Die Nummer 69 ist, war es jedenfalls am Morgen, ein musikalisches Untriest. Am Sonntag nämlich, dem 19. April 2015.


Arbeitswohnung, 12.22 Uhr
Stenhammer, Erstes Klavierkonzert


Seit acht, Liebste,

sitze ich daran, eine Musikdatei, nämlich des ersten Klavierkonzertes Wilhelm Stenhammars, ein wenig zu verschönern, Knackser wegzunehmen, die Stereofonie zu erweitern usw. Meinem File diente wohl eine alte Vinylplatte als Vorlage; es gibt noch eine weitere Aufnahme des Stücks, die aufnahmetechnisch besser, sogar brillant ist, aber als ich gestern nacht so verglich, kam mir Dutoits Einspielung, mit Irene Mannheimer am Klavier, sehr viel poetischer vor. Vielleicht liegt es daran, daß hier eine Frau spielt. Gerade die letzten Takte des Sostenuto-Abschnitts, den ich irrtümlich als einen dritten Satz verstand, sind unfaßbar schön. Tatsächlich sind es insgesamt nur zwei Sätze, doch der erste ist dreiteilig, und diese Teile sind auch deutlich voneinander abgesetzt. Doch anders als in beiden Einspielungen weist der mir vorliegende Klavierauszug vier Sätze aus; ihm zufolge hätte mein Höreindruck recht. Dummerweise habe ich keine Einspielung der originalen Fassung gefunden, sondern beide, Rozhdestwenski wie Dutoit, verwenden die spätere Orchestrierung Kurt Atterbergs, die bis Ende der 80er als verloren galt, dann aber in einer Bibiliothek als Kopie wiedergefunden wurde.

Jedenfalls war ich, mein Herz, gestern abend ganz von den Socken, als ich das – so nennt Stenhammar es selbst – Andante hörte, ließ auch meinen Sohn, der fürs Cello hergekommen war, einmal mithören – selbst er verzückte sich. So war mir da schon klar, daß unbedingt auch Du dieses Stück hören müssest; nur mochte ich es Dir nicht mit all den Kratzern in die Dropbox legen; außerdem habe ich Dir die einteilige Datei nach den Abschnitten zurechtgetrennt. Jetzt laden diese Tonfiles schon zu Dir hoch. Ich hoffe, nein weiß, daß Dich der, okay, „dritte“ Abschnitt genauso so verträumen wird, wie er‘s mit mir angestellt hat. Unfaßbar übrigens, daß Stenhammar erst zweiundzwanzig war, als er das Konzert schrieb; es ist tatsächlich sein Opus 1.
Ansonsten war ich mal wieder mit einem Brotteig beschäftigt, eines sogenannten Berliner Landbrots, nachdem die Baguettes gestern schon fast weggegangen sind. Ist eigentlich das kleine Krustenbrot angekommen, das ich für Dich auf die Post gab? Auch dazu hast Du geschwiegen. Ich stellte mir aber die Zähne vor, wie sie in mich bissen. Vielleicht habe ich unterm leisen Krachen der Kruste sogar ein schnurrendes Aua von mir gegeben. Das mag so angehen, wie daß Du es vernahmst – aus einem Luftzug vielleicht, der durch Dein Fenster kam oder eher noch aus einer der Stelen, die unversehens aufseufzt, Du weißt schon, im Rimembranza unterhalb der Burg – wie wenn sie, die Stele, noch Leben hätte. Dazu paßt der Name des Parkes wohl gut; wir können ja Bedeutungen umbesetzen. Oder aber, es geschah, als Du wieder im Farneto joggtest, dort, wo es die lange, doch sanfte Steintreppe den lockeren Wald hinaufgeht, die mich, als ich bei Dir war, so an jene erinnerte, die ich Dir später hier in Berlin gezeigt habe, in dem nahen, doch seltsam unbelebten Anton-Saefkow-Park. Aber natürlich hattest Du recht, daß sie sehr viel kürzer ist. Immerhin stimmen die Verhältnisse, denn genauso ist der Park kleiner, erheblich kleiner als Dein Farneto. Wie gerne, jetzt, da es tagsüber schon warm wird und hell ist, spazierte ich wieder mit Dir hindurch, einfach nur Hand in der Hand, unsere Finger gleich den Paaren von Reißverschlußkrampen miteinander verschränkt. Anders konnten wir nicht gehen. Wie Jugendliche gingen wir, über die‘s gekommen ist –

Ich lege mich jetzt schlafen.
A.

3 thoughts on “Die Nummer 69 ist, war es jedenfalls am Morgen, ein musikalisches Untriest. Am Sonntag nämlich, dem 19. April 2015.

  1. Eigen/art.
    Eigenartiges Gefühl, wenn ein vielleicht deshalb höchst eigener Satz, weil er derart allgemein ist, von jemand anderem, anderer >>>> aufgenommen, fortgeführt und zu einem Etwas umgeformt, das ebenfalls höchst eigen, in diesem Eigenen jedoch vollkommen verschieden vom „eigenen“ höchst Eigenen (Höchsteigenen) ist – und dennoch genauso allgemein.

    (Ich sah es eben, mein Herz, sowie ich mich an den Schreibtisch setzte.
    A.,
    am Morgen >>>> danach.)

  2. Stenhammar Danke für den Tip. Ein wunderbares Klavierkonzert. Warum nur bin ich dem Komponisten nie begegnet? Eine echte Bildungslücke. Ich fürchtete schon, es sei dissonant. Sie mögen ja auch Dissonantes. Ist es aber gar nicht. Und ich wundere mich, dass diese spätromantische Komposition, Rachmaninow ähnlich, Bortkiewicz ähnlich, Elgar ähnlich, Sie begeistert. Ja, großartig, dieser langsame Satz.

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