Viel und oft habe ich über Paulus Böhmer, den älteren Freund, geschrieben, auch in Der Dschungel zuweilen, zuletzt >>>> dort, doch vor allem in den Neunzigern, als wir oft, es war meine Frankfurtmainer Zeit, die Köpfe zusammengesteckt haben, nicht selten von Lydia, seiner Frau, umsorgt und bekocht, die seine schweren Jahrzehnte tief begleitet hat; manches Glas haben wir miteinander geleert, uns auch schon mal gestritten, was bei solchen wie ihm und mir recht heftig werden kann. Wir saßen als Ratgeber für junge Autoren unter Dieter Betzens, meines Wahlvaters, Ägide miteinander im Jungen Literaturforum Hessen, einem Pool, aus dem unterdessen wichtige Figuren der deutschen Gegenwartsliteratur gestiegen sind, Ricarda Junge, Thomas Hettche, Jan Volker Röhnert, Maike Wetzel, einige weitere mehr; sie alle haben ihm manches zu danken. In Böhmers Garten, den er unterm Goetheturm damals noch pflegte, trafen wir uns, er und ich, im Schuppen mit einer imaginären Marika Kilius, die wir dort tagelang noch sehr viel imaginärer interviewten; die Axt stand im Fenster:
Wir lasen uns nachts gegenseitig vor, ich häufiger ihm als er mir; er zog es meist vor, mir kopierte Schreibmaschinenseiten zu geben. Dann diskutierten wir, das war nahezu immer prinzipell – wie der gesamte Mann prinzipiell ist, und so seine Dichtung.
1983 oder 84 lernte ich ihn kennen, auf einer Versammlung des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS), dem ich seinerzeit noch angehörte. Es war die Bernt-Engelmann-Zeit des Verbandes; die Aussitzmentalitäten der, mehr oder minder, marxistisch sitzungsgeschulten Funktionäre machten solche Zusammenkünfte furchtbar ermüdend, auch meistens fruchtlos. Imgrunde nahmen wir beide daran teil, weil wir irrerweise hofften, in diesem, ich schreib jetzt mal, Kreis auf poetisch Gleichgesinnte zu treffen. Jedenfalls trat nach der Versammlung ein riesiger breiter Mann auf mich zu, streckte die Hand aus und sagte: „Endlich jemand, dem es um Literatur geht.“
Paulus Böhmer hatte da schon Geschichte, hatte mit Uve Schmidt, es waren die brodelnden RAF-Jahre gewesen, in die bohème Gruppe um Günter Bruno Fuchs gehört und im heute legendären März-Verlag ein erstes Bändchen veröffentlicht; doch seither war er quasi untergegangen. Seine nächsten Bände erschienen bei Draier und anabas und blieben ignoriert, wurden allenfalls spärlich besprochen, etwa von dem beharrlichen Jürgen Linke. Wir waren wirklich nicht viele, die begriffen, welch ein Werk da vor unseren Augen entstand. Es gab Momente, in denen ich dachte, es darf nicht abermals ich sein, der drüber schreibt, und Linke halt, wir beide in die Öde rufend. Damals malte Böhmer noch, das heißt, er fertigte Collagen, die teils ebenso riesenhaft waren wie er selbst und mit bunten kommunizierenden Röhren vermalt:
Im Zentrum seiner Bilder wie seiner Dichtung stand immer die Sexualität. Gerade das hat man wenig gemocht.
Ihn verbitterte das, zunehmend. Er konnte tatsächlich tun, was er wollte, immer stieß er auf Mauern, auf das Mauern. Als ich nach Berlin ging, bekam ich es schließlich nicht mehr nur indirekt mit: in den Literaturinstitutionen nur gerümpfte Nasen, abfällige Bemerkungen, Ignoranz. Tatsächlich hat sich Böhmer nie und nirgends eingeschleimt; ihm lag und liegt es nicht, sich zu beugen. Abgesehen von den letzten Jahren, ging er fast zweieinhalb Jahrzehnte davon aus, vergessen zu werden. „Es ist alles nicht wichtig“, wurde sein ständiger Satz, „alles ist nichts.“ Er durchzieht, aber mit großer Trauer, seit den Kaddish-Büchern sein Werk, das insgesamt eine glühende Trauerarbeit ist und insistierendes Gedenken.
In diesem Jahr, im April, wird er den wichtigsten deutschen Lyrikpreis erhalten, den es gibt.
Paradoxerweise mußte das Internet dafür entstehen, das er haßte, dann verachtete und schließlich grollend akzeptiert hat, ohne es freilich, weiterhin, zu nutzen. Und es mußte eine ganz neue Generation, die sich über dieses Medium schnell austauscht, von Lyrikern werden, denen die Vorbehalte namentlich des Literaturbetriebs am, um es deutlich zu sagen, Arsch vorbeigingen. Für sie und ihre Arbeit wurde er zum Großen Alten Mann der modernen deutschen Dichtung, als der er fortan dastehen wird. Mit kleinen Schritten, namentlich durch Jan Volker Röhnert, begann es, aber sie wurden entschieden gesetzt, und weitere Junge, gemeinsam, legten das Ruder herum.
Das kommt, persönlich, ein wenig viel zu sehr spät. Da ist nun eine schwere Leidensgeschichte; kein Erfolg wird ihre Spuren wieder tilgen; Böhmers oft harte Wutausbrüche – eine Folge anhaltenden Mißerfolgs -, seine depressiven Zerknirschungen, sein Mißmut haben ihn gezeichnet, aber auch seine poetische Unerbittlichkeit und das poetische Beharren: sein Werk gegen jeden Widerstand weiterzuschreiben, auch wenn er oft – oh sehr oft! – alles, alles hinwerfen wollte und nicht selten suizidal war. Es ist keine Frage, daß ihn der deutsche Literaturbetrieb geschädigt hat, und zwar bewußt, ja absichtsvoll, sowohl in der Seele wie der körperlichen, einer gesundheitlich schließlich höchst heiklen Verfassung. So gesehen, ist diese Preisvergabe eine Wiedergutmachung – von etwas indes, das sich wiedergutmachen nicht läßt. Ich habe beobachtet, wie die sich langsam einstellenden Ehrungen der letzten Jahre und die Bewunderung, die Böhmer nun von den jungen Lyrikerinnen und Lyrikern entgegengebracht wird, ihn fast gar nicht richtig erreichen; jedenfalls nimmt er sie skeptisch zugegen, mit einem müden Abwinken fast, anstelle über sie so froh, ja glücklich sein zu können, wie es bei jüngeren der Fall wäre und ist, wenn sie noch auf der Höhe ihrer Kraft stehen oder erst noch zu ihr hinaufsehen.
Dennoch symbolisiert diese Preisvergabe Hoffnung – vielleicht gar nicht mehr für Böhmer selbst, doch für alle, die sich nicht unterkriegen und sich nicht unter Doktrinen und ein ob politisches, ob poetologisches Marktverdikt beugen lassen wollen. Deshalb ist der Symbolwert dieser Preisvergabe sogar ein Fanal – gerade in einer Zeit, die der passepartouen Geschmeidigkeit huldigt und den Widerstand, den politischen wie poetischen, für obsolet erklären will. Mit Paulus Böhmer wird er selbst, der poetische Widerstand, geehrt, in quasi dessen Auftrag der Mann am kommenden 3. April ans Staufener Pult treten und Danke sagen wird. Dieses zu tun aber – wäre an u n s:ANH, 22. Januar 2015.
Berlin.
Und kein Kranich erwacht mehr
schreiend in Wiesen, als würde man erdrückt
von etwas Seltenem, glaubte, daß etwas
über einen komme wie der anorganische Schlaf
der Steine, wie Verfahren, deren Geräusche manch-
mal noch durch die Mauern der Engelsburg dringen.
(Im Herz der Dinge,
erzählte mein Vater,
finde die Wissenschaft nur einen ver-
rückten, niemals endenden Tanz von
Schildkröten-Wellen und Griffin-Teilchen.)
Und es stirbt das große, das schöne, das wundervolle
gottfürchtige Warschau. Die Trümmerwolken
der Super Nova stoßen ins Leere.
Daß ich Dich niemals wiedersehen werde.
***
1983 oder 84 lernte ich ihn kennen, auf einer Versammlung des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS), dem ich seinerzeit noch angehörte. Es war die Bernt-Engelmann-Zeit des Verbandes; die Aussitzmentalitäten der, mehr oder minder, marxistisch sitzungsgeschulten Funktionäre machten solche Zusammenkünfte furchtbar ermüdend, auch meistens fruchtlos. Imgrunde nahmen wir beide daran teil, weil wir irrerweise hofften, in diesem, ich schreib jetzt mal, Kreis auf poetisch Gleichgesinnte zu treffen. Jedenfalls trat nach der Versammlung ein riesiger breiter Mann auf mich zu, streckte die Hand aus und sagte: „Endlich jemand, dem es um Literatur geht.“
Paulus Böhmer hatte da schon Geschichte, hatte mit Uve Schmidt, es waren die brodelnden RAF-Jahre gewesen, in die bohème Gruppe um Günter Bruno Fuchs gehört und im heute legendären März-Verlag ein erstes Bändchen veröffentlicht; doch seither war er quasi untergegangen. Seine nächsten Bände erschienen bei Draier und anabas und blieben ignoriert, wurden allenfalls spärlich besprochen, etwa von dem beharrlichen Jürgen Linke. Wir waren wirklich nicht viele, die begriffen, welch ein Werk da vor unseren Augen entstand. Es gab Momente, in denen ich dachte, es darf nicht abermals ich sein, der drüber schreibt, und Linke halt, wir beide in die Öde rufend. Damals malte Böhmer noch, das heißt, er fertigte Collagen, die teils ebenso riesenhaft waren wie er selbst und mit bunten kommunizierenden Röhren vermalt:
Im Zentrum seiner Bilder wie seiner Dichtung stand immer die Sexualität. Gerade das hat man wenig gemocht.
Ihn verbitterte das, zunehmend. Er konnte tatsächlich tun, was er wollte, immer stieß er auf Mauern, auf das Mauern. Als ich nach Berlin ging, bekam ich es schließlich nicht mehr nur indirekt mit: in den Literaturinstitutionen nur gerümpfte Nasen, abfällige Bemerkungen, Ignoranz. Tatsächlich hat sich Böhmer nie und nirgends eingeschleimt; ihm lag und liegt es nicht, sich zu beugen. Abgesehen von den letzten Jahren, ging er fast zweieinhalb Jahrzehnte davon aus, vergessen zu werden. „Es ist alles nicht wichtig“, wurde sein ständiger Satz, „alles ist nichts.“ Er durchzieht, aber mit großer Trauer, seit den Kaddish-Büchern sein Werk, das insgesamt eine glühende Trauerarbeit ist und insistierendes Gedenken.
In diesem Jahr, im April, wird er den wichtigsten deutschen Lyrikpreis erhalten, den es gibt.
Paradoxerweise mußte das Internet dafür entstehen, das er haßte, dann verachtete und schließlich grollend akzeptiert hat, ohne es freilich, weiterhin, zu nutzen. Und es mußte eine ganz neue Generation, die sich über dieses Medium schnell austauscht, von Lyrikern werden, denen die Vorbehalte namentlich des Literaturbetriebs am, um es deutlich zu sagen, Arsch vorbeigingen. Für sie und ihre Arbeit wurde er zum Großen Alten Mann der modernen deutschen Dichtung, als der er fortan dastehen wird. Mit kleinen Schritten, namentlich durch Jan Volker Röhnert, begann es, aber sie wurden entschieden gesetzt, und weitere Junge, gemeinsam, legten das Ruder herum.
Das kommt, persönlich, ein wenig viel zu sehr spät. Da ist nun eine schwere Leidensgeschichte; kein Erfolg wird ihre Spuren wieder tilgen; Böhmers oft harte Wutausbrüche – eine Folge anhaltenden Mißerfolgs -, seine depressiven Zerknirschungen, sein Mißmut haben ihn gezeichnet, aber auch seine poetische Unerbittlichkeit und das poetische Beharren: sein Werk gegen jeden Widerstand weiterzuschreiben, auch wenn er oft – oh sehr oft! – alles, alles hinwerfen wollte und nicht selten suizidal war. Es ist keine Frage, daß ihn der deutsche Literaturbetrieb geschädigt hat, und zwar bewußt, ja absichtsvoll, sowohl in der Seele wie der körperlichen, einer gesundheitlich schließlich höchst heiklen Verfassung. So gesehen, ist diese Preisvergabe eine Wiedergutmachung – von etwas indes, das sich wiedergutmachen nicht läßt. Ich habe beobachtet, wie die sich langsam einstellenden Ehrungen der letzten Jahre und die Bewunderung, die Böhmer nun von den jungen Lyrikerinnen und Lyrikern entgegengebracht wird, ihn fast gar nicht richtig erreichen; jedenfalls nimmt er sie skeptisch zugegen, mit einem müden Abwinken fast, anstelle über sie so froh, ja glücklich sein zu können, wie es bei jüngeren der Fall wäre und ist, wenn sie noch auf der Höhe ihrer Kraft stehen oder erst noch zu ihr hinaufsehen.
Dennoch symbolisiert diese Preisvergabe Hoffnung – vielleicht gar nicht mehr für Böhmer selbst, doch für alle, die sich nicht unterkriegen und sich nicht unter Doktrinen und ein ob politisches, ob poetologisches Marktverdikt beugen lassen wollen. Deshalb ist der Symbolwert dieser Preisvergabe sogar ein Fanal – gerade in einer Zeit, die der passepartouen Geschmeidigkeit huldigt und den Widerstand, den politischen wie poetischen, für obsolet erklären will. Mit Paulus Böhmer wird er selbst, der poetische Widerstand, geehrt, in quasi dessen Auftrag der Mann am kommenden 3. April ans Staufener Pult treten und Danke sagen wird. Dieses zu tun aber – wäre an u n s:
Danke, Paulus.
Berlin.
schreiend in Wiesen, als würde man erdrückt
von etwas Seltenem, glaubte, daß etwas
über einen komme wie der anorganische Schlaf
der Steine, wie Verfahren, deren Geräusche manch-
mal noch durch die Mauern der Engelsburg dringen.
(Im Herz der Dinge,
erzählte mein Vater,
finde die Wissenschaft nur einen ver-
rückten, niemals endenden Tanz von
Schildkröten-Wellen und Griffin-Teilchen.)
Und es stirbt das große, das schöne, das wundervolle
gottfürchtige Warschau. Die Trümmerwolken
der Super Nova stoßen ins Leere.
Daß ich Dich niemals wiedersehen werde.
Ein Junge. Ein Mädchen. Ein Motorrad.
Das Motorrad gewinnt.
Paulus Böhmer, >>>> Säugerleid,
Dielmann, Frankfurtmain 1996.
Paulus Böhmer, Säugerleid
und dort auch eingesprochen,
sowie im März 1997 gesendet.]
nah, fern zugleich, mit der rätsel-
haften Sicherheit der Somnambulen, die sich in
Gesprächen, Gebärden (deren
Ziele ganz ausbleiben), marionettenhaft
wiederholen, ihre rosige Scham vorzeigen,
als lebten sie jenseits der Scham und ohne
zu altern, ganz bei sich.
den bleichen Müttern: Es sind
magere, schlüpfrige Filme, es sind kreischende Austernfischer
in den Rollen einer Stunde, eines Irrlichts, eines Morgensterns,
einer Sonne, während die Steine schon
lange Schatten übers Gras und Grabkammern werfen.
Maschinen der Engel, flüstert Jean Paul,
und nach Menschenblut dürstet die Erde.
Sie aber gab
dem Mann mit dem Mantel
ihr Herz.
ist Erde und Wasser, andres Fleisch, andres Gras.
Ein blitzschnelles Funkeln. Ein Halm in der Ohm.
Über den Himmeln fließt lautlos der Meteorstrom.
liegt Max Morlock unter uns, fünf Fuß.
Bis ans Ende aller Zeiten. Keiner weine.
In den Gedichten Paulus Böhmers erzeugt jedes Gedicht ein nächstes. Niemals gibt es ein Ende, und auch, wenn man dieses Buch zuschlägt, weiß jeder Leser: Um uns herum geht es weiter, weiter. In Böhmers Gedichten reicht das bis in die Mikrostruktur. Wörter paaren sich zu Worten und werfen Formulierungen, Absätze sind physikalisch gefaßte Sozialsysteme. Wer eines Tages über diese Dichtung wird arbeiten wollen, wird es mit der Evolution zu tun bekommen.
ich sah Zellen, die sich teilten, ankoppelten,
verkneteten, einstülpten, aufwölbten, anschmiegten, platzten,
die sich in Gelenke, Arterien,
in Muskeln, Nerven einer Flosse eines Beins,
eines Flügels, in die Milliarden Neuronen,
Synapsen eines Hirns verwandelten, ich
sah die Bewegung,
die Wachstum und Tod mit-
einander verbindet (…)
weht der Abendhauch: Kaddish
für Hänschen Stegmann, Kaddish für Walter Kraft,
Kaddish für die Ozeane in uns, die nur
für kurze Zeit existieren, für Landmassen
einen Brei aus Zitaten.
Paulus Böhmer.
Säugerleid.
axel dielmann – verlag, 1996.
>>>> Bestellen.