Haltungen. Untriest 42. Sonntag, der 8. März 2015. Mit Nikolitschs Irrer von Giraudoux.


Wo das Ressentiment herrscht, gilt, wie wir
von Nietzsche lernen können, die Regel: Je
schwächer du bist, desto besser bist du. Res-
sentimentkulturen erlauben es darum nieman-
dem, Zeichen von Eleganz oder Größe zu set-
zen; statt dessen veranstalten sie Wettbewerbe
in anmaßender Bescheidenheit.

Pfaller, >>>> Das schmutzige Heilige, S. 145


Selbstverständlich können wir, mein Herz, hinzufügen Je schwächer du dich g i b s t. Denn es geht auch hier um den Vorschein, letztlich eben doch – etwas, das sich Pfaller entgegnen ließe, der mich desungeachtet eigene Positionen vorsichtig überdenken läßt, besonders jene, in denen ich zu Sublimationsprozessen stets auf Abstand gegangen bin. Begreift man sie aber, wie Pfaller tut, als gesellschaftliche Akte, nämlich als F o r m e n, und eben nicht, wie ich stets tat, als eskapistische individuelle, bekommen sie ein völlig anderes Gesicht. Ich werde deshalb beginnen, sie je nach Perspektive anders zu fassen, d.h. ihre jeweilige Intention ins Auge zu nehmen. Insgesamt wird mir bei meiner Lektüre klar, wieso ich eigentlich einen derart schlechen Ruf habe. Pfaller plädiert in einem bestimmten Maß für das Tabu, gegen das immer ich argumentiere; man muß nun sehen, daß seinerseits, Stolz und Haltung zu zeigen, um von Eleganz usw. zu schweigen, zu einem Tabu geworden ist. Insofern relativiert sich Pfallers Position, bzw. bedarf der Ergänzung: Von Zeit zu Zeit werden die progressiven Kräfte und Dynamiken ihrerseits zu regressiven und restaurativen und die restauativen zu progessiven. Alle sind sie Verdinglichungsprozessen ausgesetzt, die sich festfahren und dann das Gegenteil dessen bewirken, was sie wollten. Dies hat, beginne ich zu ahnen, mit der totalisierenden sozusagen-Mimikry der Macht zu tun, deutlicher gesagt: das Kapitals und der hinter ihm wirkenden Interessen. Das Genie, jedes, insoweit es so wenig kalkulierbar ist wie es sich korrumpieren läßt, gefährdet sie. Ähnliches oder sogar Gleiches gilt für die Ausstrahlung oder Aura.

Ein allerhellster Tag, Geliebte; es sollen sechzehn Grad heute werden – herrliche Voraussetzungen dafür, einmal wieder im Friedrichshain zu laufen. Gestern nahm ich den Sport wieder auf, Krafttraining; nach dem Laufband tap(e)te ich vorsorglich links die Achillessehne.
Nachher wird Broßmann anrufen, wenn sein Töchterchen und er aufgestanden sein werden; dann will ich kurz hinüber, um ihn die An- und Absagen des Kreuzfahrt-Hörstücks einsprechen zu lassen. Denn, das habe ich noch gar nicht erzählt, es ist nun endlich angenommen. Meine Redakteurin nannte die jetzige Fassung sogar „wunderschön“ und schloß in ihr Urteil die Stellen durchaus mit ein, für die ich auf der weiblichen Wiener Stimme beharrt hatte. Daß mein Honorar kommt, ist nun alleine noch eine Frage der, sagen wir, Administrationszeit. Das ließ mich ein Angebot der Löwin annehmen, mir kurzerhand 2000 Euro zu überweisen, damit ich die drückendsten Verbindlichkeiten erfüllen kann; daß ich es bisher nicht konnte, hat mich doch unruhiger gemacht, als ich zugeben wollte. Kommt das Geld vom Funk, gehen die 2000 Euro sofort wieder zurück. Auch Amélie hatte mir schon 500 vorgestreckt. Zu erzählen ist in diesem Zusammenhang ferner, daß mir eine Leserin „einfach so“ 200 Euro schickte, sorgsam in Alufolie eingestrichen; bisweilen kommt auch von einem anderen Leser immer mal ein Scheinchen. Beide nennen es – ganz sicher auch, um mir den Stolz zu wahren – eine Bezahlung für Die Dschungel; so muß ich mich nicht alimentiert fühlen, denn es ist mein Beruf, der dergleichen bewirkt. Auch hier wirkt also eine mir wichtige – gesellschafliche – Form. Es ist erstaunlich, Nahste, wie sich das eigene Empfinden auf sie beziehen läßt.

Im Theater gewesen, Off-Bühne, Sophie Nikolitschs, die ich gut kenne, >>>> Bearbeitung von Giradoux‘ Irrer von Chaillot. Berliner, die Die Dschungel lesen, sollten hineingehen; im Theaterdiscounter findet heute abend die letzte Auffühung statt. Ein paar Regiemätzchen gibt es darin, etwas mehr Strenge, sagen wir: Straffung wäre wünschenswert gewesen, doch insgesamt ist diese Produktion ausgesprochen beachtlich; ein solches Stück an einer städtischen oder staatlichen Bühne hätte Stürme des Protestes ausgelöst, weil nämlich nicht nur libidinös besetzte Tabus unterlaufen werden, sondern dieses Unterlaufen wird selbst in eine höchst ambivalente Schwingung versetzt, – etwa wenn durchaus mit klaren, ja agitativen Worten zur Vernichtung derer aufgerufen wird, die ihre – mehr oder minder persönlichen – Kapitalinteressen über das Wohl der Gesellschaft stellen. Wie diese Vernichtung dann durchgeführt wird, verrate ich nicht. Es dreht einem aber den Magen um, und zwar den moralischen, beharrt zugleich mit deutlichem Recht auf eben diesem Recht. Das Allerverbotenste, nämlich Gewalt einzusetzen, wird hier erneut zur Option – und zwar aus der gültigen Erfahrung heraus, daß gewaltfreier Widerstand letztlich keiner ist und deshalb auch gar nichts bewirkt, außer daß sich die „Widerständigen“ gutfühlen, denn sie haben ja scheinbar etwas gemacht. Das unbedingte Gebot der Gewaltfreiheit ist innerlich quasi institutionalisiert, nämlich – als ein Gebot der Gegner. – Hier, in dieser Offenlegung, liegt die wahrscheinlich entschiedenste Stärke des Stücks, zu der nicht zuletzt gehört, daß jede vertretene (vorgeführte) Position hochgradig ambivalent ist. Der Gegner spricht nicht minder Wahrheiten und Irrtümer aus als der Freund, und wir selbst sind aufgefordert, eine Haltung einzunehmen, die nicht von einem allgemeinen Konsens geschützt, bzw. durch ihn abgefedert ist. Wenn Theater so etwas bewirkt, halte ich es für gut – egal, ob es nun schauspielerische Schwächen gibt oder nicht. Vielleicht wäre eine allzu glatte Perfektion sogar von Nachteil.


Also, wer kann, gehe hinein. Dir freilich, im fernen Triest, ist das nicht möglich, und zu einer italienischen Version dieses Stücks wird es vermutlich nicht kommen. Schade also ein weiteres Mal, daß Du nicht hier bist. Allerdings würdest Du Dich ebenso über den diskiminierenden „Einsatz“ eines berühmten Rilkegedichtes ärgern wie über die maue Abschätzigkeit gegenüber einem zu recht zeitlosen Schubertliedes; man geht hier selbst in die Falle, die anderswo aufgezeigt wird und tritt die Getretenen m i t, und die schon fielen, indem sie wider Willen eingesackt wurden. Doch zweidrei entschiedene Striche, die sich auch im Kopf vornehmen lassen, und wir sind dieses Ärgernis los.

Gut, warten auf Broßmann, die kleine Aufnahme, dann sie ins Hörstück einmontieren, alles ein letztes Mal abmischen, danach auf CD brennen und wegschicken. Zwischendurch laufen gehen. Sowie den Pfaller weiterlesen. So wird mein Tag aussehen Vielleicht bekomme ich heute auch den Ansatz für die Ilg-Kritik hin. Ich habe den Impuls, ein nächstes Gedicht zu schreiben, doch würde mich das vielleicht aus meiner aufbrechenden Frühjahrsstimmung wieder herausrutschen lassen. Das möchte ich heute nicht riskieren. Es war einfach zu schön, gestern nacht mit Amélie, die mich ins Theater begleitet hatte, am Alex zu stehen und, bis ihre Tram kam, ins Funkeln dieser Nacht zu schauen, den Kopf der jungen Frau an meiner Schulter, ich selbst wie ein Vater, der Schutz geben kann: ganz meines Selbsts bewußt.

Sei umarmt und grüß mir den Park, in dem nachher ganz sicher auch Du laufen wirst – wie ich gegen Mittag im Friedrichshain. Und auch die Löwin wird laufen – eine nur von Räumen getrennte ménage à trois der leichtathletischsten Freiheit.

*


(17.06 Uhr)


(Frühlings Laufgrund)
Damit, Herz, war nicht zu rechnen, daß ich gleich, nach so langer Zeit des Aussetzens, tatsächlich 13 1/2 Kilometer laufen würde. Aber ich tat‘s gar nicht mit Absicht, sondern hatte nur die Länge einer dortigen, wenn man alle Schlenker mitnimmt, Runde vergessen, wollte eigentlich nur zehn Runden laufen, eine jede derer ich für etwas mehr als achthundert Meter hielt. Das GPS meines >>>> SmartRunners hat etwas anderes gemessen. Ich bin allerdings nicht wirklich schnell gelaufen, im Schnitt 9,5 km/h, dafür eine Stunde und zwanzig Minuten. Erst in den letzten beiden Runden motzten, aber nur ein wenig, die Achillessehne und ein Knie.
Als ich wieder hierwar, merkte ich‘s freilich am Kreislauf, aß eine Schüssel Fruchtsalat mit Haferflocken und Joghurt und – schlief fast anderthalb Stunden. So komme ich jetzt erst dazu, die heute vormittag aufgenommenen An- und Absagen zu schneiden und in das Hörstück zu montieren, das insofern nicht schon heute, sondern erst morgen auf den Postweg gebracht werden kann. Daß meine ezwungene Laufaskese nun aber vorbei ist, Göttinseidank, wiegt dies auf.
Der Park war bereits voller Griller, an vielen Plätzen stieg der Rauch von Holzkohle auf. Bei Euch im Farneto wohl auch?

Also, Schneidearbeit. Ich werde auch den einen und/oder anderen Huster rausschneiden müssen, ebenso wie Mundgeräusche hier und dort. Nach Broßmanns radikalem Versuch, einen Kloß aus dem Hals zu bekommen, kam ich um die Bemerkung nicht umhin, eigentlich ließe sich auch daraus ein wenn auch nicht unbedingt vornehmes, so doch sehr freches Hörstück machen.

Dein
Alban

2 thoughts on “Haltungen. Untriest 42. Sonntag, der 8. März 2015. Mit Nikolitschs Irrer von Giraudoux.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .