Ein bißchen Kitsch muß sein. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 15. Januar 2016. Kleine Bemerkungen zu Oliver Jungens Deutungen, und zu Wolfgangs Czieslas.


[Arbeitsjournal, 7.22 Uhr]

Ich habe es nicht geglaubt, hätte es nicht geglaubt. Indirekt hab ich‘s wahrscheinlich >>>> Hubert Winkels zu danken, der in der ZEIT zum Jahreswechsel voranlief, nachdem Insa Wilke den gewissermaßen Startschuß in die SZ gefeuert hatte, im November; ihr Text >>>> steht mittlerweile online, Hubert Winkels‘ noch nicht.

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„traumschiff >>>> heute groß in FAZ (oliver jungen): „ein besonders gewitztes…“ – dies kam als Email gleich gestern früh; damit war der Tag imgrunde ausgerichtet, auch wenn ich in Der Dschungel nicht reagieren konnte, weil ich quasi allezeit unterwegs war, Seminar in der Uni e r s t, zu den >>>> Fenstern von Sainte Chapelle, für einen „Begleit“termin d a n n: ein, wenn Sie so wollen, Vorstellungsgespräch, das ziemlich schnell in eine Art Coaching umkippte, das meinerseits ich meiner, eventuell, künftigen Chefin angedeihen ließ. Menschen, die nie mit Geld in Berührung kamen, also einem, das sich so nennen läßt, haben eine auffällige Furcht, zumindest Scheu vor ihm und untergestalten so ihre Preise. „Vielleicht sollten Sie so eine Agentur gründen“, sagte Amélie am Abend, die hergekommen war, um mit mir auf die FAZ-Kritik anzustoßen. „Um Göttinswillen!“: so meine Reaktion. „Dann hätte ich die gesamte Buchhaltung am Hals, außerdem die Logistik. So etwas mag für meine wirkliche Arbeit angehen, auf keinen Fall aber für etwas, mit dem ich mir ein Einkommen sichern will, um unabhängig zu bleiben“ – womit ich „unkorrumpierbar“ meine, nämlich gerade auch in meiner Ästehtik.
Auch >>>> Brittnacher (längst wäre über ihn ein wikipediaEintrag fällig), den ich nach Jahren wiedertraf, er lehrt unterdessen an der FU, hatte schon gelesen; er, schmunzelnd: „Na, nun bist du wieder in der FAZ.“ – Als „Gegenstand“ nach über elf Jahren.
Hübsch war auch, daß er später beim Kaffee erzählte, Insa Wilke habe bei ihm studiert; er sei sogar ihr Gutachter gewesen. Auch so schließen sich manche Kreise. –

Ein Bann ist aufgehoben. Das dachte ich schon morgens, noch bevor ich in die Jeans gefahren war, um zum Kiosk zu radeln. – Eine ulkige Mischung aus Erregtheit und Freude und aber auch, zugleich, Bedrückung, wenn ich an die ungenannt gebliebenen Bücher dachte, an >>>> die Elegien vor allem, auch an eben Die Fenster von Sainte Chapelle, einem meiner sowohl ästhetisch wie moralphilosophisch wichtigsten Bücher, das jedoch objektiv schlechtest verkaufte; man kann fast sagen, es liegt nur bei Freunden herum. Besprochen wurde es >>>> alleine >>>> im Netz.
Ich bin geneigt, nicht von einer Leidenszeit zu sprechen, nein, das wär zu pathetisch; aber ein Jahrzehnt des Aushaltens war es, des Erduldenmüssens und Erduldens, nämlich latent-ständiger Kränkung. Die mich durchaus geschwächt hat; mein poetischer Glaube und der so-ans-Leben sind darüber anfällig geworden, egal, wie ich hier immer mal wieder auftrumpfe.
Deshalb hielt sich meine Freude in habachtsamen Grenzen; der großen Erleichterung ist nach wie vor Skepsis beigemischt – was an meinen poetischen Überzeugungen allerdings nichts ändert, nach wie vor nicht, selbstverständlich.

kaum Kitsch attestiert Jungen dem Traumschiff; klar, daß mir das „kaum“ leicht aufstieß, daß ich aber auch nachdachte drüber. Zumal kam von meiner Lektorin per Email der Satz: „der Kitsch ist manchmal ganz heilsam, finde ich, in der alltäglichen (manchmal) Ernüchterung“, davor ich schon gedacht hatte, siehe den heutigen Titel, ein bißchen Kitsch müsse sein. Und habe das in den anderen Büchern immer auch beachtet; schon Katharina Döbler schrieb seinerzeit, zum >>>> New-York-Buch, ich leistete mir „die Vision eines aller sozialen Gegensätze enthobenen Augenblicks“. Dergleichen habe ich immer wieder getan; wenn wir über Menschen erzählen, dürfen Momente des Ergriffenseins und emotionalen Ergreifens nicht ausgespart, darf schon gar nicht in „intellektuelle“ Distanz zu ihnen gegangen, sondern sie müssen erfaßt und miterzählt werden, und das eben nicht, indem sich Autorin und Autor rational davon absetzen. Es ist die Stärke des Pops, ihnen freien Raum zu lassen; ist eine Dichtung hier abstinent, verliert sie den Bezug auch zur „Wahrheit“-insgesamt. Ciane, die das Traumschiff zur Zeit liest, erzählt immer wieder von diesen Erschütterungsmomenten. Indes Amélie gestern noch weiterging: Oliver Jungen, wie schon tagsvor Wolfgang Cziesla, dessen schöne Rezension nun auch >>>> auf dem „Hotlistblog“ steht, interpretieren nämlich, und zwar etwas in den Text hinein, das ich selbst gar nicht im Sinn hatte. Er, also jener, wähnt, es spiele die Nachnamensgebung „Lanmeister“ aufs WLan an, und beide, Cziesla wie Jungen, lesen die Vornamensgebung „Gregor“ als einen Bezug auf Papst Gregor I. († 604), zu dessen Zeit sich in der schola cantorum die Anfänge des so genannten Gregorianischen Gesangs entwickelt haben; später wird er ihm, siehe >>>> wikipedia, sogar persönlich zugeschrieben, als ihm vom Heiligen-Geist-selbst eingegebene Musik. – Nein, ich hatte dergleichen nie intendiert, sondern der alte, totkranke Herr, der >>>> auf meiner ersten Kreuzfahrt dabeiwar, in deren Verlauf mir die Idee zu „meinem“ Roman kam, und der wenige Wochen nach ihr starb, trug den Vornamen Gregor; nach i h m habe ich Lanmeister benamst. Doch das spielt keine Rolle, denn für den Roman, für Traumschiff, ist die andere Lesart ebenso gültig – sogar weitergehend als die „Realität“. Dazu nun Amélie: „Wenn ein Buch so etwas schafft und Wahrheiten über die Absichten seines Urhebers, seiner Urheberin h i n a u s erzeugt, dann ist Literatur groß.“ Vielleicht sogar, möchte ich hinzufügen, nur dann.
Denn so kann man ja Lanmeisters imaginäre Aufzeichnungen wirklich sehen, als Lebens- und Abschiedschoräle; ich selbst sprach immer von einem Gesang, indes ohne einen konkreten, gar historischen Boden im Sinn zu haben; als ich schrieb, war mir der Ton Walt Whitmans näher als irgend eine Frühromanik, auch wenn „Romanik“ und „Roman“ sehr hübsch mitsammenklingen. An einer Auflösung des individuell-Gebundenen wiederum arbeite ich seit dem >>>> Dolfingerroman, der immerhin mein allererster war, auch wenn er erst viel später erschien. Damals nannte ich’s chorisches Schreiben. Seine erste Fassung, noch lange Zeit „Die Erschießung des Ministers“ betitelt, schrieb ich mit 23; von den Problemen, die das mit sich brachte, habe ich schon öfter erzählt, „Deutscher Herbst“ usw.

Vielleicht wird sich nun doch, wie ich es erhofft hatte, vom Traumschiff zurück der Blick auch auf die Andersweltbücher öffnen und ihre vorgebliche oder tatsächliche Inkommensurabilität auflösen lassen, im Sinn des vorgestern von mir >>>> als Motto zitierten Satzes Dirk Helbings. Und vielleicht wird „man“ nun auch sehen, was >>>> die Elegien waren und sind und welche Rolle Die Fenster von Sainte Chapelle im literarischen Kosmos der Moderne spielen, bzw. spielen könnten und, meine ich, sollten. Insgesamt freilich ist es zu viel Textmenge, um einen schnellen Umbruch erwarten zu dürfen, denn auch Tausende andere Autorinnen und Autoren liefern dauernd noch nächste hinzu. Vieles bleibt dabei auf der Strecke, vielleicht vorerst, vielleicht auch für immer; einiges davon sicher zu unrecht, und nicht nur eventuell „meines“.

Jedenfalls gestern setzte sich ein Zeichen, und die Löwin war hochzufrieden, weil mein, sagen wir, Defätismus eines Irrtums überführt ward – ob seines insgesamt, das werden wir sehen.

Guten Morgen: Leserin.

Weiter ans >>>> Alfred-Ehrhard-Gedicht.

9 thoughts on “Ein bißchen Kitsch muß sein. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 15. Januar 2016. Kleine Bemerkungen zu Oliver Jungens Deutungen, und zu Wolfgangs Czieslas.

  1. Intendiertes und Assoziiertes … … Beinahe noch spannender als die Vermutung des namensgebenden Papstes, scheint mir die wohl ebensowenig beabsichtigte Assoziation mit Kafkas Gregor Samsa. Da spinnt Poesie weitere Poesie in der Deutung und Phantasie des Lesers, in diesem Falle Rezensenten. Wenn so etwas treffend geschieht und nicht dekonstruiert, nenn ich es reich.

  2. Ist Ihr Sohn regelmäßiger Leser der „Frankfurter Allgemeinen“? Denn um Ihren Sohn geht es ja im Prinzip, nicht um uns Senioren, die wir unsere Prinzipien haben, denen gewiss keiner mehr mit Büchern beikommen kann. Da wäre es natürlich hilfreich, wenn Ihr Sohn mit Feuereifer die Anderswelt seines Herrn Vaters studieren würde. Obendrein ein schöner Prüfstein, was die angebliche Bedeutung Ihrer Anderswelt für kommende Generationen betrifft. Dagegen ist die „Frankfurter Allgemeine“ wohl eher ein Bärendienst. Keine so begeisternde Lebensführung mehr, wie die von Friedrich Nietzsche, der seine Werke im Eigenverlag herausgeben musste, und dessen absolute Verlassenheit nicht nur Stefan Zweig tief beeindruckte: „Einige Freunde aus früheren Zeiten besuchen den ‚Einsiedler von Sils Maria‘ in den kommenden Jahren und reisen zum Teil verstört, tief befremdet wieder ab. Dann breitet sich in ihm eine Stille aus, in die ihm niemand mehr folgen kann.“ Solch Lebensführung diskutiert man lange und über Generationen hinweg!
    Insofern irritiert es natürlich auch, dass Sie Ihren Sohn offenbar durch ein bürgerliches Studium führen wollen, und in großer Sorge sind um dessen Finanzierbarkeit. Da sind die Eltern und Großeltern von Benjamin Lebert vielleicht bessere Vorbilder gewesen: Gegen ein Sparbuch fürs Studium erscheint mir „Crazy“ als der befreiendere Start ins Leben…

    1. @Sēnior chSchlesinger. Nun ja, wenn Sie sich für einen solchen halten, einen Senior also, nicht etwa für einen Señor oder Signore… – Genau hier scheint mir ein Teil Ihres Problemes zu stecken, abzulesen bereits an der Aussage „die wir unsere Prinzipien haben, denen gewiss keiner mehr mit Büchern beikommen kann“: So etwas ist mir völlig fremd; nicht nur mich bewegende Bücher, sondern auch und gerade andere Menschen können meinen Prinzipien durchaus beikommen.
      Und was Herrn Nietzsche anbelangt, Sie romantisieren; ich nannte es bereits einmal eine Selbst-Fetischisierung. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um >>>> Reaktionsbildungen. Und für einen Nietzsche, fürwahr, hinterlassen Sie ein wenig zu wenig, finden Sie nicht? Um aber den Mann-selbst zu zitieren: Es ist schwierig, größeren Menschen auf den Kopf zu spucken, zumal er, Nietzsche, Lob, das sollten Sie wissen, als eine abgefeimte Art der Vereinnahmung verstand: „Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit als im Tadel.“ – Die Philosophen vielleicht einmal lesen, bevor man sie, nun tjà, benutzt.

  3. Kleine Korrektur Lieber ANH,

    danke für Dein Feedback zu meinem Feedback zu „Traumschiff“. Ich fühle mich geehrt, in die Anderswelt-Dschungel einzugehen.
    Eine ganz kleine, aber mir nicht unwichtige Korrektur: Im Unterschied zu Oliver Jungen habe ich nicht an Papst Gregor I gedacht, sondern an Gregor XIII (1502-1585), dem wir unser heute weltweit akzeptiertes Zeitgitter, den Gregorianischen Kalender, verdanken – wozu die demenzbedingten Zeitgitterstörungen Deines Gregors in einem hübschen ironischen Kontrast stünden. Aber ich habe das ja als Frage formuliert, die Du in Deinem Blog jetzt beantwortet hast.
    Dir wünsche ich eine erträgliche Lesetour.

    Beste Grüße
    Wolfgang

  4. Ich war ja sicher, Sie würden auf die Stichelei, Ihre Vorliebe fürs Symbolisch-Mythische habe Sie schon in unlesbare Gefilde geführt, anspringen. Aber ohne solche Durchblicker-Anwürfe und Attitude ist doch auch kein Feuilleton zu machen.

    1. @Phorkyas zum Stichligen. Na jà, das Stichlige sticht ja nicht m i c h, sondern löckt wider des anderen Stichel. Sollte nämlich solch eine Vorliebe ins Unlesbare führen, bedeutete es nur, daß nun nicht mir die Bildung fehlt. Also kann man so etwas getrost für s i c h stehen lassen. Meinen Sie nicht?

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