Wolfskrank: Zweiter Seetag nach Cabo Verde. PP163: Dreiunddreißigster auf den vierunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Sonnabend, den 4. Mai 2014.

(9.15 Uhr, i.e. 10.15 Uhr Ihrer Zeit.
MS Astor, oberes Achterdeck.
24º29‘ N/19º05‘ W.
Kurs 7º N.
Quellbewölkung und Schlieren.)

„Gestern um diese Zeit war es schon zehn“: solche Absurditäten zu sagen, bin ich bei unseren ständigen Zeitumstellungen geneigt; jedenfalls dachte ich diesen Satz grade und meinte ihn tatsächlich ernst. Dann fiel mir ein, daß heute mein Bruder 57 Jahre alt geworden wäre, hätte ihn das Wildwasser nicht schon mit vierzig weggeholt. Im Arabischen, las ich bei Rückert, Makamen des Hariri, sei Hunger die Wolfskrankheit genannt. Unter der leidet an Bord gewiß keiner. Doch gestern abend saß die alte schwere Dichterin ganz stumm vor dem Fenster und sah lange Zeit hinaus. Das begab sich, bevor C* ihren ersten Auftritt hatte, rauchig und mit Soul; der Captain‘s Club war knallevoll. Ich ließ meinen Sport dafür sausen. Und nach dem Dinner, das ich, wenn ich da esse, immer für mich alleine nehme, nämlich alleine draußen noch, abgesehen von dem schweigsamen Clochard in seiner Raucherecke, nach dem Dinner also sang A* Frank Sinatra. „Zu sauber, da fehlt Schmutz“, sagte ich später, und so empfand ich‘s. Gute Musik braucht die Sünde. Zum Beispiel doch wenigstens dies: daß man raucht, auch wenn es verboten ist. Sinatra hat geraucht, gehurt und gesoffen. Von der Mafia schweig ich mal besser. Aber darüber ging dann auch nachts das Gespräch, seitlich der Hansebar. Ich hatte den in Cabo Verdes Gemüsemarkt gekauften Ziegenricotta, den ich an Bord schmuggeln mußte, aus der Kabine geholt und mit dem ebenfalls hereingeschmuggelten frischen Knoblauch auf den Tisch gestellt. Man darf keine verderblichen Lebensmittel mit aufs Schiff bringen, erfuhr ich noch vor meinem Marktgang. Das fügte sich in unser Gespräch. Und alle griffen zu. Wie aus der Reinheit niemals etwas entsteht, keine Kunst, kein nächstes Leben, eben so wenig aus Vorsicht. Als Lanmeister sich nach der Reinheit sehnt, begreift er im selben Moment, daß er nun stirbt. Und derjenigen, der seine verzichtsvolle Neigung gilt, wünscht er, sie möge quer übern Kabinenboden wundgevögelt werden, und wundgescheuert. Er wünscht es ihrem Klavierspiel. Geschrieen haben, zerrissen worden sein, was sich dann in der Musik, doch nun transzendiert, wieder zusammenfügt. Es spielt keine Rolle, welche Art von Musik es ist. Wenn mir auf dieser Reise etwas klar geworden ist, dann, daß mein Sterbebuch zugleich ein Gesang für das Leben sein muß; die Utopie des menschlichen „Davongehens“, die mir von Anfang an im Sinn lag, ist aus der Bereitschaft zum Abschied allein nicht zu gewinnen, nicht aus dem Einverständnis mit dem Tod, sondern nur aus dem mit dem Leben. Die Wolfskrankheit gibt es auch in übertragenem Sinn. Wenn ich, notierte ich gestern, als Schriftsteller nichts anderes wäre als ein Zeuge von Leben, nur dieses, und hätte nicht ein einziges Buch zuwege gebracht, aber dieses eben d o c h: erzählt, wie man lebt, während ich lebte – es wäre, ob und wie geformt oder nicht, gelungene Literatur. Dies ist das, dachte ich, künstlerische Recht Der Dschungel. Dafür braucht es nicht mal eine Geschichte. Ich notierte dies zu Zarah Leander. Zu leben bedeutet nun eben nicht, sich „aufzubewahren“, „aufzusparen“ und insgesamt vorsichtig zu sein, sondern sich zu verausgaben. Dazu gehört die Übertretung von Regeln und bisweilen sogar der Gesetzbruch, in jedem Fall Schuld. Aber auch Reue, manchmal Scham. Doch schon der nächste Wolfskrankheitsanfall. Ah ja!: – erzählte ich schon, daß ich nach über dreißig Jahren wieder gekifft hab? Ich sag nicht, wo, bei welcher Gelegenheit, es waren ja Inseln genug, und ich schlug sie nicht aus. Die alte Technik: tief durch die gehöhlte Hand inhalieren; ich legte es aufs „stoned“Sein regelrecht an. Daß ich dennoch vom Gras gar nichts merkte außer dem unangenehm trockenen Mund, spielt keine Rolle; auch, als ich wieder an Bord war, merkte ich noch nichts, und ebenso wenig, wie früher, am Tag nachher. Sondern es ging darum, nicht neinzusagen, ging um den Bruch meiner eigenen Regeln. Nicht in sich selbst gefangen sein, das ist das allerschwerste. Wenn man in Freiheit lebt.
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5 thoughts on “Wolfskrank: Zweiter Seetag nach Cabo Verde. PP163: Dreiunddreißigster auf den vierunddreißigsten Tag der Großen Fahrt zur See. Sonnabend, den 4. Mai 2014.

  1. Das „in sich selbst gefangen sein“: Haben Sie zufällig einmal Wilson van Dusen gelesen? Er war Psychologe, Schüler von Swedenborg und hat – unter anderem – über das „autre moi“ geschrieben, das andere Selbst. Womit er ein inneres meinte, das dem so genannten „Ich-Bewusstsein“ als nichtgewusste Seinsform gegenübergestellt ist: ohne dessen Spiegel zu sein. So wie ich es verstehe, ist dieses autre moi eben jener Persönlichkeitsanteil (- falls man in diesem Zusammenhang überhaupt von „Persönlichkeit“ sprechen kann, da etwas gemeint zu sein scheint, das Grenzen weit weniger kennt als das „Ich“ – ) derjenige, der sich über die Fesseln des vermeintlichen „Selbst“ hinwegsetzt.

    Hm. Klingt wahrscheinlich ziemlich schräg. Ich zitiere einmal, vielleicht kann van Dusen selbst es klarer machen:

    (…) „Das Ich sieht seine Handlungen voraus und wählt sie aus. Sie haben eine sofortige Bedeutung für das Ich. Im Gegensatz dazu wirkt das autre moi überraschend, wird nicht vorausgeahnt, und es ist nicht mehr offensichtlich, dass eine Wahl stattfindet. Auf das Ich wirkt es mehr oder weniger fremdartig. Was das Ich tut, hat sofortige Bedeutung für es selbst. Die Taten des autre moi scheinen sinnlos oder schwer in brauchbare Bedeutungen übertragbar.“ (…)

    (…) „Ich kann nicht erfassen oder wirklich wissen, wie meine Gedanken gedacht werden. es ist klar, dass Gedanken aus Gefühlen entstehen und man kann Gefühle schwerlich selbst formen. Sie sind aber das stützende Rückgrat des Gedankens sowie Schlüssel zu seiner Bedeutung und seiner Verwendung. Das Gefühl scheint die Wurzel zu sein, aus welcher der Gedanke kommt.“ (…)

    (…) Der Kreislauf der Gedanken wird noch mysteriöser, wenn man versucht, das Denken einzustellen. Dann wird es offensichtlich, dass die Gedanken, die wir unserer Gestaltung zuschreiben, rücksichtslos über uns hinweggehen können und ihren eigenen Tätigkeiten nachgehen.“(…)

    (Aus: „The phenomenology of a schizophrenic existence, Journal of an Individual Psychology“, 1961)

    Keine Ahnung, warum ich Ihnen und Ihren Lesern das schreibe: war wohl ein Impuls meines autre moi …

    Herzlich,
    Madame TT

    1. Bedankt für das autre moi … … klingt sehr nach dem, was ich gern den Schatten nenne. All die verdrängten oder nicht gesellschaftsfähigen Persönlichkeitsanteile, die sich der repressiven Vorherrschaft des Ichs entziehen und sich hinterrücks trotzdem durchsetzen. Ich halte dafür, dass kein Mensch Künstler oder allgemeiner gesagt kreativ sein kann, ohne in die Schattenregionen des einen Selbst hinabgestiegen zu sein. Dorthin, wo auch Dante zu Hause war. Schönen Sonntag noch 😉 Ihr PHG

  2. Schade: Lesefehler!

    – I´m so scanny.

    Ich las, Sie ließen es Lanmeister sich wünschen. Vögel mich wund! Scheuer mich wund! Und ich dachte: Jawoll!!! Denn das ist ja wohl ihr Potenzial. Da kann Einer doch sie mal anflehen. Genau das wäre ihr zu wünschen. Aus meiner Sicht natürlich. Was für einen Sog das hätte, sagte so etwas ein Mann zu mir … Was für ein heller Appeal für einen, der auf sein Leben zurückblickt.

    Sollte es mir nicht widerfahren, lasse ich es Einen sagen!

    1. @readAn: sich scheuern lassen wollen. Ich verstehe gut, was Sie schreiben. Nur ist Lanmeister ein alter Mann, der in gewissem Sinn ohnedies schon wund ist, und zwar so, wie Sie es denken, nur nicht aus seinen erotischen Lebenserfahrungen allein, sondern insgesamt vom Leben:: wund in einem guten Sinn, aber eben einem, der sein Ende möchte. Deshalb würde er das weder sagen, noch könnte er es noch geschehen lassen. Vielleicht erinnern Sie sich an, ich glaube es ist Chabrols Verfilmung der Stillen Tage in Clichy, wo auf dem Sterbebett der alte Mann die Erscheinung eines jungen Mädchens hat, nach dem er ganz hilflos, aber glücklich, noch einmal die Hand ausstreckt. Es ist das versöhnlichste Ende eines Menschen, das ich je gesehen habe. Selbst hier aber wäre ein „Scheuer mich wund!“ nicht mehr möglich, auch wenn es in der letzten Geste enthalten ist: so enthalten, wie ein Blatt zu Boden schwebt, dessen Dasein sich vollendet hat –

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