Auf See.)
Aber magisch, eben, ging es los. Eine silberhelle, ausgesprochen ruhige See, der Himmel gänzlich unbedeckt; wäre nicht das Stampfen der Maschinen gewesen, die uns vorantreiben, man hätte den Eindruck eines Gleitens gemacht; wir schaukelten nicht einmal.
Es war kurz vor sieben. Jemand ruft. Noch sind nicht viele Passagiere an Bord, vielleicht vier oder fünf, die wir uns morgens fast immer dort treffen. John fehlte, weil er in Durban die Astor verließ, um in Johannesburg Freunde zu besuchen, von wo er nach Walvis Bay weiterfliegen und dann erneut zu uns stoßen will. Auch Patrick hatte aber den Weg noch nicht aus seiner Kabine gefunden. Dafür saß selbstverständlich die Kreuzworträtsellöser da, der ohnedies die Nächte auf Deck verbringt, meist eine Flasche Wein vor sich, die ihm von Abend zu Abend jeweils ein anderer Reisender spendiert. Es ist das erste Mal, daß ich einem Clochard des Meeres begegne. Er hat eine starke Aura um sich, auch wenn er wenig gepflegt ist, um nicht das Bild des Obdachlosen zu stören. Die Menschen drängen sich an ihn, er ist nun fast immer, tagsüber, in Gesellschaft und erzählt und erzählt, lachend, nicht selten mit weiten Gesten nicht nur der Hände, nein der Arme auch.
Die Rufe brachten ihn indessen von seinem Rätselheft nicht weg und von dem, wahrscheinlich, ersten Kaffee. Hunderte muß er auf die Reise mitgenommen haben, oder aber es werden ihm immer wieder neue zugesteckt, die wiederum die Reisenden mitgenommen haben. – Aber auch ich habe ein wenig Anschluß gefunden, an Peter etwa, ein kräftiger, nicht sehr großer Mann um die 65, mit Hemigway-Bart und -Habitus, retirierter Journalist in bereits dritter Generation, „a hundred years of journalism, that is my family“. Er war auch noch nicht auf.
Die Rufe.
„Wale!“
Wir eilen am Bug nach Backbord. Schauen, spähen. Die See gleißt. Einer hat einen Feldstecher dabei, schaut beharrlich. Und dann, in der Tat, die erste Fluke, die ich auf dieser Reise sehe. Kein großer Wal, aber ein Wal. Entfernt die zweite Fluke, dann glättet sich die See wieder. Wir warten. Steuerbords schwebt das Kap Agulhas über dem blanken Wasser, pastellgrau in der dort sehr hoch gehenden Gischt:
Steuerbords, als wir das berühmte Kap umfahren, steht mit einem Mal der Nebel. Er steht dann so dicht, daß sich gar nichts mehr erkennen läßt, und wir fahren mitten hinein. Das Schiff macht sich nun durch immer wieder leise ertönende Huplaute kenntlich, die über das Wasser wabern, gar nicht besonders markant, aber in stiller Permanenz. Bisweilen antwortet aus dem dichten Grauweiß, auf das von Westen die Sonne herunterscheint und es für jedes Auge nun wirklich undurchdringlich macht:
Aus dem Nebel erscheint, dies im Wortsinn, das Lotsenboot, mit ziemlichem Karacho hält es auf uns zu, geht seitlich neben Bord, drei Lotsinnen werden hineingehievt, das hat es auch nötig:
Orientierungs„technisch“ war ich gestern häufig verwirrt, weil mein Gefühl den Berg nach Norden versetzt und den Blick aus dem Hafen nach Süden. Das ist ganz falsch; der Hafen ist zum Osten geöffnet, und das Gebirge schließt die Stadt gegen Westen ab. Eine, in ihrem Kern, sehr kleine Stadt, sehr viel kleiner, als ich mir vorgestellt hatte; allerdings dehnt sie sich über die abfallenden Gebirgshänge gen Norden und Süden in endlosen Zersiedlungen aus, nach Süden hin ins Edle, Begüterte, nach Norden hin, so mein Eindruck, ballen sich die „einfachen“ Wohngegenden.
Es war mit Kapstadt ein bißchen, wie ich‘s mir vorgestellt hatte, aber auch „ein bißchen überhaupt nicht“; das machte es spannend. Und was meine eingelöste Vorstellung anbelangt, so muß ich auch hier vorsichtig sein. Denn es ist keine gute Idee, in eine fremde Stadt an einem Feiertag einzulaufen, wenn so gut wie alles zu hat. Es betont genau das, was ich an westlichen Städten nicht mag: daß alles reguliert ist, daß die Augen keine Abenteuer haben, nicht wirklich wandern können, sondern immer schon festgeleitet werden. Daß es keine Liebkosung für die Blicke gibt, sondern nur Norm und Ordnung und architektonische Rechtschaffenheit. Kein Aufbegehren, kein Rausch. Das wird in dem Moment anders, wenn Betrieb herrscht, die Straßen verkehrsvoll, die Läden lockend, die Menschen wimmelnd und rufend und schreiend und lachend und Verstöße begehend.
Hier verstieß nichts. Man war wie die Wale am Morgen, sann vor sich hin. So weit denn jemand zu sehen war außer bisweilen die Hafenöde entlangschlurfende Arbeiter, wenige, sehr wenige.
Überdies hatte auch keine Bank auf, wo ich hätte Geld tauschen können.
Weite gepflegte Anlagen, riesige, aber halbtote Zubringerstraßen, plötzlich joggt ein Trupp Läufer vorbei: Two Ocean Marathon, Startpunkt ist das CTICC: Cape Town International ich glaube Communication Center, Schwarze, Weiße, alle Färbungen dazwischen, junge Leute vor allem, bisweilen jemand Älteres. Sonntagsstimmung. Auch auf das blickt der Tafelberg hinab, streng, durchaus streng: ein riesiger Patriarch. Seine Autorität erdrückt die Repräsentationshochhäuser, deren es durchaus welche gibt und zwischen die sich zwei-, allenfalls dreistöckige Gebäude aus dem Anfang der vergangenen Jahrhunderts, ja dem Ende des vorvergangenen drücken, bisweilen noch mit hölzernen Fassaden, manchmal mit sehr schmalen Säulen, die den Vorschein eines Vordaches halten-. Zum Bahnhof hin, dessen enorm ausgedehnte Zweckrationalität jeden Mussolini begeistert hätte, spannen sich Hunderte Meter lange Einkaufszentren, die auch in die Tiefe langen und sehr hallen, wenn niemand drin ist. Verschlafen aber ein Supermarkt offen.
Ich erreiche das Zentrum, das vor einhundertfünfzig Jahren noch Meer gewesen ist, Teil der Bucht, in einer irren Schinderei von Mensch und Esel, ja selbst die Karren litten, zugeschüttet Stück für Stück, den Ozeanen, beiden, abgerungen, wie man sagt, die sich im Busen dieser Bucht vereinen: dem Indischen, dem Atlantischen. Und auf der Zentralstraße das erste Ständ/lein mit afrikanischem Kunsthandwerk, noch im Aufbau jetzt um zehn. Wenig entfernt der Kunsthandwerks aber schon im tüchtigen Betrieb: Schwarze verkaufen, Weiße kaufen, deutliche Touris, ich gehe Schlangenledergürtel gucken. Werde fündig. Handle. Ah! Hier muß man handeln! Und w i e ich das tue. Endlich Leben.
Hab aber keine Rands mehr. Oh, eine Wechselstube. „Ich nehme auch Dollars, Euros, was immer du hast“, sagt mein Feilschfreund. Dauern, überhaupt: „How are you?“ Und man bleibt, um zu schauen, nie allein, nicht eine halbe Minute. Sofort immer eilen die Verkäufer, „good price, I make best price, come in my shop, what you are lokking for?“ Bei einer jungen tiefdunklen Frau mit rasend schönem Lächeln: daß ich für meinen Sohn nach DEMudnDEM guckte (nach was, schreib ich nicht, er könnte dies lesen und wäre dann nicht mehr überrascht). „Give me fifty rands, and I will bring it to you.“ – Na, das will ich ausprobieren. Drücke ihr den Schein in die Hand, und sie verschwindet.
Ich warte. Es dauert lange. Ob sie auf und davon ist? Sich gedacht hat: was ein naiver Tourist?
Ich warte aber weiter.
Guck mal in die Stände nebenan rein. Komm wieder zurück. Eine halbe Stunde vergeht.
Eine dreiviertel Stunde vergeht. Ich bin schon anderswo und handle. Da tippt sie mir auf die Schulter und zeigt, was sie gefunden hat: „Much more expensive, much more expensive.“ Als ich sage, okay, was sie denn haben wolle – allein, daß sie wirklich zurückkam nach so langer Zeit, um das Geschäft zuende zu bringen, mein Vertrauen zu bestärken, alleine daß wäre mir einen überhöhten Preis wert gewesen. Nein, sagt sie, wir haben gesagt, 50 Rand, also bleibt es dabei.
Stolz ist sie.
Und sie packt das Geschenk ganz sorgfältig ein. Wir geben uns die Hand.
Ach ja, die Wechselstube. „Für hundert Euros bekommen Sie hier 980 Rand“, sagt die Frau hinter dem Schalter. „Wie bitte? Was ist denn das für ein Kurs?“ „Ich würd das auch nicht machen“, sagt sie, „es ist furchtbar teuer.“ Ich überschlage den Kurs. „Normalerweise“, sage ich, „bekäme ich an die 1500 Rand.“ „Ja“, sagt Sie, „deshalb würd ich‘s ja auch nicht machen. Zahlen Sie doch in Dollats.“ „Ja-aber wieso dieser horrende Kurs?“ Sie nickt müde zu den Touristen, die sich bei den Nippeshändlern scharen. „Firmenpolitik“, sagt sie. „Dann zahle ich“, sag ich, „wirklich in Dollars.“ Sie lächelt und gibt mir den Hunderter durch die schmale Durchreiche unter dem Sichtglas zurück. Das war vielleicht nicht im Sinn ihres Arbeitsgebers, aber man muß es einen wirklichen Kundenservice nennen. Wir lächeln uns in die Augen, dann blickt sie auf ihre Arbeitsfläche und fängt etwas zu rechnen an. „Eightyfive Dollars!“ ruft hinter mir der Händler, mit dem ich schon seit einer halben Stunde um zwei Schlangenledergürtel feilsche, beide Kobra. Losgelegt hatten wir bei um die zweihundert.
Aber weg! Bloß weg!
Und überhaupt enorm, was sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten getan hat; Apartheit, an die in der Stadt überall Tafeln erinnern, ist Geschichtegeworden, Mandela überall zugegen. Ich durchstreife den berüchtigten District 6, heute von Backpacker-Hostels durchsetzt, auch teils hochgechict wieder, mach einen weiten Bogen, lange am Autobahnzubringer, unter ihm, muß ich schreiben, bin geradezu mutterseelenallein dort, kehre um, nächste Schleife, das moderne Opernhaus:
Swan Lake, oh je, und Bryn Terfel gastiert in zwei Wochen, den hab ich dauernd in Berlin. Man mag mich erst nichts ins Entrée lassen, vielleicht wegen meiner kurzen Jeans und dem losen Hemd, der nur noch einbügligen Sonnenbrille, den unterdessen halb zerrissenen, zerschrittenen Chucks, aber eine ältere, hochvornehm wirkende Dame möchte ebenfalls hinein, da kann man mich schlecht draußen lassen, A-Train und so, aber ein Programm will man mir trotzdem nicht geben. Kühle, Reserviertheit, die distanzierte Autorität der beiden schwarzen Empfangsdamen; Apartheit gibt es wohl nicht mehr, Klassenschranken aber sehr wohl. Macht nichts, der Spielplan ist nicht verlockend. Wieder raus. Ich seh Busse, diese kleinen flinken Verbindungsziegen, Hunderte, da oben auf dem Platz, na wär doch gelacht. Und tatsächlich: Das ist dann Markt, sind Buden an Buden, Sonntagsleben dazwischen, man liegt in den Buden, sitzt in den Buden zwischen den Waren, und allüberall schwarze Friseurinnen, die Rastalocken drehen, aber zum Zeitvertreib, scheint‘s und weil man eh nichts andres zu tun hat; paar Jugendliche lungern in der Sonne, es rappt heftig aus einer Baracke, die voller Sonnenbrillen hängt, draußen Kosmetikartikel, am Rand die Busse, noch etwas weiter weg die Geleise des Bahnhofs. Durch eine Mall wieder ins Zentrum, zu den Gardens, vorbei am Nationalmuseum, in den Gardens etwas spaziert, allmählich werde ich müde. Setzte mich gerne nach draußen in ein Café, finde aber keines. Das offene im District 6 war voller Weißer, nur Weiße, wirklich, Popbeschallung, eine MacDonalds-Edelversion, im Zentrum die Cafés entweder zu oder Touristennepp oder – drinnen. Worauf ich nun gar keine Lust hatte, da geh ich besser aufs Schiff zurück und sitz noch etwas am Achterdeck bei einem Campari mit Soda. Dennoch, ich wiederhole es: eine nicht nur angenehme, nein schöne Stadt. Und als ich die Händlerin fragte, was man für „Thank you“ in ihrer Sprache sage, antwortete sie: „Merci“. Da hatte ich meine Lehre des Tages.
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Wir sind zurück auf See, sind in den Atlantik eingefahren und schwimmen gen Namibia ruhig nach Norden. Land ist aber keines zu sehen. Schlierwolken, dicht, bedecken den Himmel, bisweilen glüht die Sonne da durch. Dann petzt mir die See die Augen zusammen.