[Arbeitswohnung,
8.56 Uhr.]
Ich supervidiere meine Freundin nun seit fast einem Jahr, und die Fälle, in denen wirklich, weil etwas heikel war, einmal zur Vorsicht geraten werden mußte, sind derart verschwindend wenige, daß es sogar mich erstaunt. Beziehungen entwickeln sich, für die die sexuellen Vorgänge – meist feste Settings –, geradezu nebensächlich sind. Immer wieder erzählt Amélie, man habe nachher noch eine halbe Stunde nur gesprochen, teils über die Familien der Kunden, oft über Theater und Oper und Film, bisweilen über Bücher, und alles dies ausgesprochen persönlich. Die tatsächliche Schwierigkeit einer allerdings nicht auf der Straße und nicht aus Not arbeitenden Prostituierten, geschweige einer dazu gezwungenen, besteht vielmehr darin, ihren eigenen Privatraum zu wahren, also die Kundenbeziehung nicht zu einer partnerschaftlichen machen zu lassen. Das genau erfordert die Distanz, die ich – als Supervisor – Amélie herzustellen oder zu halten helfen kann. Es kommt jetzt öfter vor, daß sie Kunden außerhalb des festen Etablissements besucht; dann ist es gut, wenn sie mich zwischendurch in Abständen anruft; ob alles in Ordnung sei usw.
Mehr als daß sie die Kunden erotisch befriedigt, sorgt sie also für ihre seelische Wohlfahrt. Ich erinnere mich, daß das zu meinen Jugendzeiten nicht unbekannt war; selbst meine Großmutter hat sich bisweilen dahingehend geäußert. Aber dieses Wissen ging in den ideologischen Auseinandersetzungen verloren, sollte verloren gehen, weil man offenbar ein Frauenbild institutionalisieren wollte und will, das sich nicht sehr von der marxistischen Idolisierung des idealen Arbeiters als eines „wahren Menschen“ unterscheidet. Die Wirklichkeit ist hingegen komplex und also sehr viel komplizierter. Was allgemein für gut gehalten wird, kann die Wurzel eines argen Übels sein, in das die Menschen aber aus Güte und Emanzipationsgeist wider ihre Anatomie hineingepreßt werden; im Zweifel bricht solche Güte auch Knochen.
Seit gestern abend, Geliebte, denke ich über diese Zusammenhänge wieder verstärkt nach, auch über unsere eigenen realisierten Fantasien, die sich zum Beispiel nicht in festen „klassischen“ Partnerschaften leben lassen, sondern auf Affären angewiesen sind; sie auszuleben kann überhaupt, schreibt auch >>>> Pfaller, die Bedingung der Möglichkeit einer glückhaften Partnerschaft sein, das heißt, daß die strikt durchgezogene Monogamie das monogame Beisammensein zutiefst schädigen kann; gleichsam zerstört sie sich selbst von innen. Sie kann dann nur noch, will man sie wahren, mit zusammengebissenen Zähnen durchgehalten werden und oft unter großen seelischen Schmerzen, was dem eigentlichen Aufwind der Liebe, das ein glückhaftes Aufbäumen ist oder sein sollte, einen Messerstich nach dem anderen versetzt. Schließlich blutet er, der Aufwind, aus und ein dünnes Lüfteln bleibt zurück, an dem sich die ältlichen Paare wärmen: Sentimentalität.
Sie hat sich verliebt, meine Amélie, frisch verliebt, rief gestern an, sie sei versetzt worden, ob ich mit ihr was trinken gehe. Es war wie ein Loch in der Welt, das sie schließen wollte. Dabei ist ihr Rendezvous nur um zwei Tage verschoben. So schockhaft kann sie sein, die Liebe, übernervös, furchtsam und doch voller Energie, die nur darauf wartet, sich zu verschießen. Und auch hier: „Von diesem Mann hätte ich gerne ein Kind.“ – Ich lächelte, freute mich. – „Er hat gesagt, daß es zufällig entstehen soll, er möchte nicht planen.“
Besser geht eine Liebe nicht. Und es tut mir enorm gut, eingeweiht in sie zu werden, sie ansehen zu dürfen und hier und da, wenn nötig oder gewünscht, ein bißchen zu stützen oder ein Weichlein mitzustellen.
Das wollte ich Dir heute morgen schreiben und hab es jetzt getan. So daß ich einigermaßen ruhig an die Überarbeitung des achten Triestbriefs gehen kann. Den siebten schaffte ich gestern. Vieles, was in einer Webpräsenz wie Der Dschungel funktioniert, läßt sich auf ein gedrucktes, also fixes Buch nicht ohne weiteres übertragen; einiges muß sogar ganz weg, das meiste neu gefaßt werden – eine Erfahrung, die ich schon bei den >>>> Fenstern von Sainte Chapelle gemacht habe; sie bestätigt sich aufs neue. Für Germanisten wird es eines Tages spannend werden, die Versionen zu vergleichen. Wahrscheinlich werden sich nicht nur über strukturelle Rezeptionsmodi, sondern auch über ästhetisch notwendige Konstruktionsnormen Aussagen daraus gewinnen lassen. Vor allem sie könnten der Grund dafür sein, daß die Publizierung belletristischer Arbeiten im Netz ein Buch nicht „ersetzen“ kann, dieses aber auch nicht eine Netzpublikation, sondern wir haben es, wahrscheinlich, mit einander zwar verwandten, aber doch wesenhaft verschiedenen künstlerischen Feldern zu tun – und nicht nur in ihrer Wirkung. Dabei dürfte „Unmittelbarkeit“ auf die Seite des Netzes punkten, Distanz indessen auf die des Druckwerks, das heißt, beide Kunstformen gehen verschieden mit Zeit um. So gesehen ist ein gedruckter Roman immer ein historischer, der im Netz veröffentlichte aber utopisch. Hier spiegelt sich Pfallers Idee der Zwei Welten in die Konstruktionsbedingungen von Büchern, was wiederum, Geliebte, bedeutet, daß sich auch die Zwei Welten in einer ständigen Bewegung von Bifurkationen befinden. Aus stilistischer Sicht gesprochen: Die „Wahrheit“ ist bei der Hypo-, nicht bei der Parataxe.
So, neunter Brief.
In Liebe,
A.
P.S.:
Ich nehme heute das Training wieder auf. Mein Körper war stark genug, den grippalen Infekt innert zweier Tage von sich abzuschmettern. Geheizt ist hier nach wie vor nicht, sogar das Fenster steht offen. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, überhaupt nicht mehr anzuheizen, sondern schon jetzt alle Kohleutensilien wieder in den Keller zu schaffen. Mal sehen. (Imgrunde sprechen nur die Frauen dagegen, sollte es in nächster Zeit mal wieder welche geben für mich, und die angesetzten Sauerteige und Bige, deren gutes Gedeihen eine gewisse Wärme braucht. – Auch aus so etwas versuche ich immer wieder, für ganz andere Belange gültige Aussagen zu ziehen. Das ist fast ein Reflex. Physische Prozesse als Manifestationen seelischer. Oder sind es nur „Gleichnisse“?)
Sabine Scho bei FB: >>>> Scho:
weiter mit unterpunkt 2.4 monogame paare und ihr freizeitgestaltung unter besonderer berücksichtigung ihrer regression. alban, bitte, let the komplexität marching in auch in the welt der regressiven ältliche paare. du machst sonst zwingerhaltung draus. und, kennt man ja, das macht beißwütig. man könnte sich ja auch drauf einigen, dass jede form von beziehung einen gutteil störungen produziert. sagt der dings zu mir: symbiosen machen krank – womit er klar recht hat – sag ich zu dem dings: na, ob deine beziehungen so viel gesünder sind, wage ich auch zu bezweifeln, womit ich auch klar recht hab. die welt besteht aus: da ist, was da ist. es ist nicht alles gut oder böse, sondern einfach erst mal da und geworden, aus diesen oder jenen zu ergründenden gründen oder auch ganz geheimnislos mal einfach so. also, deklinieren wir das doch noch mal durch: ich bin gestört, du bist gestört, er sie es ist gestört, wir ihr sie seid gestört. nur hinter den sieben bergen bei den sieben zwergen leben die ungestörten und jeder darf seine störung natürlich auch für die klügere wahl halten, geschenkt. aber, hatte der einstein doch klar recht mit, schwieriger als ein atom ist wohl eine vorgefaßte meinung zu zertrümmern. ich mach mir n button: don t hate me cause i m a monogamous bitch . und, hey, die sonne scheint, nicht draufhauen, heut ist ein guter tag, bei dir auch!
ANH:
Du verkennst etwas. Es geht nicht um Monogamie als eigene Entscheidung, sondern um Monogamie als gesetzte und verlangte Norm. Aber lies einfach Pfaller, dann wird vieles klar. Nur: „oder auch ganz geheimnislos mal einfach so“ ist kompletter Unfug. N i c h t s ist „einfach so“, sondern alles ist b e g rü n d e t; worum es mir geht, ist nach Art und Wesen der Gründe zu fragen und auf sie zu reagieren. Tun wir es nicht, handeln wir letztlich unfrei; psychoanalytisch gesprochen: agieren.
Scho hat doch recht: Alles ist einfach so. Da. Gerade in der Liebe oder in der Kunst. Begründungen konstruieren sich dann immer nur in den Hirnen hilfloser Menschen, die mit dem Einfachso nicht klarkommen.
Es gibt kein „einfach so“. Sondern genau dieses, ein „einfach so“ zu glauben (glauben zu wollen oder zu müssen), zeigt den furchtsamen Menschen, einen, der vor den Bedingtheiten Angst hat – zu recht, übrigens, aber indem er den Kopf in den Sand steckt, b l e i b t er ihnen ausgesetzt. Oder sie.
(Ich bin dumme Menschen manchmal wirklich leid.)