[Arbeitswohnung.]
Es war schon, wie ich >>>> gestern schrieb, richtig: Nach dem Laufen war die Depression weg. Ich lief, obwohl es anfangs schwer war, statt der normalen zwölf Kilometer vierzehn – einfach, weil ich mir ein Erfolgserlebnis heimholen wollte. Die kleinen Lebenstricks. Dann schlief ich einen tiefen Mittagsschlaf und begann danach mit den O-Ton-Protokollen für das Neapel-Hörstück. Die sowieso dringend getippt werden müssen, worum ich mich aber immer erstmal drücke, weil es eine Heidenarbeit ist, in diesem Fall besonders; es sind 57 Tonfiles abzutippen, möglichst nach Sekunden: jeden Schniefer, Lacher, alle Vogelstimmen, Verkehrsgeräusche, Glocken, Kinder-, Frauen-, Männerstimmen, möglichst mit dialektaler Zuordnung schreibe ich aus den Aufnahmen ab, jedes Schiffshupen, Wellen, Plätschern von Brunnen, die Geräusche der Fahrkartenautomaten, in denen die Biglietti abgestempelt werden, Geschirrscheppern, LKW-Hydrauliken, Huster, Schniefer, Musik auf der Straße, aus Geschäften, aus Schulen, das Zischen der Espressomaschinen, Rauschen von Wind in Bäumen, kurz: jeder Laut wird vermerkt und mit der Zeitmarke versehen, an der er zu finden ist, wenn ich ihn in einer Hörfunkproduktion brauche. Insgesamt sind es fast zwanzig Stunden Aufnahmen, was mindestens drei, vielleicht sogar fünf Tage Arbeit bedeutet, eine, zu der ich logischerweise keine Musik hören kann. Ich tippe mit den Kopfhörern auf den Ohren; da meine Aufnahmen mit einem OKM in Kunstkopftechnik getätigt werden, habe ich dann nicht selten den Eindruck, jemand stehe direkt hinter mir oder mir fahre ein Auto direkt durch den Kopf. Es gab bei früheren Protokollarbeiten schon Momente, in denen ich tatsächlich erschrak: So hautnah sind die Töne.
Für die letzten Hörstücke habe ich diese Art Arbeit ein bißchen vernachlässigt und mich drauf verlassen, daß ich immer rein aus Instinkt die richtigen Stellen fand; das hat auch geklappt, aber es hätte vielleicht noch bessere, besser passende Stellen gefunden, zumal man sich an manches, das man gehört hat, ein paar Wochen später gar nicht mehr erinnert oder man hat es sogar gar nicht bewußt gehört, als es geschah. Tatsächlich gibt es beim Abhören der Files (früher: beim Abhören der Bänder) nicht selten Überraschungen, die dem oft vom erlebten Konzert ganz abweichenden Eindruck entsprechen, den ich immer wieder beim Anhören von Mitschnitten habe; allein, daß der Gesichtssinn ausgeschaltet ist, konzentriert den Hörsinn, fokussiert ihn und detailliert die Klänge. Im Fall des Neapelstücks aber werde ich bei der Produktion meinen, gewissermaßen, Lehrer – meinen seinerzeitigen Mentor, möchte ich das nennen – zur Seite sitzen haben; da mag ich mir ein sei’s auch genialisches Schlampen nicht leisten und bin mir sicher, diesem Hörstück wird das sehr zugutekommen.
Also der Depressions-Anfall ist vorüber. Wie ich es dachte. Sitze ich in so einem drin, ist es schlimm, ganze Nexūs von Traumata, jedenfalls Verwundungen, Kränkungen, brechen dann auf; das rast in einem zum Platzen, und was ich, wenn ich dann schreibe, dann schreibe, ist gänzlich ungefiltert, direkt, ohne Verstellung und fast ohne Form. Sie aber, die Form, ist es, was mir danach wieder Fassung gibt, doch der Zustand selbst durfte und mußte sich erst einmal zugeben: eine Art, glaube ich, von seelischer Hygiene ist das, die verhindert, daß die Kränkungen körperlich werden und sich im Körper als Krankheit chronifizieren. Und überhaupt: erst, wenn ich es herausgelassen habe, kann ich es ansehen – das heißt: objektivieren, als ein Objekt betrachten und als ein solches behandeln, weil es sich eben erst dann wegstellen, bändigen, disziplinieren läßt. Nicht anders funktionieren Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse: Man muß erst aus sich herausholen und vor sich stellen (sich vorstellen), was man bewältigen will, und nicht immer funktioniert das mit Kunst, nämlich dann nicht, wenn sie selbst zwar auch Ausweg aus ihnen, aber eben auch Anlaß der Kränkungen wurde: Sie ist dann selbst ein Teil des psychischen Problems.
Sport hilft, schon weil er physisch erschöpft und dadurch ruhig werden läßt: der ausgepowerte Körper will eine Pause, die, nicht selten im Schlaf, auch die Psyche zu ihrer Wiedersammlung nutzt. Die nächtliche Gier auf Süßigkeiten – Schokolade enthält Glücksstoffe – hab ich dann mit einer Mischung aus frischen Weintrauben, Haferflocken und einer Banane in den Griff bekommen.
Morgen, nahm ich mir vor, nach dem anderthalb-Stunden-Schwimmen, Sauna; aber mir schrieb zurecht eine Freundin: „Es wird ein heißes, helles Wochenende – Dein Wetter!“, und so werde ich vielleicht eine Fahrradtour zum Liepnitzsee machen: 27 Kilometer hin, dort anderthalb Stunden am Stück schwimmen, 27 Kilometer zurück; dann hätte ich ein wirklich gutes Training mit in der Tat „meinem“ Wetter verbunden und nicht, wie auch immer erholsam, Zeiten im Engen und Dunklen verbracht, von letztrem wir sowieso viel zu viel wieder vor uns haben. Licht heilt.
Guten Morgen.
(Den Auszug aus einem Brief will ich noch in Der Dschungel zitieren, mit dem ich vor drei Tagen eine irritierte Frage >>>> Benjamin Steins beantwortet habe. Aber erst später am Tag, weil ich jetzt wirklich, zu spät aufgestanden, mit den Protokollen weitermachen muß und will.)
15 Uhr:
Das Krafttraining hinter mir. Während des Trainings begann das Wetter zu kippen. Jetzt sieht es, nachdem ich bei http://wetter.de und http://gewitter.de nachgesehen habe, so aus, als sollte ich die Tour morgen doch besser sein lassen und statt dessen nach dem Schwimmen in die Sauna gehen. Schade, ich hatte mich auf die Tour sehr gefreut, nahm mir sogar vor, den Fahlmann mitzunehmen und im Wald am See zu lesen: rund anderthalb Stunden Radfahrt, eine Stunde lesen, anderthalb Stunden schwimmen, wieder eine Stunde lesen und anderthalb Stunden zurückfahren. Das wäre dann ein arbeitsfreier Tag geworden. Steht aber Regen ins Haus, macht das nicht wirklich Spaß. Aber vielleicht wechseln die Aussichten ja wieder: Wetter ist ein chaotisches System.
Weiter mit den O-Ton-Protokollen; bin bei Filo 21: Fahrstuhl auf den Pizzofalcone (schräg gegenüber der Santa Maria della Sanità).