[Sur le balcon d’Amélie, 9.30 Uhr]
Im Grunde ist das, was am modernen Roman so ‚revolutionär‘ anmutet,
die künstlerische Simultanität zeitlich oft weit auseinanderliegender Er-
eignisse, das kühne Umspringen mit Schauplätzen und kausalen Abläu-
fen, etwas sehr Altes, das man über der Herrschaft des konventionellen,
streng chronologischen Gesellschaftsromans, wie ihn das 19. Jahrhun-
dert entwickelte, nur schon wieder vergessen hatte.
Science Fiction wird Dichtung oder Dichtung Science Fiction werden
müssen, einen anderen Weg gibt es nicht.
Wie müssen die Drachen domestizieren; das ist gefährlicher, als sie zu
töten, und wir vermögen es nur durch eine Umwertung der moralischen
Kategorien. (…) Wir sind das erste Geschlecht im Laufe der Mensch-
heitsgeschichte, dem als Patengeschenk die Möglichkeit totaler Vernich-
tung in die Wiege gelegt wurde. Wir müssen uns an seine Anwesenheit
gewöhnen. Und dieser Gewöhnungsprozeß erfordert eine Umschmelzung
unserer moralischen Phantasie. (…): der Weg des Helden ist heute nicht
die Treue, sondern der Weg des Verrats um einer höheren Treue willen.
Diesem Weg müssen die Dichter voranleuchten.
(Heinrich Schimbeck, Die Formel und die Sinnlichkeit, 1964)
So lese ich ihn wieder, nach vielen vielen Jahren, und bin erstaunt, w i e sehr er meine Arbeit beeinflußt hat. Daß er es getan hatte, wußte ich, aber nicht in solch einem Ausmaß, daß ich jetzt sagen muß : ohne seine vor allem poetologischen Schriften, die ich las, während ich am >>>> Wolpertinger arbeitete, also in den Achtziger- bis frühen Neunzigerjahren, ohne diese seine Überlegungen und, ja, Forderungen geradezu wäre es kaum zur >>>> Anderswelt–>>>>Trilogie gekommen, jedenfalls nicht so, wie sie jetzt vorliegt, und wenn Schirmbeck vom Dichter – so er relevant bleiben und nicht zu Unterhaltungsware absinken will – verlangt, die «Wissenschaft weniger als Stoff denn als strukturellen Formalismus, als Mittel zur Weltbewältigung, in das Asenal seiner kreativen Möglichkeiten» einzubeziehen, dann entspricht das ziemlich genau dem, was im Wolpertinger Professor Murnau von den Geistern verlangt: sich nämlich in sie eindringend die Maschinen zu erobern, andernfalls sie untergehe, die gesamte Geisterwelt. Es kann durchaus sein, daß schon dies eine meiner Übersetzungen der schirmbeckschen Position war, also noch vor Anderswelt. Daß Figuren unterdessen – schon 1964 gedacht! lange vor dem Internet und allem anderen, was wir heute unter Neuen Medien verstehen – weniger Personen als Informationen sind, Träger von Informationen, hat sich aber erst in der Trilogie umgesetzt und führte dennoch, immer noch, dreißig Jahre nach Schirmbecks quasi-Manifesten, zu Problemen der Rezeption. Um so schlimmer noch heute! Man kann geradezu von einer Regression des Leseverhaltens und der Leseverständnisse sprechen. Der sogenannte Realismus, sein Primat, das schon Schirmbeck aus der Wahrnehmung drückte, hat unterdessen vollbracht, was er befürchtete: daß die Dichtung zum Konsumartikel wird, jedenfalls diejenige, die es ins allgemeine Bewußtsein schafft, deren Wahrnehmung sich also nicht nur auf kleinste Kreise beschränkt. Aber selbst da ist sie aufs Wohlwollen eines Betriebs angewiesen, der sich l‘art pour l‘art in scène littéraire pour la scène littéraire übersetzt hat – von gesellschaftlicher Relevanz keine Rede, oder doch eine, aber des Scheins bloß und des wider besseren Wissens Behauptens. « Die landläufige Vorstellung von der Unvereinbarkeit von dichterischer und wissenschaftlicher Weltbewältigung ist ein Irrtum, der durch die Spezialisierung der Wissenschaft einerseits und der Dichter andererseits auf die jeweils besonderen Arbeitsfelder der Primär- bzw. der Sekundärwelt hervorgerufen wurde. Die Wissenschaftler erwarten von den Dichtern im wesentlichen eine makrophysikalisch-literarische Beschreibung von Wirklichkeitsstrukturen; die Dichter wiederum glauben, daß der Wissenschaftler wie ein Zauberer über eine Geheimsprache gebietet, die ihnen verschlossen ist. Die Praxis ist über diese Unterscheidung hinweggegangen. » (Schirmbeck, 1964).
Ich sitze auf Amélies Balkon, um mich die Katzen und der Hund. Letzter Tag der Betreuung, heute abend bereits mit Amélie essen, bevor ich morgen sehr früh nach Frankfurtmain fahren werde, um dort nachmittags >>>> den Rosenkavalier zu sehen. – Angenehm, draußen zu arbeiten, was geht, weil noch die Sonne nicht auf den Screen prallt. Sowie sie’s tun wird, werde ich lesen, weiterlesen. Aber jetzt erst einmal meine >>>> Witzel-Rezension korrigieren, dann wegschicken. Und nachher noch, um fünf nach zwölf, wird von WDR 3 >>>> das Kreuzfahrthörstück ausgestrahlt, das einen Teil der Entstehung des >>>> Traumschiffs erzählt, nämlich die Reise für meine, sozusagen, Recherche.