden, das weit genug entfernt ist, daß sie im Freien übernachten müssen. Oder es gilt, jede und jeder für sich allein, zwar einander in der ungefähren Nähe, doch aber getrennt für sich, unter freiem Himmel im Wald zu übernachten, in den fremden Geräuschen, der Dunkelheit oder den gespenstischen Schatten, den unterm Mond die Bäume werfen, oder, wenn es regnen sollte, sich eigenständig Unterschlupfe zu finden. In jedem Fall: sich mit sich allein konfrontieren gegenüber einer fremden Welt. – Klar, es wird Handies geben, und die pfiffigen jungen Frauen und Männer werden GPS zu nutzen wissen, wenn’s darauf ankommt, oder auch nicht darauf ankommt; doch der Reiz, es ohne das zu versuchen, wird sehr groß sein.
Die Handies bleiben den jungen Leuten deshalb, weil besorgte Eltern gerne möchten, daß wir erreichbar so nahbei sind, um, falls etwas passiert, rechtzeitig vor Ort sein zu können. Die Idee selbst erinnerte mich an die indianische Jugendweihe, die ich allerdings nur von Karl May hintertragen kenne, wenn der Mensch sich zurückzieht allein, und das erste, wovon er träumt, wird sein Totem, das er sich nachher erjagt. Das gebe ihm, erinner ich mich, auch seinen Namen.
Ein Initiationsritus also, an dem mich besonders beeindruckt hat, wie unversehens seine gemeinte Weltlichkeit in etwas Religiösen kippt, gut Religiöses. Abgeschlossen wird das am nächsten Tag mit einem Weihfest werden, für das wir gestern abend die Planung ebenfalls begannen.
So weit. Nun ja. Aber dann habe ich die gesamte Nacht davon geträumt – intensivst und mythisch, nein: magisch. Die gewesenen Kinder führten uns etwas vor, und indem sie es vorführten, wurden wir alle selbst in die Zustände versetzt, in denen sie während dieser Nacht gewesen waren: wir wurden sie und blieben doch zugleich die Beobachter des Spiels. Was uns gleichsam doppelt band: wir konnten nur geschehen lassen. Da wurde es dann irre: Mit einem Mal sah ich Rom, das antike, in meinem Traum, wurde Zeuge von blutigen „Spielen“ der Gladiatoren und ihrem Aufstand, ihrer Selbstbefreiung. Danach ging es in Höhlen hinab, die voller Wesen waren von unheimlicher Natur. Unglaublich, was mein Hirn heut in nur einer Nacht vor mir aufgehäuft und eben doch aus mir selbst herausgezogen hat – so sehr, daß ich – und die anderen Eltern mit mir – denen, die das überstanden, unseren eigenen Kindern also, nur noch den aller höchsten Respekt, ja Bewunderung entgegenbringen konnten – womit sie, genau damit, zu eigenständigen Menschen wurden, deren Eltern wir zwar blieben, selbstverständlich; aber das bestimmte fortan das Verhältnis nicht mehr.
Um zwanzig nach acht erst wachte ich auf.
Daß über die Phasen der Lebensalter nicht einfach profan drüberweggerutscht wird, das geht mir nah; daß Rituale zu unserem Menschsein unbedingt gehören müssen. Wir werden andernfalls nicht frei, sondern arm. Selten wurde mir das so klar, wie gestern abend während des Elterngesprächs und meinem Traum darauf.
Gestern nacht kam die dritte lektorierte Argo-Tranche von UF an, über die ich mich jetzt gleich hermachen werde; noch nachts sah ich sie einmal durch. Da ist ein bißchen Irritation aufzufangen, ein bißchen was zu entknoten, offenbar. Wenn ich damit durch bin, geht es mit dem Epilog weiter. Wie ich soeben >>>> im DTs schrieb: „Mit der Durchrhythmisierug des zu schreibenden Epilogs begonnen. Es werden genau 383 Verse sein, die aber, wie >>>> die Elegien, als Prosa dastehen sollen. Genau diese Idee war ja ihr, der Elegien, erster Entstehungsgrund. Eigentlich waren sie lediglich als Etüden gemeint. Die sich dann verselbständigt haben.“
Jetzt kommt zu alledem die Planung der Jugendweihe hinzu, die bereits am 8. Juni stattfinden wird; d.h. sie findet parallel mit dem Arbeitsende an Argo und damit an dem gesamten Anderswelt-Projekt statt; eine Simultanität, die meinem Gefühl den Eindruck von etwas „Beabsichtigtem“ erzeugt, von etwas seltsam Schicksalhaften, Vorbestimmten. Und damit ein tiefer Schnitt ist.
Guten Morgen.