Also, wenn ich besser aufgepasst hätte, wäre der Grund nicht gerissen? ruft die kleine Löwin schon von weitem.
Der Alte blickt von der Arbeit auf. – Setz dich. Dann schweigt er.
Ich bin hier, murrt sie und tappt auf den Boden.
Aber das weiß ich doch, sagt der Alte. Er beugt sich vor und fährt mit der Zunge über ihre rechte Wange. Siehst du?
– Ieeh, das kitzelt!
Ich weiß genau, wo du steckst, auch wenn meine Augen nicht taugen. Ich hör dich, ich riech dich, ich schmeck dich.
Die Kleine dreht den Kopf weg, doch er lässt nicht von ihr ab. Ich back dich, ich zwack dich, ich lack dich.
Lack dich?
Sonst hätte es sich doch nicht gereimt, oder? Jetzt du.
Ich kreis dich, ich beiß dich, ich reiß dich, schnurrt sie. Also, wie ist das mit dem Grund, warum ist er gerissen?
– Stell dich mal hin, sagt er, hoch mit dir.
– Du legst immer den Kopf schief, wenn du lauschst, wie ein Vogel.
Sein Drohen kommt tief aus der Kehle, doch die Kleine kennt ihn besser.
Antwort, Wandort, Landwort, singt sie. – Ich steh jetzt.
(Als wüsste er das nicht.)
Spürst du den Grund? fragt er. Reiß ihn auf. Er lauscht, während sie die Krallen über den trockenen Lehm zieht.
– Fester.
Er lehnt sich langsam zurück. – Da hast du ihn, Kind.
Den Mundbiss?
Er lacht auf. Schau doch, du kannst ihm nichts anhaben.
– Nur langschaben! Sie kichert. – Also bin ich nicht schuld?
Er sieht dich nicht einmal, sagt der Alte. Hat dich noch nie gespürt. Geh spielen jetzt.
Er sieht mich, er sieht mich nicht, er flieht mich, er flieht mich nicht
Als ihr Gelächter verklingt, streckt sich der Alte aus. Die Sonne steht bereits hoch.
Zeit, zu schlafen.
Kein Lüftchen regt sich, kein Schatten bewegt sich
Kommt nicht mehr heim, mein Ringelreim
.
Wer ist das, „der Alte“?
Ich würde dabei an eine „großväterliche“ Instanz denken.
Das fände ich, wär’s so, enttäuschend.
(Im Alten, auch da, klingt in mir ein Mythisches an, das ich hier angemessen fände.)
Das schlösse einander nicht aus, meine ich und glaube entfernt zu erahnen, was in Ihnen anklingen könnte.
Eine Instanz: meine. Sie ist der Evidenz gewachsen. (Nein, gegen sie.)
Der Satz „Sie ist der Evidenz gewachsen“. will zehnmal laut gesprochen werden, bis sich die hinderliche Wirkung der Evidenz erschließt.
Ω
Oder einmal geflüstert.
gefällt mir schon wieder 🙂 Der Alte ist vielleicht der Herr aller Gründe.
@Berliner Ich hoffe es.
Ich nicht. Ein „Herr“ aller Gründe ist mir zu monotheistisch-patriarchal. Zu viel JHVE, zu wenig >>>> Dianamaria.
Das wiederum ist m i r zu schmal betrachtet. Dem „monotheistisch-patriarchalen“ [Feudal]Herrn kommt auch die Gewährleistung des Schutzes zu. Weil’s aber der angerufenen inneren Instanz entspricht, mag darin eine [Be]Stärkung von Autonomie erkannt werden.
@Albannikolaiherbst, lächelnd: Über den Herrn sprechen wir ein anderes Mal.
@Textflüsterer Sie ist da. Ich komme nur nicht zu ihr durch; jemand hat von innen abgesperrt. Falls meine Beschwörungen nichts bewirken, muss ich das Schloss aufbohren. Kein schöner Gedanke.
@die Löwin Das Bild der Krallen der kleinen Löwin, den Grund langschabend, und jene ausgewachsenen, Furchen grabenden vor Augen, denke ich an Zugbewegungen: von dort nach hier. Nicht selten aber führt das Gegenteil, die Schiebebewegung (oder auch simpler Druck), zu überraschenden Ergebnissen. Ganz besonders, wenn eine Tür im Spiel ist.
Das Moment neutralisieren.
Verharren, den Zeitpunkt erwarten.
Den peitschenden Schwanz zur Ruhe bringen.
Dann.
Mit gespannter Haltung und sehniger Kraft.
Sich erheben.
In neue Richtung streben.
Ω
Ringelreim
Warm und kuschelig fühlt sich der Text an im ersten Darübergleiten, wie eine liebliche Kindergeschichte. Ich nehm‘ ihn in den Arm, wiege ihn und lass‘ ihn zu mir sprechen. Eine raue Textzunge schlabert harmlos an meinem Kinn. Ich mache mich glauben, der Alte sei ein stattliches Exemplar des Panthera leo, welcher des Kindes magisches Denken mit spielerischer Leichtigkeit entschärft.
Dabei tut sich ein tiefer Blick auf in die Serengeti.
Der Text steht nicht für sich allein. Er nimmt Raum in einer neu entstandenen Landschaft und verbindet sich mit ihr über die Reime. Komplementärevidenz breitet sich aus. Wie eine feine Staubschicht legt sie sich auf die bereits vorhandene, ohne sie zu entstellen, sie unkenntlich zu machen.
Große Erzählkunst, das.
Der kleinen Löwin nachgeflüstert:
Kein Lüftchen regt sich, kein Schatten bewegt sich
Komm nicht mehr heim, lieb Ringelreim
Zieh‘ hin
Ω
@Textflüsterer Lasierungen: Das gefiele mir. Wenn man beim Streifen durch ein Textgebilde auf ein anderes und noch ein anderes durchschauen könnte. Wie beim Malen. Davon bin ich (noch?) weit entfernt, doch das wäre die Erzählkunst, die ich gerne hätte. Ohne groß. Einfach in sich stimmig.
(„Komplementärevidenz“. Klasse Wort.)