jetzt >>>> d o r t.
Es handelt sich um anderthalb Seiten Romantext aus einem Buch, das in diesem Kapitel die kommende Verelendung großer Menschenmassen vorhererzählt; das immer wieder „apokalyptisch“ genannte Kapitel, quasi eine Allegorie. Ich werde den gestern geschnittenen Clip hier über meine Dropbox zugänglich machen, kann allerdings nicht einschätzen, wie lange es dauern wird, ihn hochzuladen; der Upload ist bereits im Gang. Bitte schauen Sie von Zeit zu Zeit nach.
Zur „Sache“ selbst kann es doch wohl nicht angehen, daß eine ausgewiesen literarischer und überdies mit einem Literaturpreis ausgezeichneter Text unter Zensurmaßnahmen fällt, die allein durch Abweichung von der „politisch korrekten“ Ausdrucksform ausgelöst werden. Die nun geblockte Szene wurde im Clip nicht anders bebildert als durch Abbildung der beiden Buchseiten, sowie, am Ende, des Buchumschlags, und zwar sehr bewußt nur dieses, weil ich das Elend nicht als Illustration mißbrauchen wollte. Aber Mehrdeutigkeiten (etwa durch intentional fehlerhaftes Lesen von Idioten) müssen möglich bleiben, wenn wir die Künste nicht insgesamt aufgeben wollen – Mehrdeutigkeiten gerade auch in der Art, in der die Perspektive gewählt wird, also besonders, für den Roman, auch Rollenprosa, andernfalls jede künstlerische Äußerung zur Harmlosigkeit verdammt würde, zum unverbindlichen Entertainment.
Den eingelesenen Text stelle ich >>>> hierunter in einen Kommentar.
ANH, Amelia/Tr.
29. August 2015
P.S.: Ich verwende hier den Zensurbegriff nicht korrekt; korrekt aber insofern dann doch, als zu befürchten ist, es habe sich unterdessen, so offenbar wie schleichend, auch die staatliche Eingriffsvollmacht privatisiert.
P.P.S.: Ich werde heute den Tag 30 persönlich als Stellungnahme auf den Vorgang einsprechen. Mal sehen, ob man auch das zensiert. Den Tag 29 >>>> der Serie werde ich leer l a s s e n.
jetzt >>>> d o r t.
„Fliehende Europas“. Der als Sprachclip zensierte Auszug aus „Thetis.Anderswelt“ (1998).
Einstweilen hielt der Rheingraben noch. Man wußte nicht, werde er die Übermengen Wassers auf die Dauer tragen. Bisweilen war zu hören, wie er stöhnte und knirschte unter seiner Last. Bisweilen schon schleuderten die Strudel Grundgestein auf die Wellen. Der Strom schnitt von Nord nach Süd im westlichen Viertel quer durch Europa. Linksrheinisch bauten die Reichen: Von Xanten bis Reims standen die Villen. Rechtsrheinisch bis Nürnberg wohnte die Bourgeoisie, im Osten hausten aufeinandergedrängt die Tagelöhner, trieb sich Gesocks herum ohne Krankenversorgung, mit faulen Zähnen und einem Aussatz, der seit dem Dritten Kreuzzug vergessen war. In den östlichen Süden strömte, den driftenden Toten hinterher und den Schnellen der Theiß voran, die das steigende Meer ins Land hieb, flüchtendes Pack mit leerem Magen und unter der Haut Zigeunerliedern. Die ließ die Nerëide ihnen, den heißen Schmerz um ihren vor Zeiten gefallenen, von Frauenzähnen gerissenen Sohn in ihrem neuen, in dem uralten Meer gekühlt. In der Wildnis, die auf allem zusammenwuchs, was wenigstens zwölfhundert Meter über dem tradierten Normalnull lag, besannen sich die, die nicht zur Stadt exilierten, auf alte Gebräuche. Hier lernten manche, das Feuer zu fangen und Fische auf Spießen, mit denen man sie erlegte, knusprig zu rösten. Von solchen Wilden trug bisweilen jemand Nachricht her, der die Mauer, noch eh sie sich schloß, heimlich durchschlüpfte. Das war nicht leicht. Man hatte Demarkationslinien vermint. In ihren Unterständen und aus den in den Boden getriebenen Bunkern lauerten Präzisionsschützen auf bewegliche Ziele. Einen Kilometer weiter hinaus brüllten unablässig Mörser und mahlten mit ihren Kanonenkugeln die gröbste Packmasse flach. Es stank über Berge und Höhen nach zerquetschtem Fleisch, nach verwesenden Därmen. Das alles wusch endlich das Meer. Drinnen indessen überzog, Wand dünn an Wand, das Elend die eingetrockneten Auen Ruinen. Tausende von Quadratkilometern menschlicher Schutt. Der starb, wie er lebte: qualvoll hungrig gierig. Die meisten krepierten an chemisch verjauchtem Wasser und an den organischen Güllen. Das war der Osten. Wie Wespennester klebten die letzten hunderttausend Verschläge innen an der vereiterten, wie pockigen Mauer. Die Toten warf man aus den Löchern. Von den Kadavern nahm, wer zu viele Kinder hatte. Nahrungsmittel waren streng rationiert; sie wurden nach Plänen hergestellt, die die wirkliche Bevölkerungszahl ignorierten. Ein jeder träumte vom Westen. Die Angst der Ostler war größer als die derer, die noch draußen waren und hereinflüchten wollten. Das wußte keiner, und die es ahnten, schwiegen. Sie bauten, anstelle zu sprechen, ein jeder an seiner inneren Arche Noah herum.
Im Osten lebten vierhundert Millionen, im Zentrum sechzig Millionen Menschen, in der Weststadt vierhundertfünfzig. Die brauchten keine drei Generationen, schon war Europa aufgeteilt: außer Osten Buenos Aires Westen die Skandinavischen Inseln, Schottland wurde Skyi; die Kessel der Sierra Nevada, die Sagraischen Felder, das Pyrenäische Archipel, die Montenegrischen Klippen, die Karpatenwelt der hunderttausend Inseln; das rohe wilde Alpenland noch; der Rest Europas war Meer und Inselchen an Inselchen, ein maritimer Asteroidengürtel.
(…)
Alban Nikolai Herbst, >>>> Thetis.Anderswelt (1998), S. 40/41
Youtubes Block … Unerfindlich, lieber ANH, ist mir gerade ob des zuvor im Kommentar geposteten Testes, inwiefern das gegen Youtubes „Richtlinien“ verstößt. Was ist da los?! Müssen wir Blogger aufmerken, dass da womöglich eine MASCHINE treudoof, aber jenen geheimen Zensoren wahrscheinlich zu gut dienend, ob vermeintlicher KEYWORDS zensiert?
@Oegyr. Ja, das glaube ich. Die Maschine hat „Pack“ gelesen, „Kroppzeug“ usw., und weil sie nicht semantisch interpretieren kann, hält sie den Text für rassistisch. Offenbar überprüft auch niemand mehr das Ergebnis, möglicherweise der Datenfülle wegen.
Künstlerisch bedeutet das, daß in sozialen Netzwerken nur noch eineindeutige Aussagen möglich sind, die dem vorgeblich Korrekten entsprechen – womit wir nicht zuletzt die großen Satiriker wie Swift und Sterne vergessen sollen können. In dem inkriminierten Text werden die nichtkorrekten Ausdrücke aber gerade verwendet, um den Schmerz ganz besonders zu übertragen. Auf wessen Seite mein Text politisch steht, wird dabei schon allein durch die Gegenüberstellung der 400 Millionen Elenden des Ostens gegenüber den 450 Reichen des Westens deutlich – aber das muß eben interpretiert werden, bzw. wird es gespürt – und das eben kann eine Maschine (noch) nicht.
Vorschlag Ich würde die Bezeichnung „mehrdeutig“ mit Gallvano Della Volpes „vieldeutig polysem“ präzisieren. (critica del gusto, 1960)
@tom: Einverstanden. Es geht mir aber nicht um den theoretischen Begriff, sondern darum, daß sich auf ersten Blick „unstatthafte“ Wendungen als der „Statthaftigkeit“, nämlich den Dingen und Geschehen, ausgesprochen dienlich erweisen können. In Facebook schrieb ich eben an Utjatin: „Ich möchte eigens nochmal an Swift erinnern und seine Art des Protestes gegen den Kindermißbrauch durch die sie zu Tode schindende Kinderarbeit: Er schlug seinerzeit vor, Kinder doch besser als Nahrungsmittel zu verwenden; dann könne man wenigstens die elenden Eltern speisen. Kurz, er machte aus den Produktionsmitteln (den so behandelten Kindern also) Schlachtvieh – was sehr viel deutlicher kritisierte, was geschah, als hätte er „nur“ geklagt.
@Herbst.-
Anders ist der von Ihnen eingestellte Auszug aus „Thetis(…)“ intelligenterweise auch gar nicht zu lesen.
zensors zeiten vielleicht zu flink gedichtet, nicht so satirisch wie bei swift, aber immerhin sonett gegen diesen unglaublichen fall von automaten-zensur (die manchen menschen durchaus zu pass kommen wird):
http://www.schwungkunst.de/wordpress/?p=5385
Tag 30: Stellungnahme zur Löschung
>>>> dort.
Das inkriminierte Video, Tag 29.
>>>> D o r t.
wie sich die fantastik … … Ihres (inkriminierten) textes aus „Thetis.Anderswelt“ gerade in realität verwandelt, eröffnet der gestrige blick nach budapest ebenso wie nach london, also nach westen, wo die herrschenden reichen ganz unverblümt zugeben, ja, schreien, wenn nicht sogar blöken, dass sie gewiss keinen der anströmenden aufnehmen werden.
Herr Oegry,
wir nehmen aber schon welche und das ist gut so
wissen Sie seit wann es Flüchtlinge gibt? Das soll nichts gege