[Geschrieben und dort auch vorgetragen für die Literaturtagung SPRACHE ODER BILDER, 21. bis 23. Februar 2014, Mosse-Palais, Berlin] → PDF: |
Immer wieder, in großem Umfang zuletzt in einem von der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff für DIE ZEIT geschriebenen und von dieser Wochenzeitung bedeutsam gefeatureten Essay, ist die Klage darüber zu lesen, das Internet zerstöre die Literatur, sei überhaupt wort- und insgesamt kunstfeindlich; deswegen bedienten sich seiner nur rundweg dumme Leute, also solche, zu denen zu gehören ich mich hiermit oute. Es, das Internet, sei der jeder Kunst- und Denkanstrengung nötigen Konzentration abträglich, weil sich zum Beispiel längere zusammenhängende Texte nicht lesen ließen, permanent auf Ablenkung gesetzt werde und überdies die permanenten Bildeinstreuungen eine ernsthafte, sagen wir: seriöse Auseinandersetzung mit Inhalten verunmöglichten. Menschen wie Lewitscharoff, auch, dreivier Jahre früher, nämlich in der FAZ, Thomas Hettche und mit den beiden zahllose andere favorisieren für das Wort nach wie vor das Buch als seinem, quasi von Gottes Gnaden, einzig adäquatem Träger. Indem die Buchkultur sterbe, gehe auch die Dichtung zugrunde.
So weit wird, so schlecht vielleicht nicht gedacht, aber argumentiert – ungewußt einen ganz anderen, einen historischen Kulturbruch zitierend. Ich meine den von der Handschrift zum Buchdruck in den Fünfziger/Sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Selbst im Siebzehnten wurde noch heftig diskutiert, mit Argumentationssträngen, die den heutigen geradezu bizarr ähnlich sehen. Darauf hat wohl zuerst, am Beispiel Pietro Aretinos, Renate Giacomuzzi1 aufmerksam gemacht – wie auch auf einen Hintergrund, der die Diskussionen unter einem wie immer auch eigentlich naheliegenden, so doch völlig anderen Zweckziel beleuchtet, nämlich dem der Macht, bzw. des Machterhalts. Dabei geht es um Märkte. Ich spreche deshalb von einem Verteidigungskrieg der Deutungshoheiten, der derzeit geführt wird. Selbstverständlich ist es ein Krieg um Pfründe. Eben deshalb wirken die Einlassungen derart ideologisch, wenigstens verkrampft. Spielerische Haltungen sind so wenig zugelassen wie abenteuerfrohe Neugier. Freilich kommt, auf der Seite der Netz-Gegner, oft eine nachlassende hirnphysische Präsenz hinzu, die es ihnen auch objektiv unmöglich macht, mit den Entwicklungen Schritt zu halten. Um es knapp auszudrücken: Die Netz-Gegner sind alte Menschen, wobei es gleichgültig ist, ob sie erst vierzig oder bereits achtzig Jahre alt sind; ihre Entwicklung ist zum Stehen gekommen. Deshalb stimmt es, wenn sie behaupten, man könne lange zusammenhängende Texte am Bildschirm nicht lesen; nämlich können sie es nicht. Weshalb es auch andere nicht können können sollen. Man käme sich sonst genau so schwach vor, wie man ist. Obwohl man doch bedeutend ist und das auch deutlich zeigt.
Ich spreche von einem Generationswechsel, vor allem aber Generationenmentalitätswechsel, der möglicherweise eingreifender ist, als es – in sämtlichen Kunstbetrieben – die Machtübernahme durch die sogenannten 68er gewesen ist. Nicht nur die politische Ausrichtung, sondern ein gesamtes Sozialverhalten ändert sich, die Definition desssen, was Freunde seien; man tritt in innigen und aber direkten Kontakt mit Menschen, die oft Hunderte, wenn nicht Tausende Kilometer entfernt leben. Für Jugendliche ist das bereits Alltag. Damit ändert sich die gesamte Art und Weise der Wahrnehmung. Es ändern sich also die anthropologischen Konstanten. Kein traditionelles Pisa kann das mehr messen. In meinem Aufsatz → „Die anthropologische Kehre“2 habe ich den Vorgang beschrieben.
Um es auf eine verknappte Formel herunterzubrechen: Multi Tasking statt fokussierter Konzentration. Diese Entwicklung entspricht einer zunehmend sich dadurch begebenden Mythisierung der Wirklichkeiten, als rein faktisch das gesamte Maß des wißbaren Wissens persönlich von gar niemandem mehr erfaßt werden kann; wir brikolieren Wirklichkeit, um es mit Lévi-Strauss zu sagen. Ein anderer meiner Aufsätze – → „Das Flirren im Sprachraum“ aus dem Jahr 2000 – hat dieses im Zentrum und spiegelt es in die Dichtung. Eine moderne Literatur muß diesen Geschehen entsprechen, nur hier auch kann Utopie entstehen. Das heißt für die Dichtung, daß es um neue Formen geht, die den Erscheinungen angemessener sind als die sogenannte realistische Narration des 19. Jahrhunderts. Um diese Formen zu entwickeln, braucht es das Netz.
Die Frage ist also nicht die dieser Tagung – ob Literatur im digitalen Zeitalter noch zur Utopie tauge -, sondern vielmehr umgekehrt, ob eine Literatur dazu tauge, die sich dem Netz verweigert.
Ich glaube, sie taugt nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, daß sie den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat und ihn auch nicht wieder herstellen will. Selbstverständlich glaube ich nicht, daß es keine belletristischen Bücher mehr geben wird, auch wenn, im Unterhaltungsbereich, mehr und mehr und schließlich wahrscheinlich ausschließlich noch zum eBook gegriffen werden wird, aber die Formen einer zeitgenössischen, das heißt zeitgemäßen Dichtung – den Roman schließt das ein – werden sich nicht in Konkurrenz zum Netz, sondern aus der Zwiesprache mit ihm entwickeln, und zwar schon deshalb, weil die Erfahrungswelten künftiger Leser zu großen Teilen vom Netz besiedelt sein werden.
Und im Netz entsteht bereits heute Dichtung, völlig anders, als das offizielle Bild des klassischen Feuilletons uns glauben machen will. Daß die Umsätze sämtlicher großen Zeitungen signifikant, ja alarmierend für sie, zurückgegangen sind, zeigt, auf welch verlorenem Posten sie stehen, und zeigt auch, weshalb mit solch rhetorischer Gewalt reagiert wird – und mit einer auch vorm Rufmord nicht zurückschreckenden Gewalttätigkeit gegenüber im Netz agierenden Literaten. Dies sind indes, um böse Kafka zu travestieren, Handlungen und Haltungen, die bereits im Absturz gemacht, bzw. eingenommen werden. Abwehrbewegungen radikalisieren sich um so mehr, je weniger sich einem Ende noch ausweichen läßt.
Allerdings habe Aretino, analysierte Giacomuzzi, „das dauerhaft auf Papier gesetzte Wort als moralischen Radiergummi“ gebrandmarkt, „beharrt mit ‚Feuer‘ und ‚Flamme‘ auf einer prä-gutenbergschen, oralen Medienkultur“ und damit „die spezifischen Merkmale des neuen Mediums“ ignoriert, nämlich der rasant entstehenden Kultur des Buches, „das zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit Dauerhaftigkeit plus massenhafte Verbreitung ermöglichte“3. Aber er habe „die Möglichkeiten des neuen Mediums sehr wohl erkannt. Die an potentielle Kritiker und Zensoren gerichtete Beschwörungsformel ist nichts anderes als ein Trick, den Aretino benutzt, um vom eigentlichen Sinn der Druckerpresse (…) abzulenken. Auch der literarische Text selbst lebt von der Differenz des real benutzten Mediums, der Schrift, zur Rede. (…) Werden die Leser über Nanas äußerst bildhafte Sprache in die Geheimnisse erotischer Praktiken eingeführt, steht den geschilderten Nonnen kein Schrifttum als Lehrmaterial der Erotik zur Verfügung, sondern ein ‚Bilderzimmer‘, dessen einzelne Abbildungen von der Erzählerin in Geschichten umformuliert werden. – Wiederum findet“, so Giacomuzzi weiter, „(…) scheinbar beiläufig und belanglos ein Medienwechsel statt, der aber eine für den Text grundlegende und belangvolle Semantik entwickelt: Die Schrift tritt dadurch scheinbar in den Hintergrund, beziehungsweise wird unsichtbar, während das Bild mit seiner Geschichte des christlichen Bilderverbotes (…) in den Vordergrund tritt. Mit diesem Trick wird durch das Bild die Schuld von der de facto ‚Schuldigen‘, der Schrift, abgelenkt.“4
Vielleicht läßt sich auch so Thomas Hettches Haßartikel in der FAZ verstehen, eines Autors, der nicht nur Aretino neu übersetzt, bzw. nachgedichtet hat, sondern auch einer der ersten deutschen Schriftsteller gewesen ist, der als prominente Experimentierbühne eine Netzpräsenz betrieben hat. Freilich singt sein letzter Roman andere, unisono mit vielen Kollegen lamentierende Töne: „Dieser blaue Leinenband aber hat noch das richtige Gewicht, er öffnet sich wie von selbst, und die Finger gleiten widerstandslos über das feine Papier, gerade dünn genug, damit man, gegen das Licht, den Umriß des umseitigen Textes durchscheinen sieht. So muß es sein, das gibt dem Blick Halt. Meine vergehende Welt.“5
Worüber spricht Hettche hier wirklich? Nolens volens verrät er es: Über das Buch als ein Bild. Dem Blick wird Halt gegeben. Der Blick gibt GOtt. So daß sich etwas noch ganz anderes wiederholt. Nicht von ungefähr sind, wie Giacomuzzi schließlich schreibt, trotz aller Haß-Volten auf den Buchdruck, Aretinos Schriften doch noch auf dem katholischen Index des Tabus gelandet, wenn auch erst nach seinem Tod. Die verbotene Sinn- und Erkenntniskraft des Bildes hatte sich auf die gedruckte Schrift übertragen, die so nun ihrerseits zum Bild wurde; monotheistisch argumentiert, ist sie regrediert. Sie wird der Halt, den Aaron Moses‘ aus Ägypten ausgezogenem Volk wiedergeben wollte, das, was dem Blick Halt gibt, aber nicht genügte, weil es kein Gegenstand mehr war. Heute ist das Buch Aarons Goldenes Kalb.
Im Buchdruck wird das Wort-selbst zum Fetisch. Nicht grundlos ist das Kalb „golden“ – ein Umstand, der sich erst in der kapitalistisch durchökonomisierten Welt zur Quelle ständig neuer Mehrwertschöpfung gemacht hat und damit zugleich jeglichen Inhalt profaniert. Mit der gedruckten Bibel ist das Wort GOttes zwar wohlfeil geworden; die höchsten Gewinne aber lassen sich, in der Massengesellschaft, gerade mit Billigartikeln erzielen, durch deren Addierung von Centbeträgen Milliarden entstehen. Die Profanierung wiederum bedingt, daß das Buch keineswegs ein Tempel des Heiligen Wortes ist, sondern jederlei Schund die Klappen öffnet. Ein qualitativer Unterschied von Internet-Wort zu Buch-Wort besteht nämlich gar nicht; der Ausstoß an Unerträglichkeiten ist kein minderer als im Netz. Insofern ist es geradezu bizarr, anläßlich eines vermeintlichen oder tatsächlichen Untergangs der Buchkultur von kultureller Abenddämmerung zu sprechen – um so abstruser, übrigens, als gerade der Roman eine ganze Zeit lang, erst nur fürs Amusement Höherer Töchter geschrieben, als Hort der Unmoral galt; zur favorisierten Ausdrucksform des Bürgertums avancierte er erst langsam. Da muß es nicht Wunder nehmen, daß er als abgeschlossenes Totales in einem Prozeß an Kraft verliert, in dem eben dieses Bürgertum zerfällt, d.h. in dem die feste Entität als Fixpunkt des Sozialen an Bedeutung verliert.
Die Buchdeckel signalisieren die Geschlossenheit, sie sind die Körpergrenzen des Fetischs. Über den Roman selbst, also über den Text, der er ist, sagt das nichts. Die frühesten Romane, nämlich die Epen als seine Vorläufer, wurden vorgetragen; daß sie im Versmaß stehen, hat Gründe in der Oralität, nicht etwa, weil das Versmaß dem Roman-selbst notwendig gewesen wäre. Es ging schlichtweg ums Memorieren. Das ist der Genese des Reimes ganz ähnlich; dieser steht näher der Musik als der Roman, der spätestens mit dem Buchdruck auf den mündlichen Vortrag nicht weiter angewiesen war. Interessanterweise rhythmisiert er sich jetzt neu, heute, in den Tagen des Internets, da ihm das Haus, aber nur dieses, überm Kopf zusammenbricht.
Andere Rhythmen aber sind es, sind solche der Gleichzeitigkeiten, denen eine Befähigung der Rezipienten entspricht, die ich schon oben multi-tasking nannte. Das wiederum spiegelt unsere moderne Wahrnehmung von Welt. Mehr noch kommt der Roman gewissermaßen erst jetzt bei sich an, indem er eine neue Entwicklungsstufe erklimmt: Er muß nicht mehr abgeschlossen werden, ja nicht einmal mehr abschließbar sein. Er realisiert sich als seine eigene Utopie. Allerdings wurde das schon nach seinen poetologischen Höhepunkten um Flaubert, Balzac und Tolstoj erspürt: daher die erkenntnistheoretische Kraft etwa der Romane Kafkas als Fragmente, auch Musils und anderer. Stärker noch, zeigt der Vorgang an, daß der Roman seine Tendenz ins Unabschließbare, damit auch Unfaßbare, zu perfektionieren gewillt ist. Und zwar gab es durchaus Vorläufer – die Literaturwissenschaft spricht von „digressivem Schreiben“; denken Sie an Laurence Sterne, denken Sie an Jean Paul. Aber nicht die heute noch immer eine Romanästhetik des 19. Jahrhunderts fortschreibenden Bücher zeigen das, also nicht Autoren wie Updike, Atwood, unterdessen auch Hettche und andere, sondern die, die sich aus der neuen Freiheit, die ihnen die Postmoderne gab, herausentwickelt haben, etwa Thomas Pynchons, Elfriede Jelineks, Roberto Bolaños; auch meine eigenen Arbeiten zähl ich hinzu.
Das Unfaßbare ist eben GOtt, d.h. das erste WOrt, mit dem Welt begann oder begonnen zu haben – eben: – gesagt worden ist. Die bis heute grandiose Idee daran ist, daß, wie unverwurzelt man immer auch leben mag, dieser GOtt eine jedes Bild übersteigende Gegenwart hat. Praktisch gesprochen, mußte ein Nomadenvolk keinerlei Götzen mehr mit sich wuchten; theoretisch bedeutete es SEine permanente Gegenwart. In einer von schon berufshalber häufigen Ortswechseln gekennzeichneten Gegenwart, sprich der Globalisierung, kann deshalb das Buch gar nicht mehr „Ort“ des geschriebenen und zu lesenden Wortes sein und also auch nicht der Utopien. Wer will denn Bibliotheken schleppen, zumal dann, wenn alles in digitaler Form quasi überall verfügbar ist? Es ist ja nicht falsch, nicht nur in mosaischem Zusammenhang von einem Fließen Gottes zu sprechen, sondern der „Ort“ SEiner permanenten Gegenwart ist heute das Netz, das Internet, und zwar auch und gerade, was die Vermittlung von Wissen angeht. Einen Anschluß finden Sie, derart von Netzen überworfen ist längst die Welt, noch in dem ärmsten Dorf, wo es an Essen mangelt. – Oder wenn Sie Lexika brauchen, für Ihre Arbeit? Wo steht die nächste Britannica? Die schwarmgeniale Erfindung Wikipedias hat sie beinah obsolet gemacht. Allerdings sie selbst, die berühmteste aller Enzyklopädien, hat schon früh reagiert, anstelle in der Schmollecke zu sitzen, und eine Netzvariante vorgelegt, die anders als jedes Buch tatsächlich gegenwärtig sein kann, besonders, was die rasanten Entwicklungen der Naturwissenschaft anbelangt. Und diese, längst, präsentieren Dissertationen und Habilitationsschriften ohnedies kaum noch in Printform. Wenn wir akzeptieren, daß kaum etwas unsere moderne Gegenwart derart geprägt hat wie sie, die Naturwissenschaften, nähme es allein schon von daher Wunder, spiegelte die Dichtung das nicht wider und folgte nicht den entsprechenden Wegen oder liefe ihr voraus. Tut sie es nicht, wird sie sich antiquieren. „Literatur nimmt die Wissenschaft vorweg“, formulierte Hettche einst selbst, aber da war er noch jung.
All dies bedacht, lassen sich die Beklager der Entwicklung nur als Pharisäer der kapitalistisch durchökonomisierten Welt verstehen, als ihre Statt- und Steigbügelhalter, solche, die der Kirchenvertreter Rolle übernommen haben, die, anders als der Glaube selbst, beharrend ist, und zwar auf ganz ähnlichen Strukturen wie alle gängigen Machtapparate. Deshalb sprach ich oben von einem zur Zeit brandenden Krieg der Deutungshoheiten. Da werden auch mutwillig Augen verschlossen, und gegen besseres Wissen wird eben der GOtt gelästert, nämlich seinem WOrt, dem zu dienen man vorgibt. Denn nur der Götze Buch hat einen Marktwert, an dem sich auch und gerade dann verdienen läßt, wenn man es selbst nicht geschrieben hat; das WOrt hingegen, als allgegenwärtiges, ist bei einem Jeden; das Internet als sein neuer Tempel läßt die Kirchenpforten immer offen: jeder kann hinein; es gibt nicht einmal Sakristeien. Das WOrt ist nun wirklich wenn zwar nicht „demokratisch“ geworden, so doch prinzipiell nicht nur Eliten zugänglich.
Darin steckt eine Logik. Sie setzt radikal fort, was mit den Keilschriften begann, was die Handschriften kultivierten und schließlich Gutenberg verteilte. Sogar die bei Aretino erzählten Mischformen aus Wort und Bild perfektionieren sich – ja, indem des Netz auch das gesprochene Wort wiederzugeben vermag, kann die Dichtung in eine Totale gehen, von der, für das Musiktheater, Wagner nur geträumt hat.
So kommt denn das WOrt zu sich zurück, wird aus dem Allerheiligsten genommen, der Vorhang ist beiseitegeschlagen, wenn nicht bald schon heruntergerissen. Der Text wird gemeinfrei – gleich der nächste, für Bürgerliche, Skandal. Dies ist die vielleicht größte Attacke auf eine Welt allein aus Waren. Verwalter werden nicht mehr gebraucht, also solche, die bestimmen, wer was zu lesen habe und was der Jugend schade. Wen wundert‘s da, wenn die Kuroren, die bezahlt sind, von den verderbten Sitten klagen? Daß sie verderbe, stand als Warnung schon je zu Seiten der Kunst. Das wissen die Kuroren auch…
Zum andren kann sich das WOrt nun alliieren; etwas, das vordem allenfalls um sehr teuer Bibliophiles zu haben war, und auch da nie in einer anzustrebenden Einheit mit wieder dem Klang. Nicht von ungefähr hat gerade die Lyrik nicht nur enormen Zulauf im Netz, sondern sie entsteht dort auch, und zwar in kaum vorstellbarer Menge. Sie braucht keine vorhergenommene Kanonisierung mehr, die für ein kaufmännisches Unternehmen, wie jeder Verlag es ist und sein muß, das Risiko rechtfertigt, solch Schwerverkäufliches auf den Markt zu bringen. Die Zugriffe auf Gedichte auf nur meiner eigenen Webpräsenz gehen bisweilen an die 5000; man vergleiche, daß auf dem deutschen Markt bereits ein Lyrikband von 800 verkauften Exemplaren als extrem erfolgreich gilt. Literaturpreise, freilich, werden nur für die vergeben. Wer nämlich sitzt in den Juries?
Auch das ist Schlacht um Deutungshoheit, die eine Schlacht um Einkünfte ist. Man will ja seine Leasingraten zahlen. Ihr nehmt uns unser Land weg: Darum alleine geht es. Was eine Pflanze sei, was Wiese und was Acker, also cultura, Kultur, spielt die geringste Rolle. Doch das steht auf den Fahnen.
Allerdings ist die Szene derart vielgestaltig, lebhaft und wahrhaftig unüberschaubar, daß die gegenwärtige Tageskritik auch deshalb von ihr keine Kenntnis nimmt, und das, obwohl sich die Form der zeitgenössischen Lyrik im Netz nicht annähernd so ändert und wohl auch nicht ändern kann, wie die eines Romanes, der in sein unendliches Fortschreiben vordringt und dabei obendrein eine direkte Mitschrift seiner jeweiligen Zeit ist, d.h. immer auch das Dokument seiner eigenen Entstehung und der Welt um sie herum – womit endlich eine der großen, bislang unrealisiert gebliebenen Forderungen der jungen literarischen und insgesamt ästhetischen Moderne eingelöst werden kann. Eine im Netz realisierte kunstphilosophische Utopie, meine Damen und Herren. Dagegen ist der traditionell im Buchdruck erscheinende Romane immer, notgedrungenermaßen, schon bei seiner Drucklegung historisch – so wie, mit Karl Kraus gesprochen, die Zeitung von heute immer gestern. Die sich im Roman gestaltende abgeschlossene Erzählung wird zur Binnenerzählung in einem Strom. Damit macht sich diese Gattung, wenn sie in bewußter Formung entsteht, erneut zum adäquaten Kunstmedium der Gegenwart, einerseits, indem es um vieles näher wieder am WOrt ist als jedes durch seinen Fetisch-, modern gesprochen Warencharakter verstellte Buch, andererseits, indem er sich den zunehmend die Entwicklung bestimmenden technischen Bildern öffnet oder, siehe das Spätwerk Godards, sie ihm. Das wäre ohne das Netz nicht möglich gewesen, weil nämlich nicht rezipierbar. Was nun die technischen Bilder selbst anbelangt, möge ein Verweis auf Vilém Flusser genügen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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ANH, Februar 2014
Berlin
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1 Renate Giacomuzzi, Die Dschungel.Anderswelt und
ANHs Poetik des Bloggens, in: Panoramen der Anderswelt,
hrsg. von Ralf Schnell, die horen Nr. 231, 2008.
2 ANH, → Die anthropologische Kehre, in:
ANH, Schöne Literatur muß grausam sein,
Gesammelte Essays und Reden 1,
Kulturmaschinen Berlin 2012.
3 Renate Giacomuzzi, a.a.O.
4 Giacomuzzi, a.a.O.
5 Thomas Hettche, Die Liebe der Väter, S.146,
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
Es ist völlig verfehlt, das Problem aus der Sicht der Literatur zu betrachten. Egal, ob man, wie Lewitscharoff etc., im Internet eine Form des Bösen sieht, oder ob man es als multitaskingfähiger demnächst 70jähriger zum Hoffnungsträger stilisiert. Darum geht es weder noch.
Was den Ausschlag gibt und darum die Zukunft bestimmt, das ist einzig und allein das Verhalten des Nutzers. Was für einen Gebrauch macht der User von einem Medium. Und da sieht es für die Literatur mehr als schlecht aus.
Mein Sohn besitzt eine der größten Internet-Agenturen, mit Firmensitzen in drei Ländern und vielen tausenden realisierten Webpräsenzen weltweit, vor allem auch für große Kulturinstitutionen, und sein Urteil ist eindeutig: Die Zeit für Auftritte im Internet, gleich welcher Art, ist längst vorbei, geschweige denn für textlastige Internetseiten, deren Nutzung ist so gering, die Zugriffs- und Verweilzeiten sind so kurz, dass man sagen kann, die Seiten sind tot. Die Betreiber merken das freilich lange nicht, wollen es mangels Alternative auch nicht merken.
Was glauben Sie, warum Amazon beim Verkauf von eBooks dazu übergegangen ist, dem Verfasser der Bücher nicht den kompletten Download zu bezahlen sondern buchstabengenau die tatsächliche Lektüre abzurechnen? Die wissen nämlich genau, dass die meisten eBooks nach dem Download ungenutzt auf den Computern und Lesegeräten liegen. Digitale Texte sind meist tote Texte. Wer das nicht erkennt und immer noch die Welle vom Hoffnungsträger Internet reitet, der ist vermutlich in den utopischen Anfangsjahren des Internets stehengeblieben. Das Internet als Medium für Texte ist längst out. Schauen Sie sich Instagram an. Sorry, gefällt mir auch nicht, is aber so.
Ich bin kein Freund von Lewitscharoff, aber sie hat leider Recht.
Das (wirtschafliche) Argument einer geringen Nutzung der Internet- und eBook-Nutzung belletristischer Werke halte ich nicht für ein Argument, das gegen sie und vor allem dagegen spricht, poetische Formen des Erzählens zu entwickeln, die ihm angemessen sind und eben nur in ihm stattfinden können. Zum einen hat es sehr lange gebraucht, bis ins 19. Jahrhundert hinein, bis Gutenbergs Technologie sich für Belletristik hat marktwirtschaftlich relevant durchsetzen können, und als es so weit war, dauerte auch diese Zeit nicht sehr lange – nämlich bis die erzählenden Bilder des Spielfilms kamen, die ökonomisch sehr schnell alles in den Schatten stellten, was der Buchmarkt jemals gekannt hat, abgesehen von jenen Büchern, die sich aus Marketing- und Mainstreamgründen verkauften. Dies hat aber nichts mit dem Charakter des Mediums selbst zu tun. Zumal es den meisten hochliterarischen Büchern in der Buchform nicht besser als den entsprechenden Netzpublikationen ergeht. Lyrik etwa kommt, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum je über 1000 verkaufte Exemplare; zum Vergleich: Die Dschungel hat derzeit Zugriffszahlen von 400 pro Tag; einige Beiträge, darunter viele zur Lyrik, haben über dreivier Jahre Zugriffe von 20.000 bis 25.000 erreicht; mit keinem meiner Lyrikbände wäre das jemals möglich gewesen noch weiterhin möglich.
Sie übersehen vor allem, lieber Gogolin, daß sowohl Internet als auch gar die eBooks eine noch ganz frische Erfindung sind, die sich ins kulturelle Bewußtsein noch in keiner Weise hat einsenken können. Interessanterweise habe ich allerdings von vielen sehr viel älteren Menschen, als ich selbst es bin, geradezu dankbare Kommentare zu diesen Technologien gehört, insbesondere von solchen, denen es Schwierigkeiten bereitet, kleinere Schriften zu lesen. Ich habe solche unterdessen ja auch, in >>>> Nabokovlesen 27 habe ich es beschrieben (meine Augen müssen nachgelasert werden, der Termin ist erst im Mai). Und ich lese unterdessen fast lieber im Internet, aus selbem Grund: Denn auch da kann ich die Schriftgröße selber bestimmen, ja selbst die Schrifttype – was ich besonders gern tue, weil mir serifenlose Typen unangenehm sind.
Aber dies sind nur praktische, nicht ästhetische, bzw. künstlerische Argumente. Denn vor allem bleibt von Ihrer Replik mein Hauptbefund unberührt, demzufolge Netz- und auch eBook-Publikationen insofern näher beim Wort-selbst sind, als die Materialität des Mediums scharf in den Hintergrund und dafür das Wort sehr viel näher ans Gehirn gerückt wird, übrigens auch aus physiologischen Gründen. Was hierbei schwächer wird, ist der Fetischcharakter. „Das Buch“ ist ein Fetisch. Dies ist nicht unbedingt schlimm, aber es ist über Prägung entstanden, nämlich meiner eigenen und vorheriger Generationen. Diese Prägung ist bei den nachfolgenden schon sehr viel geringer ausgeprägt und wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach völlig auflösen. Dann ist es für die poetische Literatur unbedingt nötig, sich angepaßt und das in die neuen Zeiten nicht nur hinübergerettet, sondern Formen entwickelt zu haben, die ihnen entsprechen. Ansätze dazu gab es in der Buchform sogar schon, >>>> Cotázars „Rayuela“ ist ein Beispiel dafür, übrigens auf andere Art auch „Zettels Traum“ oder >>>> „Dessen Sprache du nicht verstehst“, worin auf experimentelle Weise etwas versucht wird, was das Buch eigentlich nicht tragen kann, das Internet aber sehr wohl. Hier haben belletristische Bücher schon etwas vorausgenommen, das sich heute erst realisieren läßt. Und alles das ist erst der Anfang.
Hier verbirgt sich ein Thema, das ausführlich diskutiert werden müsste – und zwar eben nicht nur hinsichtlich des Trägermediums, denn bisher hat sich das Buch immer noch als hinreichend mächtig erwiesen, um alle poetischen Formen abzubilden; Rayuela und Zettels Traum sind ja gerade Beispiele für die Leistungsfähigkeit des Mediums Buch. (Fritz werde ich mir in den nächsten Tagen nochmal ansehen, darüber würde ich mich gern gesondert unterhalten.)
Es würde mir nicht einfallen, neu oder auch nur anders erzählen zu wollen, weil es gerade zufällig das Internet gibt. Erforderlich wäre – meiner bescheidenen Ansicht nach – eine neue Form des Erzählens selbst. Und zwar unabhängig vom diese Erzählung abbildenden/tragenden Medium. Lassen Sie uns also das Erzählen selbst revolutionieren. Das hätte auch dann noch Sinn, wenn morgen jemand den Stecker rauszieht und das Internet verschwindet.
In Robert Harris‘ neuem Roman „Der zweite Schlaf“ ist das übrigens bereits passiert. Die gegenwärtige Zivilisation ist etwa 2024 untergegangen, 800 Jahre danach spielt Harris Roman. Dort ist als eines der Ereignisse noch etwas bekannt, was sie die große Cloud-Katastrophe nennen. Sie wissen nicht, was das bedeuten könnte, nur, dass das gesamte Wissen damals verlorengegangen ist. Ein paar Bücher gibt es allerdings noch. Die hält die Kirche unter Verschluss.
Genau hier wird offenbar erneut auf den Fetischcharakter verwiesen: Das Buch als Träger eines nichtöffentlichen, nur Ausgewählten zugänglichen Geheimnisses; zudem als Buch als Tabernakel. Es ist eine – Beschwörung.
Genau das sehe ich anders. Die beiden Bücher versuchen unter gestalterischen geradezu Verbiegungen, etwas zu erreichen, das sich im Internet komplett einfach herstellen läßt. Es gilt aber, daß Technik, etwa Fingersätze in der Musik, nur die Vorstufe für das Eigentliche sind. Rostropowitsch: „Ach wissen Sie, junge Mann, irgendwann hört Technik auf, ein Problem zu sein“ – womit er meinte: Dann erst beginnt die Kunst.
Das ist gleich die nächste Annahme, daß es das Internet „zufällig“ gebe. Auch der Buchdruck entstand nicht „zufällig“, sondern weil die Entwicklung einer Technik (und die des Geistes) jetzt so weit war, ihn zu entwickeln.
Eben dies geschieht n i c h t unter Absehung von Technk, die nämlich immer auch Kulturtechnik ist.
wenn morgen jemand den Stecker rauszieht und das Internet verschwindet
Man kann auch den Stecker für Buchdruckproduktionen herausziehen. Ihr Argument ist wie bei den alten Steintafeln: Wenn es keine Steine mehr gibt, gibt es auch keine Schrift mehr. Sie übersehen komplett, daß auch der heutige Buchdruck nahezu vollständig elektronisch organisiert ist. Per Hand gesetzten Bleidruck gibt es quasi nicht mehr, weil er auch in keiner Weise mehr konkurrenzfähig wäre, sondern im Nu Konkurs anmelden müßte.
Alles natürlich bekannt, entkräftet die genannten Punkte aber nicht. Und ich finde – mit Verlaub gesagt – Ihren Abgesang auf das Buch doch etwas seltsam.
Alles aus Ihrer Feder (ich weiß, schon wieder so eine veraltete Metapher – aber sollte ich ASCII-Tabelle sagen?) -, das einen hinreichenden Kunstanspruch geltend machen kann, findet sich bisher zwischen zwei Buchdeckeln. Selbst z.B. „Die Fenster von Sainte Chapelle“, im Internet verfasst, bekamen ihre gültige Form als Buch und werden, so sie gelesen werden, als Buch gelesen und gewiss nicht auf Ihren Internetseiten. Sie werden die Zugriffszahlen haben. Davon ab ist gerade dieser Text ein Beispiel für eine einigermaßen gewöhnliche Ich-Erzählung, für die es als Schreib- und Publikationsort gewiss nicht das Internet gebraucht hätte.
Kurz, der/die Dschungel hier ist der einzige Teil Ihres Schreibens, der konsequent im Internet stattfindet. Das ist schön, das ist vielleicht sogar ein Alleinstellungsmerkmal im deutschsprachigen kleinbuschigen Literaturland, doch verglichen mit Ihren so altertümlich im Buchdruck erschienenen Werken ist die Dschungel literarisch doch eher marginal, trotz seines Umfangs.
Verzeihen Sie mir, dass ich so hochgradig voreingenommen für DAS BUCH plädiere. Ich entstamme geistig einem Volk des Buches. Wenn ich in meinen Bibliotheken stehe, ja, ich habe mehr als eine, die verlorene nicht mitgezählt, stehe ich am Ufer des Meeres. Im Internet stehe ich nirgendwo.
Sie sahen beim Aufkommen des Internets literarische Entwicklungsmöglichkeiten. Das bleibt von mir aus unbenommen, auch wenn es sich seither während der Lebenszeit des Internets nicht realisiert hat. Aber Bücher kann man lieben, und es gibt welche der Ihren, für die ich solche Gefühle hege, für das Internet habe ich bisher bestenfalls Ärger empfunden, wenn das WLAN mal wieder nicht funktioniert.
PS: Damals, in den 80gern, als die Autoren begannen, auf den ersten unvollkommenen Computern zu schreiben – ich war sofort dabei und schrieb mit Hilfe eines Z80-Prozessors – haben Sie das Internet entdeckt. Etwa zeitgleich kehrten eine Reihe von Kollegen zur Handschrift zurück. Zu diesen Handschriftlern gehörte damals auch Handke, von dem Sie mir letzthin schrieben, er bzw. sein Werk sei eines der wenigen aus der Gegenwartsliteratur, das bleiben werde. Das glaube ich auch.
PPS: Die Obstdiebin nicht.
Lieber Gogolin,
es ist einigermaßen klar, daß ich auch hier widerspreche – auch weil „Die Fenster von Sainte Chapelle“ nun gerade kein gutes Beispiel ist. Allein über die, >>>> fürs Netz gesprochen, Zugriffs- und, >>>> fürs Buch gesprochen, Käufer/Käuferinnenzahlen liegen Sie – ich weiß nicht mal, ob ich „leider“ schreiben soll, grundfalsch. Hätte mein Verlag die Käuferzahlen, die die Netzpublikation hatte (die aber nach wie vor aufgerufen wird), hätte er mit den Erzählungen einen deutlichen Bestseller „gelandet“ – was leider nicht der Fall ist, so wunderbar es nicht nur für ihn, sondern auch für mich selbst gewesen wäre und wäre. Von der von den damaligen Kulturmaschinen herausgegebenen >>>> ersten Ausgabe spreche ich besser erst gar nicht, die schließlich auch noch in deren Insolvenzmasse landete.
Zugleich stehen die Fenster deshalb auch weiterhin im Netz, weil es sich, verglichen mit der Buchnovelle, um zwei nicht verschiedene Bücher, aber zwei solche handelt, deren Geschehen quasi unter sehr differierenden Blickwinkeln gesehen wird; an der Entwicklung der Novelle hatten die Kommentatorinnen und Kommentatoren einen entscheidenden Anteil. Dieser ist nur im Netz zu erleben, für das Buch haben wir, meine Lektorin und ich, sogar die Chronologie verändern, nämlich der Buchform anpassen müssen – was einige Folgen für die Dramaturgie hat. Ich kann heute gar nicht sagen, welche Fassung mir mehr gefällt, stilistisch betrachtet, gewiß die Buchform, dynamisch aber die des Netzes.
Auch für viele andere Beiträge in Der Dschungel bin ich der Meinung, daß sich dort Dichtung ereignet, so in unzähligen Arbeitsjournalen, die sich ja auch quer durch die Formen spielen. Erinnern Sie sich bitte, daß ich mit freien Rhythmen erstmals >>>> in den Arbeitsjournalen experimentiert habe; auf die ihre Anfänge charakterisierende und immer mehr zunehmende Herausarbeitung des Verhältnisses von privat zu öffentlich will ich gar nicht erst eingehen. Und insofern Sie etwa Kafkas Tagebücher, aber Tagebücher von Literaten überhaupt, der Literatur und Dichtung zuschlagen, ist dies für die Arbeitsjournale (nicht alle, zugegeben) ebenfalls anzuwenden. Ob es getan werden wird, werde ich selbst allerdings nicht mehr erleben; die Zukunft wird es zeigen.
Daneben ist in Der Dschungel die Entwicklung einer poetischen Ästhetik mitzuerleben, und neu ist, daß es auch die verworfenen Ansätze sind. Insgesamt ist Dichtung im Netz eine prozessuales Kunstform, die im Buchform nicht um Verdinglichung herumkommt; dort sprechen wir von „zwischen den Zeilen“ lesen, wir müssen also stets auf eine Metaebene springen, die das Netz aber schon immer gleich mitist.
Abgesehen davon hänge selbstverständlich auch ich am Buch, sehr. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ohne das Buch zu sein, das für mich nach wie vor die materiale Realisierung meines poetischen Lebens ist. Gar keine Frage. Aber eben: für mich. Ich bin geprägt ganz wie Sie, aber weiß eben, daß es eine Prägung ist. Bereits die Generation meines Sohnes hat sie nicht mehr; dennoch sind viele ihrer Menschen, mein Sohn ebenfalls, künstlerisch tätig. Im Mittelalter führten Dichter wie Wolfram von Eschenbach die Dichtung dadurch zu neuer Blüte, daß sie sie auf der Technik des Memorierens aufbauten; in ihrer Zeit war das Medium der Vortrag. Viele von ihnen konnten nicht einmal schreiben, müssen aber einen irren Kopf besessen haben, wenn sie so etwas wie den Parzifal komplett auswendig konnten. (Bei vielen Dichtern hat sich das noch sehr lange erhalten – denken Sie etwa an Dostojewski, der große Teile seines Werkes nicht selber aufschrieb, sondern aus seinem Kopf heraus diktierte.)
Litblog-Theorie]
Nun kenne ich ja etwas von der leidigen Publikationsgeschichte der „Fenster…“. Ebenso weiß ich von der Buchabstinenz unserer Kindergeneration. Doch sehe ich dafür andere Gründe. Da sind luhmannsche Kräfte am Werk, also Bestrebungen des Abbaus von Komplexität, was dort, wo noch gelesen wird, zum Konsum des Banalen führt. Mit Internet versus Gutenberg hat das erstmal gar nichts zu tun. Und schon gar nicht wird im Internet etwas Komplexes akzeptiert, das als Buch abgelehnt wird.
Das alles sind Tendenzen, die die Entpoetisierung der Welt betreiben, um sie ständig verfügbarer, verwertbarer zu machen.
Verkaufs- und Zugriffszahlen eignen sich zudem sowieso nicht, irgendetwas zu beweisen. Ihre Zugriffszahlen fielen sofort auf Null, wenn die Leute dafür bezahlen müssten, Ihre Seite zu besuchen.
Ich schlage deshalb eine Engführung der Debatte vor. Sie nennen mir einen Romanstoff, ein Prosa-Projekt (um sie nicht auf den Roman festzulegen, den ich allerdings immer noch für die flexibelste Form halte), von dem Sie eindeutig zeigen können, dass es zwingend die Realisierung im Internet verlangt.
ABER – nur eine Bedingung – der Grund für die Realisierung im Internet sollte nicht bloß ein formaler sein, der Stoff sollte dem Leser im Internet vielmehr eine poetische Erfahrung ermöglichen, die anders nicht zu erreichen wäre.
Wenn Ihnen das gelänge, so wäre ich sofort bei Ihnen.
Zu Ihrer letztgenannten Aufforderung – so ist es Die Dschungel-selbst in ihrer Konstellation und quasi-Gleichzeitigkeit, inklusiver der Verweise, was sich in einem Buch niemals so hätte realisieren lassen, schon weil der poetische Echtzeit-Charakter einem Buch verschlossen bleiben muß, auch dem Roman, weil zwischen seiner Fertigstellung und dem materialen Erscheinen mindestens noch einmal anderhalb Jahre vergehen, meistens sogar noch mehr,
Aber Sie nennen außerdem doch nun schon einige Male s e l b s t Die Fenster von Sainte Chapelle. S o, wie sie in Der Dschungel stehen und sich dort entwickelt haben, wäre es ebenfalls in einem Buch nicht möglich gewesen. Deshalb sind es ja nun eben z w e i Texte, die Ähnlichkeiten haben – mit je verschiedenen Stärken und Schwächen -, aber keineswegs identisch sind. Nicht ganz anders die Arbeitseinträge, deren Überarbeitung stets mitzuverfolgen waren, der Bamberger Elegien; insofern die Genese eines Kunstwerks Teil des Kunstwerks ist, ist d i e s e Forderung der jungen literarischen Moderne hier in Der Dschungel geradezu beispielhaft vorgeführt worden, und das eben war – und ist weiterhin – meine poetische Intention. Unterm Strich verbindet Die Dschungel den klassizistischen Ansatz (Auktorialität, hohes Stilniveau usw.) mit seinem gleichzeitigen Durchbrechen. Genau das ist das Neue, was das Netz anheimstellt – wenn man sich denn drauf einlassen will.
Ich denke mal, ich schlage ein Ende des Gesprächs vor (vorläufig?). Und zwar aus 3 Gründen.
1.) Sehe ich, dass wir einen zu verschiedenen Poetik-Begriff haben. Darüber zu sprechen wäre zwar grundsätzlich interessant, führt hier aber zu weit.
2.) deshalb, weil ich davon ausgehe, dass das Werk, dessen Form das Internet zwingend benötigt, erst noch realisiert werden müsste. Während Sie davon ausgehen, es längst geschaffen zu haben.
3.) weil ich dem Internet diese Verwendbarkeit grundsätzlich abspreche. Wenn dem anders wäre, so hätte es sich in den letzten 30 Jahren als Kunstform bereits etabliert. Es hatte sicher einige Zeit hindurch diese utopische Potenz, was Sie früh erkannt haben. Man hätte diese Potenz vielleicht tatsächlich realisieren können. Doch wie immer in der Geschichte zeigt sich auch im Fall des Internets, dass Geschichte das Zerbröckeln des Sinns ist.
Nun gut, anderes wird kommen. Bis dahin bleibt uns das Buch.
Das ist ein bißchen schade, ginge es doch gerade darum, die Verschiedenheiten der Poetiken darzustellen und wesjhalb sie so verschieden sind. Aber gut, selbstverständlich akzeptiere ich diesen Rückzug – möchte aber doch darauf hinweisen, daß ich >>>> im heutigen Arbeitsjourna noch einmal die Gründe/Gegebenheiten einer poetischen Netzästhetik angedeutet habe.
Den Artikel hier selbst werde ich nunmehr in das Datum seines Entstehens einbetten; er bleibt aber über diesen Kommentarbaum auch über die Hauptsite schnell zugänglich.