Über den Äquator ODER Von El Q‘ar. PP159: Am neunundzwanzigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Dienstag, der 29. April 2014.

(9.02 Uhr, i.e. 11.58 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
9º27‘ N/17º47‘ W.
Kurs 349º N.
Sonne mit leichter Bedeckung.)

Ich bin noch immer betrunken. Heute nacht um Viertel nach eins schwammen wir bei 17º westlicher Länge über den Äquator. Ich hatte meine Command-Application aufgerufen und zählte die letzten Raumsekunden, deren jede bei unserer Geschwindigkeit etwa dreieinhalb Zeitsekunden entsprach, abwärts. Bei „Null“ ließ ich den Korken springen.
Wir waren nur noch zu zehnt/elft. Als offizielle Bekundung war ausgegeben worden, und so steht es auch im Tagesprogramm, wir überschwämmen ihn morgens um sechs; vielleicht wollte man nicht so spät nachts noch die Passagiere herumspringen haben. Seien wir freundlich und halten es für einen, das Dienstpersonal im Auge, menschlichen Fake. Wie auch immer, wer noch an Deck saß, bekam ein Glas. Überdies hatte eine der Sängerinnen Geburtstag; die kleine Truppe saß eh noch da. Aber auch der retirierte Journalist, Mr. Hemingway, in Begleitung eines mittlerweile Freundes, sowie dessen Frau. Überrascht sahen sie, die sich immer gedämpft unterhalten, als grüben ihre Hände in einer eigens zu diesem Behuf hervorgeholten, ansonsten aus gutem Grund verborgen gehaltenen Truhe, auf, also sahen sie, als ich die Gläser vor sie stellte.
Das Kreuz des Südens hatte sich verborgen, es fing um zwei Uhr zu regnen an, sogar, aber wie aus heißen Duschen, einer ganzen Reihe ihrer Köpfe, die nachtropfen. Nichts da war zu tun, als die Elektronik ins Trockne zu bringen. Auch stand ich einige Zeit nur für mich, nachdem ich, unmittelbar nach der Äquatorüberfahrung dem Profi, der doch Segler ist, eine Email geschickt hatte. Das Internet funktionierte, es war kaum zu fassen. Möglicherweise liest er sie in eben diesem Moment.
Die Löwin, aber, sicher schlief.
Ich sah aufs Meer und dachte, spürte: immer spüren daß man Geschlecht ist. Fest umklammert der Cockring die Wurzel von Hoden und Schwanz: um stets zu erinnern. Weshalb und genau an was, erzähle ich hier nicht, allein schon aus Gründen des Jugendschutzes. Wobei der, in den Zeiten des Internets, lächerlich geworden ist, ja bizarr: Die jungen Leute wissen mehr als wir, schon längst. Als die meisten von uns. Was wir schützen, ist unsere eigene Vorstellung, dessen nämlich, wie Jugend sei, bzw. sein solle. Der Jugendschutz schützt die Alten vor dem Begreifen, was sie verpaßt haben, woran sie vorbeigelebt haben, denkt Lanmeister unvermittelt, wie er da steht an der Reling und sich Gedanken über den Schein macht. Auch der Äquator ist ja einer, ist eine Festlegung, der keine Realität entspricht, uns aber – Realitätskraft der Fiktionen – zur Orientierung befähigt. Aber die Topologie der Seele hat sich, anders als die unsrer Erde, verändert. Das ging so schnell vonstatten, daß man von einer, in erdgeschichtlichen Dimensionen gedacht, Mutation sprechen muß; deshalb kommen die Alten auch nicht nach, kaum mehr mit. Einige schon, das ist wahr, aber nicht viele. Und die meisten, anstelle daß eine geruhsame Folge der Zeiten es ihnen verbirgt, bekommen es mit. Das macht ihnen Angst g a n z zurecht.
***

Andererseits.
In den Legenden von El Q‘ar heißt es, dritte Pergamentrolle, Allah habe um die Erde, wo sie am stabilsten sei, eine Schnur gezogen, die sich so tief eingeschnitten, daß sie feste genug, seine Schöpfung an einem Zügel zu halten, einem mit drei Enden, zwei Parabeln mithin, die zum einen aus Jerusalem lange, zum anderen aus Mekka; der dritte Fixpunkt indes, der am Äquator, ist verborgen. Auch die Dritte Rolle nennt ihn nicht, die ich, Albano Ben Nemsi, vor fast drei Jahrzehnten in Kenia nicht in die Hände, das wäre Blasphemie gewesen, aber vor die Augen bekam: und auch das schon war, für einen Giaur, nicht ohne Frevel. Jedenfalls, erzählt die Legende, sei Buraq, der Rappe der Propheten, auf eben einem dieser Zügelstränge von Al Aksha hinauf, im Galopp, in den Himmel geritten. Und alle Gerechten stiegen, heißt es, ebenfalls dort, sowie auf den andern zwei Strängen in die paradiesische Heimat zurück.
Die Rolle, erfuhr ich, hätten ehemalige Sklavenjäger nach Kenia gebracht, um ein Versteck bemüht für sie. Ein Massai versprach ihnen, und dafür ward er frei, das beste der Verstecke – und legte sie offen in die Savanne. Sie ist, die Legende, und um sie hier zu beschließen, in einer arabischen Schrift notiert, die man nicht lesen, nur singen kann. Einige sagen, doch der Allmächtige, der hier gelobt werden muß, verzeihe ihnen die Anmaßung, es stamme daher die Idee des Korans, also der Rezitation. Wir wissen, daß das nicht sein kann, aber ahnen, daß es so ist. Der Prophet selbst, deshalb muß man von Lästerung sprechen, hat dazu geschwiegen. Wenn einer fragt, was Zen sei, und der andere antwortet, so wissen es beide nicht.

(9.35 Uhr).

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(Ich gehöre zu den Lästerern, aber solchen voll Liebe, eh: Für mich ist die Gottheit weiblich. Eben darum ist es so wichtig, Geschlecht zu sein. Man betete sonst nur sich selbst an,
dachte ich und sag auf die See, die mich zog. Unfaßbar gewaltig zog. Wenn du jetzt springst, dachte ich und empfand es so sehr, daß ich von der Reling zurücktreten mußte, holst du das Schiff niemals mehr ein. Aber gehst auch nicht einfach so unter, sondern der Lebenshunger wird dich schwimmen lassen und schwimmen, bis die Kraft erlahmt. Du spürst sie allezeit saugen, da muß gar kein Hai sein, den‘s hungert. Selbst wenn du drei Tage durchhältst, dich nur treiben läßt irgendwann, wird dich die Sonne ausdörrn, und überhaupt: du wirst verbrennen unter ihr, die Haut wird platzen, blasig, bis dir der Schmerz die Sinne nimmt.
Ich trat wieder an die Reling heran. Aber sie war noch immer da, die Sucht, mich hinabfallen zu lassen. Ich spürte die Wärme dieses Meeres mich umschlingen, trat endgültig zurück, begab mich wieder zu den anderen und trank weiter. – Kennen Sie das, dieses Bedürfnis, wenn man über Wasser geht, etwas, das einem ganz lieb ist, einfach los- und wegzulassen? Halb zog sie ihn, halb sank er hin, hat Goethe das beschrieben. Das Ich, das mir lieb ist, das Aufnahmegerät, das mir lieb ist, das Ifönchen, das mir lieb ist: nur loslassen, und für immer, immer, immer wird es davonsein.)
***

Ich hatte mich abends entschlossen, draußen zu schlafen, an Deck. Dann war ich zu betrunken dafür. Und zu sehr von dem Sog gefaßt, um es zu wagen.
***

Ich liebe das schwarze glatte, wenn es geölt ist, Haar der Frauen,
geölter, den mulmen Duft ihre Schoßes, wenn er sich öffnet
heimlich und gegen ihre Willen –
Und zuvor die Armbeuge K.‘s, da sie spielte. Das Muskelchen (musculus:) Mäuschen vor der Elle: wie ein weißes festes Fleisch von Hähnchen, in das man hineinbeißt. Während ich zugleich an Ascension zurückdenke, zurückdenken muß, immer und immer wieder, und an den Befund, es schütze das Todesequipment das Leben. Gewissermaßen würde man nicht, wenn man die Auflagen übertritt, vermeintlichen Ausspionierens, nämlich der Militäranlagen, wegen verhaftet, sondern tatsächlich, weil man die Natur ausspioniert. Und wieder: Blasphemie. Denn es wäre ja wahr.
***

Drei weitere Seetage, bis wir Cabo Verde erreichen werden, liegen noch vor uns. Aber wenn ich nach achtern zurückseh, von meinem nun schon gewohnten Arbeitsplatz, habe ich das Gefühl, bereits daheim zu sein oder doch wenigstens: Ihnen schon nahe, Leserin. In diesem Bewußtsein erhebe ich mich, räume meine Sachen zusammen, klappe den Laptop zu und trage alles zur WiFi-Station in der Hoffnung, daß ich den Text ins Netz bekomme. Das sollte bis elf Uhr geschafft sein, bei Ihnen: bis eins. Denn danach wird hier die Überfahrung des Äquators gefeiert, mit BBQ und schon wieder Alkohol, und mit Tanzeinlagen und einem Poseidonthron, auf den sich die Passagier ganz sicher setzen sollen, Paar für Paar, um sich abermals fotografieren zu lassen. Sind ja nun alles >>>> Shellbacks.

(Buffalo Bill Cody ist ebenfalls an Bord, übrigens. Und wenn ich das offne Deck verlasse und hineingeh, fang ich an zu – frieren. „That is y o u r weather, isn‘t it?“ begüßte mich vorhin eine untersetzte, vor Leben normalerweise hüpfende Frau, und als ich ich bejahte: „Go, hurry – go away!“ Wobei sie scheltend lachte.)

(10.18 Uhr.)

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2 thoughts on “Über den Äquator ODER Von El Q‘ar. PP159: Am neunundzwanzigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Dienstag, der 29. April 2014.

  1. „Shellbacks“. Seeleute, die den Äquator überfahren haben, werden „Shellbacks“ genannt; wer es auf dem 180. Längengrad tat, heißt ein „Golden Shellback“, und wer auf dem ersten, der ist ein „Royal Diamond Shellback“.

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